Im Nieselregen überquerte Gray die Fußgängerbrücke, welche die Ayer-Rajah-Schnellstraße überspannte. Es war schwül, die Temperatur betrug knapp dreißig Grad.
Der Verkehr unter der Brücke war für diese normalerweise so geschäftige Stadt dünn. Die Bewohner der Region schienen den Atem anzuhalten und sich zu verkriechen. In Singapur war das Erdbeben zu spüren gewesen, und es hatte auch den Ausläufer des Tsunamis abbekommen, doch die Zerstörungen waren viel geringer als an der Küste von China, Vietnam und den Philippinen, wo die Todeszahlen im Verlauf der Rettungsmaßnahmen immer weiter anstiegen.
Das Schlimmste steht womöglich noch bevor.
Gray hoffte, die Warnungen der Geologen vor einer noch größeren Katastrophe würden sich als übertrieben erweisen. Im Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Monk und Kowalski waren bereits auf der Titan -Station im Korallenmeer eingetroffen. Kat hatte mit einem Privatjet, den Painter bereitgestellt hatte, den Rückflug angetreten. Jack und die Mädchen hatten sich von dem nächtlichen Chaos und der Angst bereits erholt.
Jetzt, da die Kinder außer Gefahr waren, konnte Gray sich mit ganzer Kraft seinem Auftrag widmen. Am Ende der Fußgängerbrücke angelangt, musterte er sein Ziel.
Das Naturkundemuseum Lee Kong Chian war ein siebenstöckiger grauer Klotz am Rand des Universitätscampus von Singapur. Das monolithische Gebäude war nahezu fensterlos und von oben bis unten mit strukturiertem Spritzgussbeton verkleidet. Es glich einer riesigen Arche, die auf dem Campus gestrandet war.
In Grays Augen war dies ein Betontresor, den er knacken musste, um ein Rätsel zu lösen.
Welche Bedeutung hat das Museum für die Chinesen?
Hinter ihm unterhielt Seichan sich halblaut mit ihrer Mutter, Zhuang stand neben ihr. Die beiden Triadenanführer hatten sie nach Singapur begleitet, um ihnen bei den Nachforschungen zu helfen. Guan-yin hatte viele Kontakte in der Region. Da sie unter Zeitdruck standen, hatte Gray ihr Hilfsangebot akzeptiert – davon abbringen hätte er Seichans Mutter ohnehin nicht gekonnt.
Guan-yin hatte ihren Wert bereits unter Beweis gestellt, indem sie Waffen nach Singapur geschmuggelt hatte. Grays SIG Sauer P229 war unter leichtem Pullover und Windjacke verborgen. Monks Pistole, eine Glock 45, steckte in Seichans Knöchelhalfter aus Kevlar.
Auch Guan-yin und Zhuang waren zweifellos bewaffnet, allerdings hatte der Triadenstellvertreter seinen Säbel im Hotel an der anderen Seite der Schnellstraße zurückgelassen. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme trug Guan-yin einen dunkelroten seidenen Niqab, der die untere Gesichtshälfte bedeckte und ihr Tattoo und die Narbe verbarg.
Zhuang näherte sich Gray. »Was erwarten Sie eigentlich von dem Besuch zu dieser frühen Stunde? Wenn die Chinesen zuschlagen, dann bestimmt im Schutz der Nacht. Außerdem haben wir bereits Zugriff auf die Überwachungskameras im Museum.«
»Mit den eigenen Augen sieht man besser.«
Während des Herflugs hatte Jason Carter, ein begnadeter Techniker von Sigma, das Überwachungssystem gehackt. Gray gab sich damit jedoch nicht zufrieden. Vor Einbruch der Nacht wollte er sich selbst ein Bild von den örtlichen Gegebenheiten machen.
Painter hatte ihnen mitgeteilt, bisher sei am Museum noch nichts Ungewöhnliches bemerkt worden.
Der Direktor von Sigma hatte auch ein Carepaket ans Hotel liefern lassen. Es enthielt verschlüsselte Satellitentelefone und Tablets, Funkgeräte und Kehlkopfmikrofone sowie IVAS -AR -Brillen. Sie waren nicht nur mit der modernsten Nachtsichttechnologie ausgestattet, sondern man konnte auch den Feed der Überwachungskameras ins Head-Up-Display einblenden.
Vor Verlassen des Hotels hatte Gray Ohrhörer und Kehlkopfmikrofone verteilt. Die Geräte waren nur bei genauem Hinsehen zu erkennen. Er wollte, dass sie ständig Kontakt hielten. Die restliche Ausrüstung hatte er auf die Schultertaschen verteilt.
Gray sah auf die Uhr. »Wir müssen uns beeilen«, sagte er.
Um zwölf Uhr wollten sie an einer Privatführung teilnehmen, die Sigmas Kontaktleute vom Smithsonian Institute arrangiert hatten. Das war nicht schwer gewesen. Die Sigma-Zentrale lag unter dem Smithsonian Castle an der National Mall. Den Ort hatte man wegen der Nähe zu den Forschungslabors der Institution und den Hallen der Macht in D.C. gewählt. In der Vergangenheit hatte sich das bewährt – und so auch jetzt. Durch die Führung würden sie Zugang zum nicht öffentlichen Bereich des Museums bekommen und den Metalldetektoren am Eingang entgehen.
