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23. Januar, 5:02 ICT
Phsar Réam, Kambodscha

Kapitän Tse Daiyu stieg aus der Hintertür des schwarzen Xpeng-G9-SUV mit Elektroantrieb aus, während ihr Fahrer im Fahrzeug blieb. Ihre Stimmung war so finster wie die Umgebung. Die Sonne war über dem Golf von Thailand, der an den Marinestützpunkt von Réam grenzte, noch nicht aufgegangen. Es war schwül.

Sie nahm die Brille ab, säuberte mit einem Taschentuch die beschlagenen Gläser und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Sie hasste die Hitze. Sie war in der Stadt Mohe aufgewachsen, in der nördlich gelegenen Provinz Heilongjiang, wo es häufig Nordlichter zu sehen gab und das Wetter das ganze Jahr über kalt und trocken war.

Ganz anders als in dieser Sauna.

Sie ging über den Parkplatz. Männer und Frauen – Gemeine und Offiziere – eilten an der befestigten Ecke des kambodschanischen Stützpunkts umher. Alle trugen blaue Tarnuniformen, nur wenige davon mit Abzeichen versehen, denn die Dienstgrade sollten nicht zu erkennen sein. Es war ein zynischer Versuch, die Zahl der chinesischen Militärs auf kambodschanischem Boden zu verschleiern. Für die kambodschanische Regierung war der Nutzen dabei ­größer als für Beijing.

Als befehlshabender Offizier des Stützpunkts weigerte sich Daiyu, bei diesem Spiel mitzumachen. Sie trug eine graue Hose mit Bügelfalte und eine weiße Jacke mit harten Epauletten und Rangabzeichen. Den Hut hatte sie sich unter den Arm geklemmt. Ihr Haar reichte bis zum Kragen. Ihr einziges Zugeständnis an die Eitelkeit war das Färbemittel, mit dem sie ihre wenigen grauen Strähnen kaschierte.

Mit 48 war sie die zweite Frau in der chinesischen Marine, die den Rang eines Kapitäns innehatte, und sie hatte nicht vor, es dabei bewenden zu lassen. Sie wollte Admira­lin werden.

Als einziges Kind von Fabrikarbeitern lastete die Familienehre schwer auf ihr. Ihre Eltern hatten sich einen Sohn gewünscht, sich wegen der damaligen Ein-Kind-Politik aber mit einer Tochter begnügen müssen. Dennoch hatten sie sie in ihr Herz geschlossen und ihr Selbstvertrauen sowie Stolz auf ihr Land, ihre Familie und sich selbst vermittelt – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Als ihre Mutter vor zwölf Jahren gestorben war, hatte sie dies zum Anlass genommen, in die Volksbefreiungsarmee einzutreten. Im zivilen Sektor konnte sie ihren Ehrgeiz nicht befriedigen. Ihre Eltern hatte sie bereits stolz gemacht. Auf der Sun Yat-sem-Universität hatte sie in Geowissenschaft promoviert und anschließend im Labor für Meeresforschung und Meerestechnik in Guandong gearbeitet. Dort hatte sie an Tiefsee-Forschungsprojekten der Marine mitgewirkt. Der Übergang in den Militärdienst war leicht gewesen. Nachdem sie zunächst als Navigatorin auf einem Flugzeugträger gearbeitet hatte, kehrte sie anschließend ins selbe Labor zurück.

Jetzt leitete sie seit über zehn Jahren das chinesische Bathyskaph-Projekt. Die Krönung ihrer Laufbahn war die Fertigstellung und Erprobung eines KI -gesteuerten Schiffes, der Zhu Hai Yun . Dieses Forschungsschiff benötigte keine Besatzung. Es diente als Mutterschiff für eine Reihe von unbemannten Drohnen und U-Booten, die weitgehend autonom operierten, mit minimaler menschlicher Beteiligung.

Ihr Ziel war es, eine neue Ära der Vorherrschaft auf den Weltmeeren einzuleiten. Wenn sie Erfolg hatte, wäre der Admirals­rang in Reichweite. Viel hing jedoch von ihrer neuen Rolle hier in Kambodscha ab. Dies sollte der nächste Juwel in der Krone ihrer Erfolge werden. Sie hatte das Projekt geleitet und den Bau sowohl des überirdischen Stützpunkts als auch der unterirdischen technischen Labors beaufsichtigt.

