Commander Grayson Pierce kniete vor seinem zweijährigen Sohn und wartete darauf, dass Jack eine schicksalsschwere Entscheidung traf.
Im Moment hatte der Junge nur Augen für den Kakadu mit dem gelben Kamm, der auf dem Balkon umhertänzelte. Dahinter lagen die bewaldeten Hänge des Victoria Peak, die Hochhäuser von Hongkong und der Hafen.
Ein schwerer Seufzer war zu vernehmen.
»Komm schon, Jack, entscheide dich«, drängte Harriet den Jungen. Die Siebenjährige war mit ihrer Geduld anscheinend am Ende. In der Küche wartete eine Torte aus vier Etagen, die Snoopy darstellte.
»Hetz ihn nicht«, tadelte Penny ihre Schwester. Da sie ein Jahr älter war, fühlte sie sich verpflichtet, sich von der verantwortungsvollen Seite zu zeigen.
Die beiden Mädchen waren die Töchter von Grays besten Freunden und Kollegen im Sigma-Team. Monk Kokkalis und Kathryn Bryant waren in der Küche und bereiteten die kleine Party vor, die auf die Zeremonie folgen sollte. Gray hörte sie miteinander plaudern, hin und wieder unterbrochen von einem belustigten Schnauben Monks, das Ähnlichkeit hatte mit dem Balzruf eines Gänserichs.
Sie waren vergangene Woche gemeinsam von D.C. nach China geflogen, um zusammen mit Jacks Großmutter mütterlicherseits seinen zweiten Geburtstag zu feiern. Guan-yin umkreiste den auf dem Boden sitzenden Jack. Ihr Name bedeutete Göttin der Barmherzigkeit . Sie war der Drachenkopf der Triade Duan-zhi, deshalb war der Name wohl eher ironisch zu verstehen. Wären Gray und Seichan nicht mit Jack nach Hongkong gekommen, hätte sie sicherlich keine Barmherzigkeit walten lassen. Guan-yin war verärgert gewesen, dass sie Jacks ersten Geburtstag versäumt hatte.
Jetzt wollte die Großmutter des Jungen das Versäumte nachholen.
Die schlanke Frau trug ein Gewand, unter dessen Kapuze ihr langes schwarzes Haar hervorschaute, das an der linken Seite eine graue Strähne aufwies, an der gleichen Seite, wo sich eine dunkelrote Narbe von der Wange bis zur Stirn zog. In der Öffentlichkeit verbarg sie die Narbe – nicht aus Scham, sondern weil man sie daran hätte erkennen können. In ihrer Eigenschaft als Drachenkopf und Mafiaboss von Macau wurden ihr Verehrung, aber auch Feindschaft entgegengebracht. In ihrer Villa auf dem Peak jedoch brauchte sie sich nicht zu tarnen – das Grundstück wurde von den tüchtigsten Mitgliedern ihrer Triade geschützt. Und obwohl sie schon über sechzig war, konnte sie hervorragend mit den Messern und Dolchen umgehen, die unter ihrem Gewand verborgen waren.
Guan-yin legte einen weiteren Stapel mit Geld vollgestopfter roter Umschläge auf den Sofatisch. Sie gesellten sich zu einer Unmenge eingepackter Geschenke. Offenbar wollte es sich keiner entgehen lassen, ihrem Enkel seinen Respekt zu erweisen.
Der Stapel wurde bewacht von Guan-yins allgegenwärtigem Schatten Zhuang. Er war einen halben Kopf größer als Gray. Das schneeweiße Haar hatte er zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Gesicht war faltenlos, seine Bewegungen geschmeidig.
Als ein Umschlag aus dem Stapel herausrutschte, fing er ihn, ohne hinzusehen, auf und steckte ihn zurück. Er hatte sich einen chinesischen Dao auf den Rücken geschnallt, einen Säbel aus dem achtzehnten Jahrhundert. Dessen Vorgeschichte erwähnte er nie, doch Gray hatte bereits gesehen, wie er die Waffe in der Hand gewogen hatte, und dabei war ihm aufgefallen, dass die Klinge noch immer scharf war.
Guan-yin dankte Zhuang für seine Geistesgegenwart, indem sie mit einem Zeigefinger über seinen Oberarm strich. So wie Zhuang sie anschaute, war zu vermuten, dass er mehr war als nur ihr Leibwächter.
Gray fand ihre stille Zuneigung beneidenswert.
Er schaute nach links, wo Jacks Mutter kniete.
