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23. Januar, 2:38 NCT
In drei Kilometern Tiefe im Korallenmeer

Erschöpft und mit verquollenen Augen schleppte sie sich die Wendeltreppe hoch. Sie hoffte, dass sie Schlaf finden würde. Nach der Entdeckung der feindseligen Koralle war sie ganz aufgedreht, doch die weitere Untersuchung musste bis morgen warten.

Jazz war unten geblieben und transferierte die Proben, die sie mit dem ROV eingesammelt hatten, in einen der Hochdrucktanks des Biolabors. Sie mussten unter demselben Druck aufbewahrt werden, der draußen herrschte, sonst würden die Körperzellen platzen und die Organismen abgetötet werden.

Das darf nicht passieren.

Phoebe hätte Jazz gern geholfen, doch ihre Doktorandin hatte sie weggescheucht und gedrängt, sich auszuruhen. Phoebe hatte nur halbherzig protestiert. Sie schlief unruhig in der Station, vor allem, da die Frauen sich einen beengten Schlafsaal auf dem Delphin-Deck teilten. Gearbeitet wurde rund um die Uhr. Keine hatte eine eigene ­Kabine. Die Betten wurden nach dem Prinzip »warme Koje« wie auf einem militärischen U-Boot reihum benutzt.

Die warme Koje und das ständige Klirren, Brummen und Klappern hatten sie bislang an einem geruhsamen Schlaf gehindert.

Jazz schien das alles nichts auszumachen – andererseits war sie zehn Jahre jünger.

Phoebe kletterte an der dicken Luke vorbei, welche das Elektra- vom Oceanus-Deck trennte. Die einzelnen Ebenen der Station waren nach griechischen Meeresgöttern oder Wassernymphen benannt. Auf der anderen Seite kam ihr ein groß gewachsener Asiate entgegen.

Phoebe wollte ihn vorbeilassen, doch der Mann hielt vor ihr an.

»Dr. Reed. Ich wollte mit Ihnen sprechen.«

»Mit mir? Warum?«

Sie kannte den Forscher nicht. Er gehörte jedenfalls nicht zum Biologenteam, denn dann wäre er ihr aufgefallen. Er war ebenso groß wie sie und sah umwerfend gut aus. Sein schwarzer Haarschopf war an den Seiten ausrasiert. Seine mandelförmigen dunklen Augen glänzten in der gedämpften Beleuchtung.

Sie musste seinem durchdringenden Blick ausweichen.

Frau, du bist schon zu lange allein.

Der Mann wirkte wie ein Japaner, sicher war sie sich jedoch nicht. Außerdem hatte sie Mühe, sein Alter zu schätzen. Vielleicht Mitte dreißig, so wie sie. Wie alle Mitarbeiter trug er einen marineblauen Overall, unter dem sich seine muskulöse Figur abzeichnete. Auf die Brusttasche war ein Abzeichen gestickt; die Erdkugel mit Spitzhacke wies ihn als Geologen aus.

Kein Wunder, dass ich ihn nicht kenne.

»Unser Team könnte ein paar Informationen gebrauchen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich bin Adam Kaneko.«

Sie schüttelte ihm die Hand. »Sie sind Geologe?«

»Seismologe, um genau zu sein.«

Ah, deshalb ist er so spät noch auf.

In den vergangenen fünf Tagen hatte immer wieder der Meeresboden gebebt, jedoch nicht so heftig wie beim ersten Mal, als die Ankerseile der Station gerissen waren.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Kaneko?«

»Bitte nennen Sie mich Adam.« Er deutete eine Verneigung an. Als er den Kopf hob, wirkte er besorgt. »Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen, aber in Südostasien ist es zu einem schweren Erdbeben gekommen. Das Epizentrum lag im Südchinesischen Meer. Das war vor einer halben Stunde, deshalb liegen noch nicht viele Informationen vor.«

»Das wusste ich nicht. Aber weshalb wollen Sie deswegen eine Biologin konsultieren?«

Und mich im Speziellen.

»In den vergangenen zwei Wochen haben wir die Epizentren einer Reihe von Beben bestimmt. Sie scheinen alle vom Tongagraben auszugehen, das Zentrum liegt etwa 640 Kilometer von unserem Standort entfernt.«

»Ist das ein Grund zur Sorge?«

»Im Moment nicht.«

Phoebe bemerkte ein Zögern in seinem Tonfall.