Gray geleitete die Gruppe zur Vorderseite des Museums. Die Fassade veränderte sich dramatisch. Die gegenüberliegende Ecke war ausgespart und durch versetzt angeordnete Balkone ersetzt worden. Darin wuchsen Bäume, Sträucher und überhängende Farne. Sie sollten an die üppig grünen Klippen der vorgelagerten Inseln von Singapur erinnern. Weitere Parkanlagen umgaben das Museum.
Seichan schloss zu Gray auf, und Zhuang ließ sich zu ihrer Mutter zurückfallen. »Wo sollen wir uns mit dem Museumsdirektor treffen?«
Gray zeigte zu der breiten Treppe, die zum öffentlichen Eingang hochführte. »Daneben liegt ein Eingang für Besuchergruppen. Dort sollte Professor Kwong uns erwarten.«
Sie eilten zielstrebig durch das Besuchergewimmel. Gray schaute sich ständig um, Seichan desgleichen.
»Du hast während des Fluges viel gelesen«, flüsterte sie. »Hast du rausgekriegt, worauf die Chinesen es abgesehen haben könnten?«
»Nein. Das Museum besitzt über eine Million Präparate, allerdings wird nur ein Bruchteil davon ausgestellt. Alles andere befindet sich in Trocken- und Nasslabors in den oberen Stockwerken, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind.«
Das war der zweite Grund, weshalb Gray um eine Privatführung gebeten hatte. Das Museum hatte eine Grundfläche von über 8000 Quadratmetern, doch der öffentliche Ausstellungsbereich umfasste nur ein Viertel davon.
Gray schaute am Gebäude empor. »Wahrscheinlich befindet sich das, wonach die Chinesen suchen, im öffentlich nicht zugänglichen Bereich.«
»Trotzdem ist das eine große Fläche. Ist es dir nicht gelungen, die Suche einzuengen? Du kannst doch sonst um die Ecke denken.«
»Zaubern kann ich nicht.«
Gleichwohl war Gray sich bewusst, dass er nicht wegen seiner Erfahrung als Army Ranger, sondern eher wegen seiner speziellen Denkweise von Sigma angeworben worden war. Von Kindheit an war er von Gegensätzen geprägt worden. Seine Mutter war eine gläubige Katholikin gewesen, welche die Dogmen hartnäckig angezweifelt hatte. Sein Vater, ein rauer Ölarbeiter, war in mittleren Jahren zum Invaliden geworden und hatte sein Leben fortan als Hausmann bestreiten müssen. Vielleicht war dies der Grund, weshalb Gray die Dinge anders betrachtete und einen Ausgleich zwischen den Extremen suchte. Oder die Fähigkeit, Muster zu erkennen, die andere übersahen, war angeboren.
Nach zehn Jahren bei Sigma wusste er, dass er weniger ein Um-die-Ecke-Denker war, sondern vielmehr ein Durchdenker, der alles berücksichtigte und durcheinanderschüttelte, bis die Wahrheit zum Vorschein kam.
»Und du bist immer noch ratlos?«, meinte Seichan herausfordernd.
Er schaute sie von der Seite an.
Sie musterte sein Gesicht. Er versuchte, keine Miene zu verziehen, doch sie kannte ihn zu gut. »Du hast etwas herausgefunden.«
»Bestenfalls habe ich eine Ahnung«, räumte er ein.
»Und?«
»Das Museum von Singapur hat eine große Sammlung, doch auch China besitzt Naturkundemuseen, in Schanghai, Beijing und Hongkong. Alle mit vergleichbar großen Sammlungen. Weshalb also ein Team hierherschicken? Was ist so wichtig an diesem Museum?«
Seichan zuckte mit den Schultern.