Seichan wartete scheinbar gelassen auf die Entscheidung ihres Sohnes. Sie war mit schwarzer Hose bekleidet, ihre ebenfalls schwarze Jacke war mit nur geringfügig helleren Blumen bestickt. Sie wirkte geduldig, doch Gray entging nicht, dass sie die smaragdgrünen Augen leicht zusammengekniffen und die Schultern angespannt hatte.
Sie war so straff gespannt wie eine Feder.
Jedoch nicht wegen Jacks Zukunft.
Gray spürte das Gewicht in der Brusttasche seines Sakkos.
Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Guan-yin neigte sich hinüber und küsste Seichan auf die Wange. »Chúc m ừ ng sinh nh ậ t, Con gái« , beglückwünschte sie ihre Tochter auf Vietnamesisch, ihrer Muttersprache, zum Geburtstag.
Seichan ergriff die Hand ihrer Mutter und wünschte ihr das Gleiche. »Chúc m ừ ng sinh nh ậ t, M ẹ .«
Guan-yin kniete geschmeidig an Jacks rechter Seite nieder, legte ihm eine Hand auf den Kopf und lenkte ihn vom Kakadu ab. »Chúc m ừ ng sinh nh ậ t, Jack.«
Seichan hatte Gray die vietnamesische Tradition der Geburtstagsfeier bereits erklärt. Das tatsächliche Geburtsdatum spielte dabei keine Rolle. Alle Geburtstage wurden am vietnamesischen Neujahrstag gefeiert, dem Tet Nguyen Ðan , der auf den ersten Neumond nach dem 20. Januar fiel. Dies war zudem der chinesische Neujahrstag, der gestern Nacht ausgelassen gefeiert worden war.
Genau genommen hatte Jack erst in zwei Tagen Geburtstag, doch Guan-yin wollte, dass er nach vietnamesischer, chinesischer und amerikanischer Tradition gefeiert wurde. Auf der Snoopy-Torte waren Kerzen zum Auspusten – zuvor aber musste die Zhua-Zhou-Zeremonie begangen werden.
Obwohl Jack seine Geburtstagstorte zwei Tage zu früh bekommen würde, fand die Feier eigentlich ein Jahr zu spät statt, denn bei den Chinesen wurde der erste Geburtstag im Monat der Geburt gefeiert. Die Zeit der Schwangerschaft betrachteten sie als erstes Lebensjahr des Kindes.
Guan-yin hatte darauf bestanden, für ihren Enkel eine Ausnahme zu machen. Zhua Zhou – die Geburtstagswahl – sollte heute stattfinden. Vor Jack waren mehrere symbolische Gegenstände auf dem Boden verteilt, die jeweils für eine bestimmte Zukunft standen. Ein Abakus aus Jade symbolisierte die Wirtschaft und das Finanzwesen. Ein Hühnerbein stand für den Beruf des Kochs. Ein kleines Mikrofon wies das Kind als zukünftigen Entertainer aus. Insgesamt gab es sechzehn verschiedene Gegenstände.
Alle warteten darauf, dass Jack seine Wahl traf.
Gray bemerkte, dass Seichan ein kleines Schwert dicht vor Jacks linkem Knie platziert hatte. Eine Erklärung erübrigte sich. Guan-yin, ganz die Großmutter, hatte ein Spielzeugstethoskop vor Jacks rechtes Knie gelegt. Offenbar wünschte sie sich wie alle Großeltern einen Arzt in der Familie.
Gray wollte sich auf diesen Unsinn nicht einlassen.
Das Schicksal des Jungen wird nicht hier entschieden.
Trotzdem spannte er sich an, als Jack sich aufrichtete und seine ersten Schritte in die Zukunft machte. Es herrschte erwartungsvolle Stille. Monk und Kat waren in der Küchentür aufgetaucht. Auch Zhuang war näher gekommen und schaute zu.
Jack tapste durch die ausgelegten Gegenstände wie durch ein Minenfeld. Schließlich ließ er sich auf die Knie nieder, dann auf alle viere. Er griff nach einem Gegenstand ganz am Rand, der von der Sofalehne beschattet wurde und unter einem roten Tuch verborgen war.
Als er ihn ergriffen hatte, ließ er sich auf den Hintern plumpsen und zeigte seinen Schatz lachend vor.
Gray nahm ihm das Ding ab. »Wer hat eine Handgranate hierhergelegt?«
Die Antwort erfolgte aus dem Flur. »Das ist mein Patenkind!«
Gray fuhr herum und funkelte Kowalski böse an.