Sie ging zu einem fünfstöckigen Lagerhaus mit Stahldach, das ans Wasser grenzte. Auf einem Schild stand nichts weiter als die chinesische Zahl 零八 , doch es war das wichtigste Gebäude auf dem Stützpunktgelände. Zwei bewaffnete Soldaten bewachten den Eingang. Obwohl es ihnen offenbar schwerfiel, salutierten sie nicht. Alle hatten Anweisung, im Freien den Anschein zu wahren.

Sie zog eine Magnetkarte durch den Leseschlitz und betrat das feuchte Lagerhaus. Es roch nach Meerwasser und Dieseltreibstoff. In dem zweistöckigen Gebäude waren die Büros und Arbeitsplätze rund um ein Tiefwasserbecken angeordnet. Es hatte Verbindung zum Golf von Thailand, doch die Tore waren momentan geschlossen. Am Dock hatte ein Forschungsschiff festgemacht, daneben lag der Prototyp eines U-Boots.

Daiyus Büro war im ersten Stock. Obwohl sie einen langen und wichtigen Tag vor sich hatte, ging sie jedoch zunächst zum Aufzug, der gleich neben dem Eingang gelegen war. Sie wollte wissen, ob in den zwei Tagen ihrer Abwesenheit bereits Fortschritte erzielt worden waren.

Mit der Magnetkarte öffnete sie die Fahrstuhltür. Sie trat in die Kabine und drückte die unterste Taste, auf der die Ziffer die fünfte unterirdische Ebene markierte.

Die Tür glitt zu, und der Käfig senkte sich dreißig ­Meter in den unterirdischen Betonbunker ab. Der größte Teil davon lag unter dem Parkplatz. Der Käfig kam rumpelnd zum Stehen, und die Tür öffnete sich mit leisem Zischen. Daiyu trat auf den langen grauen Flur, von dem über Luftschleusen zugängliche Labors abgingen.

Sie blickte in den ersten Raum. Hinter den Schleusenfenstern machte sie drei nackte Tote aus, die auf Stahltragen lagen. Ihre verkrümmten Körper waren schwarz, als wären sie verbrannt. Sie hatte einmal die Ruinen von Pompeji besucht und dort die Gipsabgüsse der Menschen gesehen, die beim Ausbruch des Vesuvs in Asche verwandelt worden waren. Die drei Toten hier sahen ganz ähnlich aus.

Bloß dass es sich nicht um Gipsabgüsse handelt.

Die drei Besatzungsmitglieder waren aus einer Rettungskapsel des chinesischen U-Boots Changzheng 24 geborgen worden. Die Marine hatten drei Tage gebraucht, um die im Südpazifik treibende Kapsel aufzuspüren. Ein heftiger Sturm hatte sie vom Unfallort abgetrieben. Das Funkfeuer war beim Aufstieg beschädigt worden und hatte nur sporadisch gearbeitet, was die Bergung weiter verzögert hatte. Als man die Kapsel entdeckte, war durch einen Riss bereits Wasser eingedrungen.

Daiyu ging schaudernd weiter und betrat die nächste Schleuse. Als die Tür aufging, genoss sie den kühlen Schwall klimatisierter Luft, der ihr entgegenwehte. Das Biolabor war vor zehn Tagen eilig hergerichtet worden, nachdem man auf den seltsamen Zustand der Leichen aufmerksam geworden war. Um sie zu untersuchen, hatte Daiyu Mikroskope, Zentrifugen, einen Tieftemperaturkühlschrank und ein PCR -System für die Genanalyse bereitstellen lassen. Auf Ersuchen des Forschungsleiters waren zusätzlich ein Elek­tro­nenmikroskop und ein Röntgengerät installiert worden.

Nach all der Mühe wollte sie endlich Antworten haben.

Sie näherte sich dem Mann, von dem sie sich Aufschluss versprach.

Dr. Luo Heng neigte grüßend den Kopf. Er war ein bril­lanter Bioingenieur und Arzt von der Universität von Schanghai. Mit 32 war er für seine Forschung bereits mehrfach ausgezeichnet worden und leitete derzeit die Chinesische Gesellschaft für Zellbiologie.

Heng blickte ihr trotzig entgegen. Er hatte nicht gewollt, dass sie herkam. Zunächst hatte er törichterweise geglaubt, er könne sie daran hindern.