»Ich kann’s Ihnen zeigen«, sagte er. »Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben.«

»Natürlich.«

Adam geleitete sie die Treppe hoch zum Oceanus-Deck. Die beiden unteren Ebenen waren der biologischen Abteilung vorbehalten; auf dieser Ebene arbeiteten die Chemiker, Techniker und Geologen. Hier gab es auch einen Vortragssaal für interdisziplinären Austausch.

Bislang hatte Phoebe kaum einen Fuß auf das Oceanus-Deck gesetzt. Adam geleitete sie an einem der Notfalldocks vorbei. Jede Ebene verfügte über welche. Hinter der dicken Schleusentür führten vier Stufen zu einem kreisförmigen Dock hinunter. Wegen der Seebeben war sie sich auf einmal nur allzu deutlich der 300 Kilogramm bewusst, die auf jedem Quadratzentimeter der Stationshülle lasteten.

»Hier entlang«, sagte Adam, als sie langsamer wurde.

Er führte sie um das Mittelteil herum zu einer Tür, auf der die Erde mit Spitzhacke prangte. Das geologische ­Labor glich den anderen. Der Raum war in Kabinen, Labor­plätze und Computerstationen unterteilt. An der geschwungenen Rückwand sah man durch das polarisierende schwarze Glas den rötlichen Lichtschein der Außenscheinwerfer.

Trotz der späten Stunde waren die Labortische und Computer besetzt. Siebe ratterten. Irgendetwas klopfte rhythmisch. Die Luft schmeckte bitter, was vermutlich von den Reagenzien und Säuren herrührte, die bei der Analyse der Proben eingesetzt wurden.

Adam geleitete sie an dem Getriebe vorbei zu einem Bereich mit halbkreisförmig angeordneten Monitoren, vor denen drei ergonomische Bürostühle standen. Zwei davon waren bereits besetzt. Adam bat sie, auf dem freien Stuhl Platz zu nehmen.

Phoebe ließ sich vorsichtig darauf nieder, von der ungewöhnlichen Einladung verunsichert. Ein älterer Japaner mit akkurat gekämmtem weißem Haar saß in der Ecke. Er neigte grüßend den Kopf, arbeitete aber weiter. Durch eine schmale Lesebrille hindurch musterte er den Monitor. Er zeigte eine in Regenbogenfarben leuchtende topografische Karte, die sich langsam über felsigem Untergrund verlagerte. An der Seite ragte eine Felswand auf.

Auf dem dritten Stuhl saß jemand, den sie kannte.

»Freut mich, dass Sie zu uns stoßen, Dr. Reed«, sagte William Byrd, beugte sich vor und schaute sie von der Seite an. »Ich hoffe, wir werden Sie nicht allzu lange aufhalten, aber ich würde unsere Entdeckung gern mit Ihnen besprechen.«

»Ich helfe gern.« Sie blickte Adam an, der hinter dem älteren Mann stand. »Ich glaube, es geht um die Serie von Meeresbeben, doch ich verstehe nicht, was die geologische Abteilung von mir erwartet.«

Byrd seufzte. »Nach dem schweren Beben vor ein paar Tagen habe ich beträchtliche Ressourcen auf die Analyse der Bedrohungslage im Hinblick auf die Station und das umliegende Gebiet verwandt. Die Epizentren scheinen sich entlang des Tongagrabens zu verteilen.«

Der ältere Mann musterte über die Brille hinweg den Milliardär. »Nicht nur entlang des Grabens, Mr. Byrd. Sondern auf einen kleinen Abschnitt.«

»Ich weiß nicht, ob man einen Hundertsechzig-Kilometer-Abschnitt klein nennen kann.«

»Jedenfalls ist die Verteilung eigenartig«, beharrte der Ältere. »Und besorgniserregend.«

»Wir wissen noch nichts Genaues.« Byrd deutete auf Adam. »Ihr Neffe sieht das auch so.«

Phoebe blickte zwischen dem älteren Mann und Adam hin und her. Jetzt fiel ihr die Ähnlichkeit auf.

Adam bemerkte ihr Interesse und übernahm die Vorstellung. »Mein Onkel. Dr. Haru Kaneko. Fakultät für Vulkanologie an der Universität von Kyoto.«

»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte Phoebe, die sich noch immer fragte, weshalb man sie dazugeholt hatte.

Byrd wandte sich auf dem Stuhl herum. »Adam, würden Sie Dr. Reed auf den aktuellen Stand bringen, während wir den Sonarscan fortsetzen?«

»Gern.«

Adam rückte neben Phoebe und machte eine Eingabe über die Tastatur. Eine Karte der Region wurde angezeigt.