Der Gorilla von einem Mann war mit Boxershorts, Flip-Flops und T-Shirt bekleidet. Er hatte bis zum Morgen gefeiert, und seine geröteten Augen und der schmerzverzerrte Mund ließen auf einen schweren Kater schließen.
»Keine Sorge«, brummte Kowalski. »Ist ein Blindgänger. Aus dem Koreakrieg. Hab ich vor ein paar Tagen auf dem Nachtmarkt gekauft. Den zukünftigen Sprengstoffexperten sieht man ihm jetzt schon an. Der wird mir bestimmt nacheifern.«
Gray stöhnte. »Vielleicht sollten wir die Zeremonie besser wiederholen.«
Seichan pflichtete ihm bei, ein Moment der Einmütigkeit, wie sie in letzter Zeit selten geworden waren. »Ich bestehe darauf.«
Seichan stand am Balkongeländer und schaute auf den ummauerten Garten hinunter. Kleine Laternen beleuchteten dunkle Teiche, Bogenbrücken und plätschernde Bambusbrunnen. Der leichte Nachtwind wehte den süßlichen Duft winterblühender Orchideenbäume heran.
In der Villa erlosch allmählich die Beleuchtung. Gray duschte, nachdem er Jack zu Bett gebracht hatte. Monk, Kat und die Mädchen hatten sich in ein Gästehaus auf dem umfriedeten Gelände zurückgezogen. Kowalski war in der Stadt, begleitet von zwei Triadenmitgliedern – vermutlich dienten sie weniger seinem Schutz, sondern sollten verhindern, dass er einen internationalen Zwischenfall auslöste.
Um nicht aufzufallen, waren sie mit Tarnnamen und falschen Pässen von den Staaten eingereist. Da sie nicht in offiziellem Auftrag gekommen waren, wollten sie kein Aufsehen erregen. Offiziell war Hongkong noch immer eine Sonderverwaltungszone der Volksrepublik, mit eigenständiger Regierung und Wirtschaft. Die Formel »Ein Land, zwei Systeme« war nach den heftigen Protesten im Jahr 2019 und der darauffolgenden Corona-Quarantäne jedoch so stark aufgeweicht worden, dass es inzwischen kaum noch Unterschiede gab.
Trotz dieser Veränderungen war ihre Einreise nach Hongkong von zwei Faktoren erleichtert worden.
Erstens war Sigma eine Geheimorganisation mit militärischem Charakter. Die meisten Angehörigen hatten bei den Spezialkräften gedient und waren von der DARPA angeworben worden, einer Behörde der Streitkräfte, die militärische Forschungsprojekte durchführte. Sie hatten eine Fortbildung in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen absolviert und wurden immer dann, wenn eine globale Bedrohung vorlag, als Erstschlag-Agenten und Ermittlungsteams eingesetzt. Sigma-Einsätze wurden im Verborgenen durchgeführt. Die Agenten operierten in einem Schattenreich, in dem die Grenzen zwischen Geheimdienst, Militäreinsätzen und wissenschaftlicher Forschung durchlässig waren.
Zweitens standen sie trotz aller Geheimhaltung in Hongkong zweifellos unter Beobachtung, und ihre wahre Identität war bekannt. Es war typisch für Geheimdienste, so zu tun, als sei der Übergriff eines anderen Dienstes unbemerkt geblieben, während man gleichzeitig ein Auge darauf hatte. Solange sie keine unmittelbare Gefahr für die chinesische Sicherheit darstellten, würde man ihre Anwesenheit dulden. Solange sie die Chinesen nicht provozierten, würden sie nichts unternehmen.
Zumindest jetzt noch nicht.
Seichan wirkte wachsam, was ihr Normalzustand war. Abgesehen von den kleinen Laternen im Garten spendeten nur die funkenden Sterne und die fernen Neonreklamen der Wolkenkratzer ein wenig Licht. Der Mond war bereits untergegangen, und er hätte auch nicht hell geschienen. Das chinesische Neujahr endete bei Neumond, der als dunkler Schatten über die Sterne hinwegwanderte.
So hatte sie sich ihr ganzes Leben lang gefühlt.
Ein Schatten inmitten der Helligkeit der Welt.
Hinter ihr bewegte sich der Vorhang, ein silbriger Lichtstreif fiel auf den Balkon. Die Tür glitt auf, und eine Gestalt im Seidengewand trat heraus. Ihre Mutter näherte sich ihr zögernd. Zwischen ihnen gab es viel Ungeklärtes.