Der Mann war in Hongkong aufgewachsen. Als das Gebiet an China zurückfiel, war er noch ein Kind gewesen. Trotzdem verhielt er sich mit seinen über eins achtzig so, als schwebe er zwischen zwei Welten: zwischen Ost und West, Zivilleben und Militär. Er wirkte stur und streitlustig, und sie war bereits mehrfach mit ihm aneinandergeraten.

Seine vier Mitarbeiter, die an verschiedenen Geräten arbeiteten, machten den Eindruck, als versuchten sie, ihrem Blick auszuweichen. Zwei waren von Heng persönlich ausgewählt worden. Daiyu hatte die beiden anderen ausgesucht, einen Leutnant und einen Unterleutnant, die dem Doktor helfen und seine Arbeit überwachen sollten.

Letztlich aber lag die Verantwortung bei Heng.

Sie näherte sich dem Bioingenieur. »Wie geht es unserem Patienten?«

»Sehen Sie selbst, Kapitän Tse.« Heng geleitete sie zu einem Beobachtungsfenster. »Ich glaube, er wird den Tag nicht überstehen.«

Daiyu musterte die Gestalt, die in dem Isolierraum im Bett lag. Eine Krankenschwester im weißen Schutzanzug überprüfte gerade seine Infusionskanüle. Sein Arm war als einziger Körperteil unversehrt. Er hatte Schläuche in Mund und Nase und wurde künstlich beatmet.

Der U-Boot-Fahrer war Maat auf der Changzheng 24 gewesen. Er war der einzige Überlebende, den sie in der Rettungskapsel vorgefunden hatten. Doch er war nicht ungeschoren davongekommen. Seine Beine waren verhärtet und schwarz verfärbt wie die der Toten. Er sah aus, als habe man ihn in Erdöl getaucht. Schmerzen und Fieber hatten ihn daran gehindert, Fragen zu beantworten oder seinen Zustand zu erklären.

In den vergangenen Tagen hatte sich der Befall ausgeweitet und war am Körper nach oben gewandert. Inzwischen waren auch die eine Hälfte der Brust und die linke Schulter betroffen. Weder Medikamente noch Bestrahlung hatten die Ausbreitung eindämmen können. Nur eine Behandlungsmethode zeigte überhaupt Wirkung: Absenkung der Körpertemperatur durch Eisbäder und Übersäuerung des Bluts. Dies hatte den Prozess allerdings nur verlangsamt.

»In der Nacht mussten wir ihn zwei Mal wiederbeleben«, sagte Heng mit einem Anflug von Gereiztheit. »Trotz unserer heroischen Anstrengungen hält er nicht mehr lange durch.«

Heng hatte Mitgefühl mit dem Patienten. Bereits vor drei Tagen hatte er darum gebeten, den Mann sterben zu lassen, doch Daiyu hatte ihn angewiesen, den Mann am Leben zu erhalten – zumindest so lange, bis sie mehr in Erfahrung gebracht hatten. Niemand wusste, ob die Erkrankung auf den zufälligen Kontakt mit einem unbekannten Giftstoff zurückzuführen war oder ob gegen die Besatzung eine exotische Biowaffe eingesetzt worden war. Sie brauchten Antworten, zumal die Bergung des havarierten U-Boots bald beginnen würde.

»Welche Fortschritte haben Sie in meiner Abwesenheit erzielt?«, fragte Daiyu.

»Bestenfalls kann man sie als bescheiden bezeichnen. Wir wissen jetzt so ungefähr, was mit seinem Körper vorgeht. Warum oder wie das geschieht, entzieht sich jedoch bislang einer Erklärung.«

»Zeigen Sie mir, was Sie herausgefunden haben«, befahl sie.