»Das hier sind die größeren Meeresgräben dieses Gebiets«, erläuterte Adam. »Ein wahres Labyrinth, wie Sie sehen. Deshalb ist Südostasien eines der tektonisch aktivsten Gebiete der Erde. Der Tongagraben allein ist verantwortlich für zwei Drittel der Tiefseebeben weltweit. Diese Volatilität ist Folge des Zusammenstoßes vierer großer tektonischer Platten. Der Pazifischen, Indo-Australischen, Philippinischen und Eurasischen Platten.«

Sie nickte. Aufgrund ihres Interesses für das Tiefseeleben war ihr das bekannt.

Adam tippte auf eine Stelle in der Mitte der Karte. »Die vier Gräben stoßen nahe der Mitte der indonesischen Inseln zusammen.«

Haru deutete auf seinen Neffen. »Adam, bitte zeig Dr. Reed die aktuelle seismologische Karte. Darauf lässt sich das deutlicher erkennen.«

»Einen Moment.« Adam machte eine weitere Eingabe. »Hier.«

Die neue Karte zeigte dieselbe Region, diesmal allerdings mit roten Sternen unterschiedlicher Größe übersät.

»Die Sterne markieren die Stellen, an denen in der vergangenen vier Tagen Meeresbeben aufgetreten sind. Ich habe lediglich Beben mit einer Stärke von mindestens 2,0 nach der Richterskala berücksichtigt. Je größer der Stern, desto stärker das Beben.« Mit einem Stift hatte er einen Kreis um einen Sterne-Cluster in der Mitte des Kermadec-Tonga-Grabens gezeichnet. »Wie Sie sehen, ist die Aktivität in diesem Abschnitt des Grabens außergewöhnlich wechselhaft.«

»Und das seit zwei Wochen«, setzte Haru hinzu.

»Häufungen von Beben sind in der Region nicht ungewöhnlich«, sagte Byrd, als wollte er sie beruhigen.

»Das stimmt«, sagte Adam, »doch diese Beben werden immer stärker und zahlreicher. Mein Onkel hält sich seit drei Monaten auf der Titan X auf und hat die seismische Aktivität während der letzten Phase der Fertigstellung überwacht. Ihm ist der verstörende Cluster, der vor zwei Wochen erstmals aufgetreten ist, als Erstem aufgefallen.«

Haru ergriff das Wort. »Ich habe sämtliche Beben protokolliert. Datum, Dauer, Stärke und Ort.«

Adam nickte. »Mit den Daten meines Onkels habe ich eine Vektorkarte der Stärke gezeichnet. Man erkennt, dass die Beben sich vom Tongagraben aus durch das Labyrinth der Gräben und Bruchlinien ausbreiten und nach Westen hin stärker werden. Sehen Sie.« Er tippte etwas ein. »Das sind die Vektorlinien, die ich errechnet habe.«

Die Karte wurde überlagert von drei langen Pfeilen, die Indonesien und die umliegenden Länder umspannten und zur asiatischen Küste wiesen.

»Was bedeutet das?«, fragte Phoebe.

Haru übernahm die Antwort. »Aus den Modellierungen meines Neffen geht hervor, dass der ganze vulkanische Sundabogen instabil werden und möglicherweise ausbrechen könnte, wenn die derzeitige Entwicklung sich fortsetzt. Ganz Südostasien könnte betroffen sein.«

»Von wie vielen Vulkanen reden wir?«

Adam lenkte Phoebes Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. »In Südostasien gibt es mehr als siebenhundert aktive und potenziell aktive Vulkane. Ich habe diejenigen, bei denen die Gefahr eines Ausbruchs am größten ist, markiert.«

Phoebe unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens. »Das sind bestimmt hundert Vulkane.«

»122«, präzisierte Adam. »Einige der Dreiecke markieren Cluster von zwei oder drei Vulkanen.«

Phoebe blickte auf die Karte mit den Vektorpfeilen. Alle drei führten durch vulkanisches Gebiet. »Was ist die Ursache?«

Byrd beugte sich vor. »Das versuchen wir herauszufinden. Es könnte sich um den Abbau ganz normaler Spannungen zwischen den tektonischen Platten handeln. Dann würde sich die Lage wieder beruhigen, sobald sich die Spannungen reduziert haben.«

Haru bedachte den Milliardär mit einem skeptischen Blick. »Ich habe zwei DriX-USV s am Tongagraben postiert. Das sind unbemannte Oberflächenfahrzeuge, die qualitativ hochwertige Sonaruntersuchungen durchführen können. Sie lassen sich von der Station aus fernsteuern.«

»Ich kenne die Fahrzeuge von meiner eigenen Forschung her«, sagte Phoebe.

