Phoebe musste gähnen – jedoch nicht vor Langeweile. Es war weit nach Mitternacht, und sie war hundemüde. Sie und Jazz hatten ein ROV -Zeitfenster noch für diese Nacht ergattert und wollten noch drei weitere Orte erkunden.
»Wohin jetzt?«, fragte Jazz, die an der Steuerkonsole der Kabine saß.
Fünfzehn solche Kabinen säumten das Kalliste-Deck, die vierte Ebene der Unterwasserstation. Die Kabinen waren von deckenhohen Wänden voneinander abgetrennt und ließen sich durch eine Falttür komplett schließen, damit die Videoübertragung des ROV s nicht durch Umgebungslicht beeinträchtigt wurde.
Phoebe lehnte sich über Jazz’ Schulter und schaute auf den 45-Zoll-Monitor. Er zeigte ein hochaufgelöstes Bild der Korallenriffe, die am Tauchroboter vorbeizogen. In einem Fenster in der Bildschirmecke wurde auf leuchtenden Feldern die relative Position des ROV angezeigt. Auf der Karte blinkten drei rote Koordinaten.
Phoebe deutete auf eine. »Was hältst du von A17?«
»In Ordnung.«
Jazz nahm ein paar Einstellungen vor und lenkte das ROV weiter nach draußen. Vor ihrem Sitz waren halbkreisförmig Knöpfe und Schalter angeordnet. Damit wurde die gesamte Ausrüstung des ROV gesteuert: Greifer und Messvorrichtungen, Schneidwerkzeuge und Probengefäße. Leider war die Reichweite der ROV s durch die Glasfaserverbindung auf 500 Meter beschränkt.
Während Jazz A17 ansteuerte, spähte Phoebe in die Dunkelheit jenseits des Lichtkreises, welche die ROV s nicht erreichen konnten.
Weiter draußen in der lichtlosen Tiefe waren 42 AUV s stationiert. Die autonomen Unterwasserfahrzeuge fuhren vorprogrammierte Routen ab und kartierten die Umgebung. Ihre Akkus mussten erst nach einer Woche aufgeladen werden. Leider waren die AUV s nicht zum Sammeln von Proben geeignet. Sie dienten der hochauflösenden Kartierung, waren seit sechs Monaten in Betrieb und erkundeten die Meereslandschaft bis zum Rand der tiefen Gräben im Osten.
In den vergangenen Wochen hatte Phoebe sich die Videoaufzeichnungen und Logs der AUV s angeschaut. Zwei Dutzend Korallenbänke hatte sie markiert. Keine davon war größer als die unter der Station, doch mehrere lagen weitaus tiefer. Auch dort wollte sie Proben nehmen, doch damit musste sie noch drei Tage warten, bis sie ein HOV mit größerer Reichweite zugeteilt bekam.
Doch bis dahin …
»Wir sind fast da«, sagte Jazz, dann stieß sie einen Pfiff aus. »Du hast dir ein Prachtstück ausgesucht.«
Phoebe konzentrierte sich wieder auf die näheren Korallenbänke. Auf dem Bildschirm schwankte ein sechs Meter hoher Korallenbaum in der Strömung. Die Verzweigungen waren dicht gepackt und mit gefiederten grünen Polypen übersät.
»Diesen Riesen hab ich schon am ersten Tag bemerkt«, meinte Phoebe. »Anscheinend ein Exemplar der Schwarzen Koralle.«
»Wenn das zutrifft, ist sie rekordverdächtig. Sie ist doppelt so groß wie alles, was ich bisher gesehen habe.«
Phoebe neigte sich aufgeregt vor. Es gab Hunderte Arten von Schwarzen Korallen, mit Polypen in allen möglichen Farben: leuchtend gelb, schimmernd weiß, dunkelblau und purpurfarben. Allen gemeinsam waren die tiefschwarzen Kalkverzweigungen, die gesäumt waren von kleinen scharfen Stacheln. Ihretwegen bezeichnete man einige Arten auch als Stachelkorallen. Es gab auch grüne, die man wegen ihrer leuchtenden, dichten Verzweigungen auch Weihnachtsbaum-Korallen nannte.
Bislang hatte Phoebe in diesem Riff vierzehn Arten der Schwarzen Korallen identifiziert, doch ihr Interesse ging weit über deren schiere Größe hinaus. »Wenn sie so groß ist«, sagte sie, »muss sie sehr alt sein.«
Jazz nickte. »Ein wahrer Mammutbaum von einer Schwarzen Koralle.«
»Du sagst es.«
Schwarze Korallen galten als die langlebigsten Meereswesen. Eine Polypenart in den hawaiianischen Gewässern war 4270 Jahre alt und gedieh noch immer.