Obwohl sie sich vor vier Jahren versöhnt hatten, war ein gewisses Unbehagen geblieben. Ein Abgrund von mehr als zwanzig Jahren – als sie sich gegenseitig für tot gehalten hatten – war schwer zu überbrücken. Seitdem hatte Seichan viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht, doch in den vergangenen zwei Jahren waren die Abstände zwischen den Besuchen größer geworden. Ihr letzter Besuch mit Jack war zehn Monate her.
Am Geländer innehaltend, schwieg ihre Mutter, als wollte sie zunächst die Stimmung testen. Guan-yin zog eine Schachtel in Zellophanverpackung aus der Tasche, nahm eine Zigarette heraus und schob sie sich zwischen die Lippen. Sie klopfte die Taschen nach einem Feuerzeug ab.
Seufzend holte Seichan ihr altes Dunhill-Feuerzeug aus versilbertem Messing hervor. Sie klappte den Verschluss hoch, entzündete die Flamme und hielt das Feuerzeug ihrer Mutter hin.
Guan-yin beugte sich vor und steckte sich die Zigarette an. Die Flamme beleuchtete ihre gezackte Narbe. Die Verletzung hatte ihr vor 26 Jahren ein Mitarbeiter der vietnamesischen Geheimpolizei zugefügt. Jetzt trug sie die Narbe als Ehrenabzeichen und hatte sie zu einem tätowierten Drachen erweitert, der von der Wange bis zur Stirn reichte. Er ähnelte dem silbernen Drachenanhänger ihrer Halskette. Seichan trug den gleichen Anhänger.
Als ihre Mutter sich aufrichtete und eine Rauchwolke ausstieß, wanderte Seichans Hand zu dem Drachen. Sie dachte daran, wie sie als kleines Mädchen neben einem Gartenteich gelegen hatte, der ganz ähnlich ausgesehen hatte wie die im Garten. Sie war mit dem Finger durchs Wasser gefahren und hatte versucht, einen Goldkarpfen anzulocken – dann hatte sich das Gesicht ihrer Mutter im gekräuselten Wasser gespiegelt, makellos und wunderschön, und der Silberdrache an ihrem Hals hatte in der Sonne gefunkelt.
Jetzt kam es ihr so vor, als sei das im Leben einer anderen gewesen.
Seichan hatte noch immer Mühe, Vergangenheit und Gegenwart zusammenzubringen. Falls mir das überhaupt jemals gelingt. Wie die zwei Drachen war auch ihrer beider Leben aus hartem Metall geschmiedet. Sie waren einander ähnlich, würden aber niemals identisch sein.
»Jack ist stark gewachsen«, brach Guan-yin schließlich das Schweigen.
Seichan hörte einen leichten Tadel heraus, der sich vermutlich auf die langen Abstände zwischen den Besuchen bezog. »Ich kann mich nur schwer frei machen.«
Ihre Mutter stieß Rauch aus und ließ den Vorwurf im Raum stehen.
Seichan wedelte die Qualmwolke weg und wechselte das Thema. »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.«
»Zhuang gefällt das nicht. Er versteckt ständig meine Zigaretten.«
»Offenbar nimmt er seine Leibwächterrolle ernst. Vielleicht solltest du auf ihn hören.«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen, Chi.«
Seichan mochte ihren Kindernamen nicht. Auf Vietnamesisch bedeutete Chi abgebrochener Zweig – was sich auf die tot geglaubte Tochter bezog. In gewisser Weise war dieses Mädchen tatsächlich gestorben.
»Du weißt, dass ich Seichan bevorzuge. Oder soll ich dich bei deinem alten Namen Mai Phuong Ly nennen?«
Ihre Mutter versteifte sich. Sie waren beide inzwischen ein anderer Mensch. Und sie beide wollten nicht an den Verlust erinnert werden, den sie erlitten hatten, und auch nicht an das darauffolgende Elend.
Die ersten neun Lebensjahre hatte Seichan in einem kleinen Dorf in Vietnam bei ihrer Mutter verbracht. Diese glückliche Zeit hatte eines Abends geendet, als Uniformierte in ihr Zuhause gestürmt waren und ihre schreiende Mutter mit blutigem Gesicht verschleppt hatten.