Er geleitete sie zu einem Computerarbeitsplatz. »Sein Körper durchläuft einen Prozess der Biomineralisierung. Schauen Sie sich die zentrifugierte Probe der Rückenmarksflüssigkeit an.«

Zwei mikroskopische Aufnahmen wurden angezeigt. Auf der ersten Aufnahme waren kleine Kristalle in diffuser Umgebung abgebildet.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Kristallines Kalziumkarbonat.«

Sie runzelte die Stirn. »Findet man das für gewöhnlich in der Rückenmarksflüssigkeit?«

»Nein.« Heng blickte sie an. »Unser Körper besteht zwar zu über acht Prozent aus Karbonat, doch das ist nicht der Ursprung dieser Kristalle.«

»Woher kommen sie dann?«

»Von den Knochen des Erkrankten.«

»Was?«

»Offenbar wird das Kalzium aus den Knochen herausgelöst und für die Kristalle verwendet, die sich in den Zellmembranen im ganzen Körper ablagern. Das Innere der Zelle bleibt intakt, doch die Zellwände werden spröde und hart.«

»Der Körper versteinert.«

»Genau. Es gibt eine Krankheit, die als Sklerodermie bezeichnet wird, eine Autoimmunkrankheit, bei der sich zwischen den Zellen Knorpelgewebe bildet. Die Haut und die Organe werden dadurch hart und unelastisch. In diesem Fall ist aber nicht Knorpelgewerbe die Ursache, sondern Kalziumablagerungen.«

»Und was ist mit den Knochen?«

Heng blickte zu dem Unteroffizier im anderen Raum. »Wir haben die Beine mehrfach durchleuchtet. Die Gliedmaßen sind zwar steif und fest, doch unter der harten Schale befinden sich keine Knochen. Man könnte meinen, das Innenskelett werde in ein Exoskelett umgewandelt, was man als eine Art Terraforming bezeichnen könnte.«

Daiyu schnitt eine Grimasse. »Und Sie haben keine Vermutung, was die Ursache sein könnte?«

»Ich weiß nur, dass es ein brutaler Prozess ist, der alle Energie des Opfers in Anspruch nimmt. Als Stabsbootmann Wong hier eintraf, lag seine Körpertemperatur bei 41,7 Grad, dann stieg sie auf fünfzig Grad an. Deshalb ist er in ein tiefes Koma gefallen, und möglicherweise haben die Eisbäder den Verlauf ein wenig abgeschwächt. Was immer in ihm vorgeht, es kann anscheinend die gesamte im Körper aufgespeicherte potenzielle Energie freisetzen – und das ist eine gewaltige Menge. Unser Körper ist, wenn man so will, eine äußerst effiziente Batterie. Eine Autobatterie mit dem gleichen Energiegehalt wie der Fettspeicher eines gesunden Mannes würde eine Tonne wiegen.«

»Und irgendetwas zapft diese Energie an?«

»Es zapft sie nicht nur an, sondern setzt sie auch auf einen Schlag frei – eine biologische Kettenreaktion.«

»Aber warum? Was ist der Auslöser?«

Heng zuckte frustriert mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Wir haben weder Bakterien noch Viren oder Chemikalien gefunden, die als Auslöser infrage kämen. Ich weiß nicht, ob wir es hier mit einer Konservierung oder einer neuen Form von Predation zu tun haben. Vielleicht mit beidem. Ich habe übrigens die Mikrostruktur der Kristalle untersucht, mit erstaunlichem Ergebnis.«

»Inwiefern?«

»Kalziumkarbonat ist polymorph und kommt überwiegend in zwei Formen unterschiedlich konfigurierter Kristallgitter vor. Am häufigsten ist der Kalzit mit trigonaler Konfiguration, aus dem zum Beispiel Kalkstein besteht.« Er zeigte auf den Bildschirm. »Mittels Röntgenstrukturanalyse haben wir herausgefunden, dass diese Kristalle ortho­rhombisch sind, eine Kristallform, die man als Aragonit bezeichnet. Diese Struktur ist weniger stabil und wird bei Anwesenheit von Meerwasser gebildet.«

»Meerwasser?« Daiyu stellte sich vor, wie die Chang-zheng 24 gesunken war und in der Tiefe aufgesetzt hatte. »Ist das bedeutsam?«

»Vielleicht nicht. Die Konzentration von Natriumsalz und anderen Ionen in Meerwasser ähnelt der Zusammensetzung unseres Blutserums. Das könnte erklären, weshalb das Karbonat zu Aragonit kristallisiert. Aber sicher ist das nicht.«

Daiyu nickte, stärker beunruhigt als vor dem Gespräch mit Heng.