Jazz ließ das ROV um das große Exemplar kreisen und filmte es aus jedem Blickwinkel. »Sind sich die Oberflächenforscher schon einig über das Alter dieser Korallenbänke? Ich meine, wie lange hat diese Oase sich hier unten versteckt und auf uns gewartet?«
»Das ist noch unklar. Ein Meeresarchäologe in der Forschungskuppel der Titan X wiederholt gerade ein paar vorläufige Untersuchungen. Er hat eine Probe vom dicksten Bereich des Riffs genommen und versucht, mittels Laserabtrag ihr Alter zu bestimmen. Die gleiche Technik wurde eingesetzt, um das Alter der Korallenbänke im Mittelmeer zu datieren. Dabei wurde festgestellt, dass die Korallen dort seit über 400 000 Jahren leben.«
Jazz wandte den Kopf. »Moment. Du hast gemeint, der Archäologe wiederhole die Untersuchungen. Offenbar überprüft er etwas, das eine Kontrolle erforderlich macht.« Offenbar hatte sie Phoebes Miene richtig gedeutet. »Du hast schon etwas läuten hören! Und du hast mir nichts erzählt?«
»Wie gesagt, die Ergebnisse sind vorläufig.«
»Sprich schon, oder ich setze das ROV in den Sand.«
Phoebe lächelte. »Die ersten Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Korallenbänke zehn Millionen Jahre alt sind. Vielleicht noch älter.«
»Zehn Millionen …«, flüsterte Jazz ehrfurchtsvoll.
»Oder älter«, wiederholte Phoebe. »Niemand weiß, was diese Korallen uns über die ferne Vergangenheit verraten werden.«
Das fesselte sie am meisten an den Tiefseekorallen und stand im Zentrum ihrer Forschung. Denn Korallen wuchsen in dieser extremen Tiefe so langsam, dass die Einlagerungen in ihrem Kalkskelett ein Archiv der marinen Lebensbedingungen vor der Entstehung des Menschen waren. Ihre Erforschung versprach wertvolle Einsichten in die Auswirkungen von sich ändernden Umweltbedingungen auf das Wachstum der Korallen in Vergangenheit und Zukunft.
Sie dachte an ihre Unterhaltung mit William Byrd und dessen Sorge um den Zustand der Riffs.
Deshalb wurde ich eingestellt.
Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Doch das machte nur einen kleinen Teil ihrer Motivation aus. Sie war schon immer vom Meer fasziniert gewesen. Es war ihre Zuflucht und ihre Spielwiese.
Ihr Vater war ein heißblütiger Puertoricaner, der zu Wutausbrüchen neigte und seinem Frust mit Worten und Fäusten Ausdruck verlieh. In Barbados hatte ihre Mutter versucht, Phoebe nach Kräften vor ihm zu schützen, und sie weggeschickt, wenn es zu schlimm wurde. Trost und Frieden hatte Phoebe unter Wasser gefunden, wo das zornige Getriebe der Welt gedämpft wurde. Sie hielt so lange wie möglich die Luft an und versuchte, mit einer Lungenfüllung möglichst tief zu tauchen, was man später als Apnoetauchen bezeichnen sollte.
Nachdem ihre Mutter vor der häuslichen Gewalt geflohen war und sich mit ihrer Tochter in Südkalifornien niedergelassen hatte, machte Phoebe ihr Hobby zum Beruf – sie ergatterte sogar ein Stipendium.
Den Tauchsport praktizierte sie weiter, denn in der Einsamkeit unter Wasser fand sie Trost.
Sie blickte in die dunkle Tiefe vor den Stationsfenstern hinaus.
So tief unten war ich noch nie.
»Phebs?« Jazz schaute sie an. »Was soll ich machen?«
Phoebe schüttelte die Erinnerungen ab und schrieb sie ihrer Erschöpfung zu. Sie zeigte aufs Display, auf das ungewöhnliche Korallenexemplar. Sie wollte dessen Geheimnisse lüften.
»Geh näher ran. Ich möchte einen Ast auswählen und als Probe nehmen.«
»Kein Problem, Boss.«
Jazz verlangsamte das ROV , brachte es näher an eine Stelle mit dichten Verzweigungen und ließ es anhalten – zumindest versuchte sie es. »Die Strömung ist ziemlich stark. Nimmst du die Probe, während ich das ROV auf Position halte?«
»Mach ich.« Phoebe setzte sich neben ihre Freundin und rückte vor die Steuerelemente für die Greifer, die Schneidwerkzeuge und die Sammelvorrichtungen. Mit der Fingerspitze beschrieb sie auf dem Monitor einen Kreis um mehrere Äste der leuchtenden Koralle.