Erst Jahrzehnte später erfuhr Seichan, dass die Geheimpolizei von Guan-yins Verhältnis mit einem amerikanischen Diplomaten erfahren hatte. Das Ministerium hatte versucht, ihrer Mutter US -Geheimnisse zu entlocken, und sie in einem Gefängnis außerhalb von Ho-Chi-Minh-Stadt gefoltert. Ein Jahr später entkam sie bei einem Gefangenenaufstand und wurde kurz darauf aufgrund eines Verwaltungsirrtums für tot erklärt. Dieser glückliche Zufall ermöglichte es ihrer Mutter, aus Vietnam zu fliehen.
Seichan wurde unterdessen in Südostasien von einem verwahrlosten Waisenhaus zum nächsten weitergereicht – meistens halb verhungert und misshandelt –, bis sie in Seoul auf der Straße landete. Dort wurde sie von einer terroristischen Untergrundorganisation namens Gilde aufgenommen. Die Ausbilder raubten ihr systematisch den Rest ihrer Kindheit und ihrer Menschlichkeit, bis sie nichts weiter als eine Auftragsmörderin war.
Mithilfe der Sigma Force brachte sie die Gilde zu Fall. Anschließend fühlte sie sich orientierungslos und ließ sich treiben, bis sie bei Sigma eine neue Aufgabe fand – und bei Gray ein neues Zuhause und eine Familie.
Ihre Mutter nahm einen tiefen Zug von der Zigarette.
Ähnlich wie Seichan hatte auch sie ihren Groll und ihre Trauer in Zielstrebigkeit umgewandelt, in Hongkong die Triade Duan-zhi gegründet und sich einen Platz in der harten Welt erkämpft.
»Deui mm hjyuh« , entschuldigte sich ihre Mutter auf Kantonesisch.
Seichan senkte das Kinn. »Es ist spät. Ich sollte mich schlafen legen.«
Ihre Mutter berührte sie am Arm. »Ich habe gestern Abend gehört, wie du Grays Heiratsantrag abgelehnt hast. Deshalb wollte ich mit dir sprechen.«
Seichan schloss die Augen. »Das geht nur uns beide etwas an, Mutter.«
»Er hat bei mir um deine Hand angehalten. Vor zwei Tagen. In der Silvesternacht. Ich habe ihm meinen Segen gegeben. Falls das etwas ändern sollte.«
»Tut es nicht.«
Ihre Mutter senkte den Blick, jedoch nicht schnell genug, um ihr Erschrecken zu verbergen.
»Ich will nicht heiraten«, sagte Seichan. »Niemals.«
»Dafür habe ich Verständnis. Ich bin froh, dass du ihn abgewiesen hast.«
Seichan musterte ihre Mutter scharf. »Ich dachte, du hast ihm deinen Segen gegeben.«
»Ein Segen ist nicht das Gleiche wie Zustimmung . Er ist ein guter Mann. Und ein guter Vater. Das sehe ich. Hättest du eingewilligt, hätte ich keine Einwände erhoben. Aber du bist meine Tochter. Dein Herz wurde durch das, was du durchgemacht hast, verhärtet. Wie das meine auch. Dessen braucht man sich nicht zu schämen. Wir können lieben – einen Mann oder das Kind, das er uns schenkt –, aber wir brauchen keinen Ehemann. Wir sind wie eine Insel, von Untiefen bewacht. So sind wir, Mutter wie Tochter.«
Guan-yin betastete ihren silbernen Anhänger.
Seichan schluckte, verdutzt und auch erleichtert. Sie schwieg eine Weile, dann antwortete sie auf diese kalte Bemerkung. »Was ist mit meinem Vater?«, fragte sie. »Hättest du ihn geheiratet, wenn er dich gefragt hätte?«
»Du möchtest eine Antwort auf eine Frage haben, die mir nie gestellt wurde. Das weißt du. Diese Verbindung war unmöglich.«
»Aber wenn er sich gegen seine Familie gestellt und um deine Hand angehalten hätte, was hättest du ihm geantwortet?«
Guan-yin trat ans Geländer und blickte in die Ferne. »Ich … ich weiß es nicht. Ich war jung.« Ihre Schultern sackten herab, als sie an ihr früheres Ich dachte. »Es war gut, dass er mich nicht gefragt hat.«
Seichan wollte ihre Mutter ihren Träumereien überlassen und wandte sich zur Balkontür.