Doch der Wissenschaftler war noch nicht fertig. »Es gibt da noch etwas, das Sie wissen sollten.« Er wandte sich dem Rechner zu und navigierte mit der Maus durch verschiedene Menüs und Fenster. »Auch in diesem Fall weiß ich nicht, wie bedeutsam die Entdeckung ist, die ich gestern gemacht habe, doch sie ist so ungewöhnlich, dass Sie davon erfahren sollten.«

»Worum geht es?«

»Ich habe zuvor gesagt, die Kalziumkristalle seien in den Zellmembranen verteilt. Das ist nicht ganz richtig.«

»Inwiefern?«

Heng startete ein Video. Es zeigte ihn und einen anderen Forscher im angrenzenden Leichenraum. Beide trugen einen Schutzanzug. Die filmende Person zoomte, als Heng den Kopf des kalzifizierten Toten mit einer vibrierenden Knochensäge öffnete. Er hob die Schädeldecke ab. Die Kamera zeigte das Innere des Kopfes.

Daiyu sog scharf die Luft ein.

Die Faltungen eines grauen Gehirns waren zu sehen.

»Während der Rest der Körperzellen – die der Organe und des Gewebes – den Prozess der Biomineralisierung durchlaufen haben, blieb das zentrale Nervensystem davon unberührt«, erklärte Heng. »Gehirn und Rückgrat scheinen im Großen und Ganzen intakt zu sein.«

Daiyu schluckte und bemühte sich, das Schwanken ihrer Stimme zu verbergen. »Was glauben Sie, weshalb sie nicht betroffen sind?«

Statt zu antworten, schüttelte Heng den Kopf. »Wir haben das Gehirn, das Sie hier sehen, untersucht. Dabei haben wir ein schwaches EEG -Signal detektiert, als ob es noch über elektrische Energie verfügen würde.«

Daiyu blickte ihn fassungslos an. »Wollen Sie damit sagen, das Gewebe lebt noch?«

»Gewiss nicht«, antwortete er mit einem seltsamen Zögern. »Ich nehme an, es gibt noch eine gewisse Restwärme, weil aufgrund der gewaltsamen Umwandlung Nerven und Synapsen wahllos stimuliert werden. Erstaunlich ist es aber gleichwohl. Ich habe vor, Gehirn und Rückenmark im Lauf des Tages zu sezieren. Vielleicht kann ich dann …«

Im Nebenraum schrillte ein Alarm, so laut, dass Daiyu zusammenschreckte.

Hinter dem Sichtfenster winkte hektisch die Krankenschwester. Der Unteroffizier auf der Unterlage – oder das, was von ihm noch nicht versteinert war – zuckte krampfhaft.

Heng flehte Daiyu wortlos an, den Patienten gehen zu lassen.

Sie schaute wieder auf das makabre Video auf dem Bildschirm, dann sah sie den Arzt an. »Halten Sie ihn am Leben.«

»Dui« , bestätigte er widerstrebend.

Daiyu wandte sich ab und verließ das Labor. ­Benommen nahm sie den Aufzug und fuhr in die zweite Etage des Lager­hauses hoch. Mit steifen Bewegungen ging sie zu ihrem Büro.

Bevor sie es erreicht hatte, erhob sich ihre Sekretärin und verneigte sich.

»Haijun shang xiao Tse« , sagte sie. »Gerade eben hat Beijing angerufen. Sie schicken heute Nachmittag jemanden her, der mit Ihnen … über das Projekt im Keller sprechen möchte.«

»Wen?«

Die Sekretärin warf einen Blick auf die Notiz, die sie in Händen hielt. »Dr. Choi Aigua.«

Daiyu runzelte die Stirn. Der Name war ihr unbekannt. »Wer hat ihn geschickt?«

»Der stellvertretende Direktor der Zhongguo Guojia Hangtian Ju «, antwortete sie. Damit war die chinesische Weltraumbehörde gemeint. »Dr. Choi ist Astrophysiker und lehrt an der Akademie für Raumfahrtechnologie.«

Daiyu war verwirrt.

Weshalb schicken sie einen Astrophysiker?

Sie verspürte einen Anflug von Beklommenheit und vergegenwärtigte sich Hengs Beschreibung der Biomineralisierung, die er als Terraforming bezeichnet hatte. Außerdem konnte sie die Bilder aus dem Video nicht abschütteln – das glänzende zitternde Gehirn in der harten Schale.

Versorgt mit Energie.

Sie dachte an das U-Boot, das in die finstere Tiefe gesunken war.

Was ist dort draußen wirklich passiert?