»Natürlich.« Byrd nickte. »Heute Nacht haben wir den problematischen Abschnitt des Grabens erreicht. Gerade eben haben wir eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht, zu der wir gerne Ihre Meinung hören würden.«

»Meine Meinung? Warum das?«

»Würden Sie es ihr zeigen, Dr. Kaneko?«

Adams Onkel nickte. »Ich lasse das DriX auf autonomem Kurs durch den Graben fahren, damit uns nichts entgeht.«

Auf dem Bildschirm wurde eine regenbogenfarbene hochauflösende topografische Karte des Tongagrabens angezeigt. Die höchsten Erhebungen leuchteten hellgelb. Die unteren Hänge und Spalten wurden smaragdgrün dargestellt. Die tiefsten Regionen waren blau.

Ihr Blick fiel auf die Tiefenanzeige.

Mehr als 6000 Meter. Doppelt so tief gelegen wie die Station.

Der tiefste Abschnitt des Tongagrabens – das sogenannte Horizontief – lag 10 000 Meter unter dem Meeresspiegel. Auch dort gab es Leben, allerdings beschränkt auf Würmer, Garnelen und Seegurken.

Was mochte es sonst noch dort unten geben?

Phoebe hatte eine Vorahnung, was ihre Spannung steigerte.

3:04

Während alle warteten, wippte Phoebe nervös mit dem Bein. Sie fixierte den Bildschirm und rieb sich unbewusst die Hände. Das dunkle Haar hatte sie sich nach hinten gebunden. Sie wirkte voll konzentriert, und Adam musste an den Moment vor Ausbruch eines Unwetters denken.

Er kannte diesen Zustand. Vor seinem Studium an der Universität von Tokio hatte er gegen den Willen seines Vaters sechs Jahre bei den japanischen Streitkräften gedient. Die Soldaten, insbesondere die Scharfschützen, hatten die gleiche unbedingte Konzentration gezeigt wie Phoebe.

»Alles bereit«, sagte sein Onkel. »Ich schalte jetzt auf das andere DriX um, das über der anomalen Region kreist.«

Die leuchtende Landschaft aus Schlamm, Sand und Felsen verschwand. Haru navigierte mit der Maus durch verschiedene Menüs, dann erstrahlte der Monitor in neuen Farben. Auf den ersten Blick war kein Unterschied zum ersten Scan zu erkennen. Eine Felswand an der linken Seite wurde in einem breiten Farbspektrum angezeigt, angefangen vom Hellgelb an der Oberseite bis zu Blau- und Rottönen weiter unten.

Adam beugte sich vor. »Oje, ich glaube, das DriX kommt vom Kurs ab.«

»Ich hab’s gesehen.« Haru schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. »Da draußen braut sich ein Sturm zusammen, was die Telemetrie und die Steuerung vor große Herausforderungen stellt. Ich bringe es wieder auf Position.«

Während sein Onkel mit der Steuerung beschäftigt war, schwenkte das Fahrzeug herum und kam der Felswand ­näher. Dann fuhr das DriX weiter daran entlang. »Wir sind etwa einen halben Kilometer vom Zielpunkt entfernt.«

Byrd rollte mit dem Stuhl vor. Phoebe tat es ihm nach. Adam schaute über ihre Schulter hinweg auf den Bildschirm.

Das DriX fuhr weiter durch den Graben. Der Anzeige zufolge befand es sich in über 9000 Metern Tiefe, drei Mal so tief wie die Station.

»Wir sind fast da«, sagte Haru. »Allerdings nähern wir uns aus einem etwas anderen Winkel als beim ersten Mal. Die Region umfasst eine Fläche von 500 Quadratkilometern auf einer Grabenlänge von 65 Kilometern.«

An der rechten Bildschirmseite tauchte ein Schatten auf und verschwand gleich wieder.

»War das die andere Seite des Tongagrabens?«, fragte Phoebe.

»Ja. Die Durchschnittsbreite beträgt achtzig Kilometer, doch hier ist er nur acht bis elf Kilometer breit.«

»Die relative Enge könnte der Grund sein, weshalb dieser Abschnitt so volatil ist«, sagte Byrd. »Das könnte ein Stresspunkt sein.«

»Möglicherweise«, meinte Adam. »Aber die geschützte Lage dieser Region könnte auch unseren Fund erklären.«

»Was haben Sie …?« Phoebe verstummte, als die Bildschirmanzeige sich änderte.