Jazz verstellte die Brennweite der Kamera. Eine Ansammlung smaragdgrüner Polypen füllte den Bildschirm aus.
Nachdem sie ein paar Feineinstellungen vorgenommen hatte, zuckte Jazz zusammen. »Boss, ich glaube, du könntest mit der Einordnung als Schwarze Koralle falschliegen.«
Phoebe verzog das Gesicht. Es wurmte sie, einer Fehleinschätzung überführt zu werden, doch Jazz hatte vermutlich recht. »Aus der Ferne war ich mir sicher«, murmelte sie. »Das Skelett der Koralle ist tiefschwarz. Und aus der Nähe erkennt man Stachelfortsätze, wie sie für diese Spezies typisch sind.«
»Aber man darf die Polypen nicht außer Acht lassen«, meinte Jazz. »Zähl mal die Arme. Es sind acht . Genau wie bei den Oktopussen.«
»Während Schwarze Korallen nur sechs Arme haben.« Phoebe seufzte. »Das ist interessant. Vielleicht erfahren wir mehr, wenn wir eine Probe vorliegen haben.«
»Das könnte eine neue Spezies sein«, sagte Jazz.
»Hoffen wir’s.«
Phoebe steuerte einen Greifer an einen dicht mit Polypen besetzten Zweig heran. Dutzende von Polypen stießen lange, dünne Fäden aus. Sie waren etwa dreißig Zentimeter lang und trafen den sich nähernden Greifer.
»Kampftentakel«, sagte Jazz erstaunt.
Phoebe ging näher heran, ebenso überrascht wie Jazz.
Viele Korallen verfügten über derartige Waffen. Doch deren Tentakel waren nicht so lang. Mit solchen Fäden machten Korallen Jagd auf Beute, die sich außerhalb der Reichweite der ringförmig angeordneten Arme befand. Sie verfügten über Nesselkapseln, mit denen sie die Beute lähmten. Außerdem dienten die Kampftentakel der Territorialverteidigung, indem sie andere Korallen abwehrten.
»Was für eine Spezies das auch sein mag«, sagte Jazz, »sie ist nicht scharf darauf, sich von uns einsammeln zu lassen.«
Phoebe fuhr den Greifer noch etwas weiter aus. »Wir nehmen nur die Spitze des Zweigs ab. Das kann sie uns kaum übel nehmen.«
Als der Schneider die Koralle berührte, entstand heftige Bewegung. Polypen kamen aus ihren kalzifizierten Nestern hervor und flüchteten wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm. Mit zuckenden Leibern und wedelnden Armen schossen sie durchs Wasser. Einige griffen den Greifer an und klammerten sich daran fest.
»Was ist denn das ?«, sagte Jazz. »Völlig untypisch für eine Koralle.«
Phoebe kniff die Augen zusammen und bemerkte, dass einige Polypen noch in der Koralle festsaßen. Bevor auch sie fliehen konnten, brach sie den Zweig ab und saugte ihn mitsamt seiner Restbewohner in einen selbstverschließenden Probenbehälter.
Anschließend richtete Phoebe sich auf. »Das war äußerst merkwürdig.«
Normalerweise waren Polypen in der Koralle verwurzelt und verbrachten dort ihr ganzes Leben. Zwar spalteten sie regelmäßig kleine Medusen ab, blieben selbst aber ortsfest.
»So etwas habe ich noch nicht gesehen«, meinte Phoebe.
»Das hat niemand.« Phoebe schaute sie mit großen Augen an. »Das ist nicht nur eine unbekannte Korallenspezies, sondern womöglich eine neue Untergruppe der Cnidaria.«
Die Cnidaria teilten sich in mehrere Untergruppen und Klassen auf, angefangen von den Quallen und Anemonen bis zu den Korallen und noch seltsameren Parasiten. Wenn Jazz richtiglag, hatte sie soeben eine erstaunliche Entdeckung gemacht.
Trotzdem dämpfte Phoebe ihre Erregung.
»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte sie und sah auf die Uhr. »Unsere Nutzungszeit ist fast abgelaufen. Was wir da entdeckt haben, werden sie im Labor herausfinden.«
Jazz nickte und steuerte das ROV rückwärts.
Während es sich von der Koralle entfernte, blickte Phoebe gebannt auf den Bildschirm. Offenbar hatte sie eine weitere Besonderheit des großen Korallenbaums übersehen. Im Sand ringsumher gab es keine Spuren von Leben. Im Umkreis des smaragdgrünen Exemplars wuchs keine andere Koralle. Keine Fische schwammen umher, keine Krabben staksten über den Boden.
Sie dachte an die hervorschießenden Polypen und die umherpeitschenden Kampftentakel.
Eines war jedenfalls jetzt schon klar.
Diese Spezies war hochaggressiv.