»Aber er hat dich gefragt«, sagte hinter ihr Guan-yin. »Ein guter Mann mit stolzem Herzen. Mit deiner Weigerung riskierst du, ihn zu verlieren.«
Seichan ging weiter und drückte den Rücken durch. »Wenn es einen Ring braucht, um ihn zu halten, ist es besser, wenn er geht.«
Auf einmal sah sie Gray vor sich, der vor ihr gekniet hatte, während das Feuerwerk die Hongkonger Wolkenkratzer erhellte. Sie hatten zu zweit gespeist – ihre Mutter hatte sich zusammen mit Jack und den anderen das Feuerwerk von einem Boot im Victoria-Hafen aus angeschaut. Gray hatte einen dunkelgrauen Anzug getragen, mit frisch gestärktem Hemd und silberblauer Krawatte, welche die gleiche Farbe wie seine Augen hatte. Sein dunkles Haar lag dicht am Kopf an, und eine widerspenstige Strähne verlieh ihm ein jungenhaftes Aussehen, das darüber hinwegtäuschte, wie gefährlich er mit seinen kräftigen Muskeln und schnellen Reflexen sein konnte. Allein der dunkle Bartschatten auf seinen Wangen, den er seiner walisischen Herkunft verdankte, wirkte ein wenig lässig.
Dann hatte er das Etui mit den Ringen hervorgeholt.
Ich hätte es mir denken können.
Doch es kam für sie unerwartet. Nach Jacks Geburt hatten sie mehrfach über das Heiraten gesprochen, manchmal im Scherz, manchmal eher ernsthaft. Sie hatte sich stets ablehnend gezeigt, denn sie war mit dem derzeitigen Zustand zufrieden. Sie hatte geglaubt, damit wäre das Thema erledigt.
Doch sie ahnte, was der eigentliche Grund für den Heiratsantrag war.
In letzter Zeit hatte es zunehmend Spannungen zwischen ihnen gegeben, einhergehend mit Streit und anhaltendem Schweigen. In der Zeit nach Jacks Geburt war ihr wachsender Frust in den Hintergrund getreten. Seichan aber konnte nicht leugnen, dass sie sich eingesperrt fühlte. Ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie unter der Knute der Gilde gestanden, die ihr vorschrieb, was sie zu tun und zu lassen hatte. Zwar liebte sie Jack so sehr, dass es manchmal richtig wehtat, doch sie wollte mehr, zumal jetzt, da der Junge älter und selbstständiger wurde. Sie fühlte sich hin- und hergerissen, und das Gefühl wurde mit der Zeit immer stärker.
Als Gray vor ihr im Speisezimmer der Villa niedergekniet war, hatten sich die Ringe eher wie ein Paar Handschellen angefühlt. Sie hatte versucht, sich ihm verständlich zu machen. Er hatte genickt, hatte sich abgefunden, doch er hatte verletzt gewirkt. In der Nacht hatten sie miteinander geschlafen, langsam und leidenschaftlich, so als wollten sie sich ihrer Liebe versichern.
Am Morgen aber war die Spannung wieder da gewesen. Die Feierlichkeiten zu Jacks Geburtstag hatten sie ein wenig abgelenkt, doch sie war sich nicht sicher, ob das reichte – oder ob es jemals reichen würde.
Als sie die Balkontür öffnete, erzitterte die Tür im Rahmen. Sie erstarrte, dann erbebte der ganze Balkon, und die Windspiele im Garten tönten hektisch.
Sie wandte sich zu ihrer Mutter um. »Weg vom Geländer!«
Die Wolkenkratzer in der Ferne schwankten. In einigen Teilen der Stadt fiel die Beleuchtung aus, erst in Kowloon an der anderen Seite des Hafens, dann breiteten sich die Stromausfälle zu der Insel hin aus, auf der sie sich befanden. Es sah aus, als sei der dunkle Mond vom Himmel herabgesunken und habe die Lichter ausgelöscht.
Sie eilten nach drinnen, weg von den Fenstern. Zhuang tauchte im Zimmer auf.
»Bring alle in den Garten«, befahl Guan-yin. »Dort ist es sicherer.«
»Ich hole Jack und Gray«, sagte Seichan.
Sie war noch keine drei Schritte weit gekommen, da knallten draußen Schüsse. Sie sah ihre Mutter an. Im Garten detonierte mit einem Lichtblitz eine Granate. Die Druckwelle ließ die Fensterscheiben erbeben.
Ihre Mutter wirkte unnatürlich ruhig. »Geht lieber in den Bunker in der Garage«, sagte sie zu Zhuan und Seichan. »Wir treffen uns dort.«
Sie eilten in entgegengesetzte Richtungen davon.
Die Erschütterungen wurden immer stärker.