Das dunkle Rot ging in Schwarz über, als hätte jemand Öl auf den Boden des Grabens geschüttet.

Sie beugte sich vor und hätte Adams Onkel beinahe zur Seite geschoben. »Das kann nicht sein.«

Die drei Männer sahen sie fragend an.

»Das sind Korallen«, sagte sie und deutete auf Haru. »Dürfte ich mal eben kurz die Steuerung übernehmen?«

»Sicher.« Haru rollte mit dem Stuhl zur Seite und machte den Platz vor der Steuerung frei. »Kennen Sie sich mit der Bedienung des DriX aus?«

»Ich habe damit das Sur Ridge an der Küste von Monterey untersucht. Ein Backscatter-Scanner kann nicht nur 3-D-Karten erstellen, sondern auch zwischen Gestein, Sand und Korallen unterscheiden.« Sie sah Haru an. »Ist das DriX für sedimenttechnografische Vermessungen ausgerüstet?«

»Hai , er verfügt über ein Echoes 3500 T7, das bis zu 11 000 Meter Wassersäule durchdringen kann.«

»Ausgezeichnet.«

Byrd runzelte die Stirn. »Dr. Reed, was haben Sie vor?«

»Ich habe das schon mal gemacht. Bei oberflächlichen Sonarscans wird dichter Korallenbewuchs häufig mit Felsen oder dem Meeresboden verwechselt.« Sie zeigte auf den schwarzen Bereich auf dem Bildschirm. »Die Schallwellen werden vom Dach des Korallenwalds reflektiert, sodass man meint, man habe den Boden vor sich.«

»Aber das trifft nicht zu?«, sagte Byrd.

»Nein.«

»Aber wo ist der Boden dann?«

»Das möchte ich herausfinden. Ein Profiler durchdringt den Sandboden und sogar Tonschichten. Mithilfe dieser Technologie konnte ich unter das Dach dichter Korallenfelder blicken.«

Sie verlangsamte das DriX und aktivierte das Sonargerät. Dann schaltete sie den Live-Videofeed ein. Der Bildschirm wurde geteilt. An der einen Seite sah man den Fortschritt des kartografischen Prozesses. An der anderen wurde das Bild des sedimenttechnografischen Profilers angezeigt.

Haru und Byrd schnappten nach Luft. Phoebe zeigte keine Reaktion, dafür konzentrierte sie sich zu stark. Lediglich ihre Augen weiteten sich.

Der Profiler zeigte einen Querschnitt durch die unstrukturierte schwarze Fläche und drang weit in die Dunkelheit vor. Phoebe regelte den Scanner nach, worauf das Bild schärfer wurde. Man konnte Schichten dicht miteinander verwobener Korallenbäume erkennen. Das Ganze sah aus wie das Negativ eines Windbruchs im Wald. Nach unten zu wurde das Bild unscharf.

Phoebe ließ die Steuerung los und überließ das DriX der Automatiksteuerung. »Das ist unmöglich«, sagte sie schließ­lich.

»Was meinen Sie?«, fragte Byrd.

»Der Korallenwald ist gigantisch, mindestens 300 Meter hoch. Das heißt, dieser Abschnitt des Grabens ist viel tiefer, als es scheint. Das Dach der Korallen wurde bislang fälschlicherweise für den Boden des Grabens gehalten.«

»Das aber war eine Täuschung«, meinte Adam.

»Wie tief ist er?«, fragte Byrd.

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Phoebe. »Der sedimenttechnografische Profiler reicht nicht bis zum Boden.« Sie zeigte auf die Tiefenskala des sepiafarbenen Bildschirms. »300 Meter unterhalb des Korallendachs beziehungsweise 10 000 Meter unter dem Meeresspiegel lässt die Auflösung nach. Dieser Abschnitt des Grabens könnte die tiefste Stelle sein.«

»Das könnte den Tiefenrekord des Marianengrabens einstellen«, sagte Adam. »Bislang gilt er mit knapp 11 000 Metern als tiefster Punkt des Planeten. Dieser Graben hier könnte stellenweise noch tiefer sein.«

Byrds Augen leuchteten. Offenbar versetzte ihn die Aus­sicht auf einen neuen Tiefenrekord in Aufregung. Die Lippen hatte er gleichwohl zusammengekniffen. »So erstaunlich das alles ist, inwiefern erklärt es die Häufung von Seebeben in diesem Gebiet? Oder gibt es gar keinen unmittelbaren Zusammenhang?«

Alle Blicke richteten sich auf Phoebe.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin keine Seismologin. Aber wir haben es hier nicht mit einem kleinen Koral­lenfeld zu tun. Das ist ein unbekannter Dschungel, ein zweiter brasilianischer Regenwald. In dieser extremen Tiefe sind die Korallen vermutlich äußerst langsam gewachsen. Es muss hunderte Millionen Jahre gedauert haben, bis diese Ausdehnung erreicht war. Das Riff könnte aus der Zeit der Entstehung der Korallen vor 500 Millionen Jahren ­stammen.«

»Aber was ist mit den Beben?«, hakte Byrd nach.

»Wenn es zutrifft, dass dieser enge Abschnitt des Grabens unter seismischer Spannung steht, könnte das Gewicht der Korallen – immerhin 500 Quadratkilometer, eingezwängt zwischen engen Wänden – den Ausschlag geben. Möglicherweise wurde ein Schwellwert erreicht und ein Bruchpunkt überschritten, an dem die darunter liegende Verwerfungslinie instabil wird.«

Adam schüttelte skeptisch den Kopf. »In Anbetracht des tektonischen Drucks, um den es hier geht, kann ich mir nicht vorstellen, dass dies die Erklärung ist.«

Haru spannte sich an, woraufhin alle auf den Bildschirm schauten. »Was ist das?«, fragte er.

Sie rückten noch weiter zusammen. Die dunkle, glatte Fläche breitete sich nach den Seiten bis zu den Felswänden aus, doch nahe dem einen Rand zeichnete sich in den Koral­len eine etwa 400 Meter lange gezackte Linie ab.

Phoebe lenkte das DriX heran und folgte der Linie. An deren Ende zeigte das Sonar einen glatten Umriss an, der aus der öligen Schwärze herausragte. Obwohl das Objekt vom Druck beschädigt und an der einen Seite tief in den Korallen vergraben war, ließ es sich leicht identifizieren. Das zylindrische Objekt war mehr als 120 Meter lang und verfügte über einen Kommandoturm.

»Das ist ein U-Boot«, sagte Byrd.

Haru blickte Adam an. Sein Onkel fragte sich offenbar, ob das U-Boot-Wrack für die lokale Häufung von Seebeben verantwortlich sein könnte. Es sah so aus, als sei das Heck mit erheblicher Wucht implodiert.

Adam hatte andere Besorgnisse. »Lässt sich das Alter schätzen?«, fragte er Phoebe.

»Nicht mit dem Sonar. Nicht in dieser Tiefe. Um den Untergang zu datieren, müsste man es in Augenschein ­nehmen.«

»Dann machen wir das«, sagte Byrd. »Ich habe ein ­U-Boot, das bis in eine Tiefe von …«

Ein lautes Warnsignal des Computers an der anderen Seite des Labors ließ ihn verstummen.

»Ein weiteres Beben«, sagte Adam und straffte sich. Der Alarm erfolgte nur dann, wenn das seismische Ereignis mindestens Stärke sieben nach der Richterskala hatte.

Ein Geologe eilte zum betreffenden Rechner. Er warf einen Blick aufs Display, dann rief er: »8,2!«

Adam zuckte zusammen. »Wo?«

»Im Südchinesischen Meer! In der Nähe des Manilagrabens. Nicht weit von dem Beben, das vor 45 Minuten registriert wurde. Dieses ist jedoch wesentlich stärker.«

»Dann handelt es sich nicht um ein Nachbeben«, meinte Haru.

Adam nickte. »Das erste war trotz seiner Stärke offenbar ein Vorbeben

»Vielleicht ist das nur ein weiteres Vorbeben«, sagte Haru mit ernster Miene. »Das Schlimmste kommt womöglich noch.«

Adam wandte sich dem zweiten Monitor zu, der noch immer die Karten anzeigte, die er erstellt hatte. Er blickte auf die langen Pfeile, die aufs Südchinesische Meer wiesen. In einem zweiten Fenster wurden die mehrere hundert Vulkane der Region angezeigt.

»Ich fürchte, das ist erst der Anfang«, sagte Haru.

Die kalte Gewissheit, mit der er seine Äußerung vorbrachte, deutete an, was er unausgesprochen gelassen hatte.

Das könnte der Anfang vom Ende sein.