»Ich habe Jason die Datenbanken der regionalen Museen miteinander abgleichen und nach Präparaten suchen lassen, die nur hier zu finden sind. Zwar gibt es viele Präparate, die nirgendwo sonst aufgeführt sind, doch nichts davon fiel mir als ungewöhnlich auf oder stand in einer unmittelbaren Beziehung zum havarierten U-Boot und den merkwürdigen Erdbeben.«
»Also eine Sackgasse.«
»Ja … bis ich feststellte, woher die Sammlung stammt. Die Geschichte des Museums ist noch interessanter als dessen Bestand.«
»Inwiefern?«
»Die Gründung Singapurs und die des Museums gehen zurück auf einen gewissen Sir Thomas Stamford Raffles. Im Jahr 1819 gründete er die Hafenstadt, die sich zum heutigen Singapur entwickelt hat. Doch er war auch ein glühender Naturforscher, der die Flora und Fauna dieser Region liebte und zahllose Entdeckungen machte. Um die ganze Fülle der Biodiversität zu konservieren und auszustellen, gründete er 1823 die Singapore Institution, aus der das erste naturkundliche Museum hervorging. Später nannte man es zu seinen Ehren Raffles Museum, 1965 benannte man es in Nationalkundemuseum von Singapur um. Es ist die älteste derartige Einrichtung in ganz Südostasien. 2015 wurde die naturkundliche Abteilung mitsamt aller Präparate an diesen Ort verlegt.«
Seichan runzelte die Stirn. »Inwiefern ist das bedeutsam?«
»Geschichte ist immer wichtig.«
Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Kommen Sie zum Punkt, Herr Professor.«
»In dem Museum gibt es Präparate, die noch von Sir Stamford Raffles stammen, der die erste Sammlung begann, noch ehe er einen Fuß nach Singapur setzte. Schon als Vizegouverneur von Java interessierte er sich für Naturkunde. Dort war er Präsident der Batavischen Gesellschaft, einer Vereinigung von Leuten, welche die Naturgeschichte Ostindiens dokumentieren und erforschen wollten. Einige der Artefakte des Museums stammen aus dieser Zeit.«
»Und weshalb ist das wichtig?«
»Es könnte auch unwichtig sein, aber in der Amtszeit von Raffles kam es in der Region zu verheerenden tektonischen Ereignissen. Der Ausbruch des Tambora löste eine Reihe von Tsunamis aus, und die Aschewolke verteilte sich um die ganze Welt.« Er sah sie an. »Kommt dir das bekannt vor? In Anbetracht der apokalyptischen Vorhersagen, die das Geologenteam der Titan gemacht hat, suchen die Chinesen möglicherweise nach Proben aus jener Zeit, die ihnen so wichtig erscheinen, dass sie vor Gewalt nicht zurückschrecken.«
Seichan hob skeptisch eine Braue. »Hat deine spezielle Denkweise dich darauf gebracht?«
»Wie gesagt«, erwiderte er mit einem Achselzucken, »es ist nur so eine Ahnung.«
Das Wesentliche ließ er ungesagt.
Meine Vorahnungen trügen nur selten.
Seichan stieg hinter Gray und Professor Darren Kwong die Wendeltreppe zum Zwischengeschoss hoch. Der Kurator war ein kleiner Malaysier mit freundlicher Miene, der ausgesprochen umgänglich wirkte. Er trug einen knielangen Laborkittel über einem weißen Hemd mit roter Krawatte, was wohl auf die beiden Farben der Flagge von Singapur verweisen sollte. Offenbar war er stolz auf sein Land und das Museum.
»Jetzt kommen wir zur historischen Abteilung«, sagte Kwong und schwenkte den Arm vor einem Teil des Museums, der aussah wie eine Bibliothek der Jahrhundertwende. Die Galerie war gesäumt von hohen Vitrinen aus Holz und Glas, in denen alte Bücher, Artefakte und Kuriositäten ausgestellt waren. »Hier wird die Anfangszeit des Museums dokumentiert. Die Vitrinen und Schubladen dürfen geöffnet werden. Wir wollten die Ausstellung möglichst interaktiv gestalten.«
Gray blieb vor jeder Vitrine stehen und schaute sich den Inhalt an. Seichan war sich bewusst, dass er ein spezielles Interesse an diesen Dingen hatte. Für sie galt das nicht.
Sie blieb zurück und hoffte, dass man ihr die Ungeduld nicht anmerken würde. Seit einer Stunde zogen sie durch die fünfzehn Abteilungen des Museums, die der Biodiversität der Region gewidmet waren – der Stammbaum des Lebens, angefangen vom Ursprung des Lebens bis zu dessen Verästelungen und Verzweigungen, die Millionen von Jahren umfassten.
Ihr kam es tatsächlich vor wie eine Ewigkeit.
Ihre Mutter und Zhuang waren unten geblieben und warteten auf den Beginn der Licht- und Tonschau, in deren Mittelpunkt drei gewaltige Sauropodenskelette standen, deren Hälse und Schädel bis zum Zwischengeschoss aufragten. Mit den Ohrhörern und den Kehlkopfmikrofonen hielten sie Kontakt. Sie beobachteten aufmerksam den Eingang und hielten Ausschau nach verdächtigen Besuchern.
Gray richtete sich auf und wandte sich an Kwong. »Wie ich sehe, haben Sie die historische Galerie in zwei Sektionen unterteilt, mit Sir Stamford Raffles auf der einen und William Farquhar auf der anderen Seite. Zeitlich überlappen die Exponate und Entdeckungen. Weshalb haben Sie sie getrennt?«
Kwongs Lächeln vertiefte sich. »Weil wir sonst von ihren Gespenstern heimgesucht würden. Sir Raffles und Generalmajor Farquhar haben beide zur Gründung von Singapur beigetragen und waren begeisterte Naturforscher. Doch sie waren auch Konkurrenten, wetteiferten um Anerkennung und setzten sich gegenseitig bei jeder sich bietenden Gelegenheit herab. Manchmal ging es dabei ausgesprochen hitzig zu, und das bis zu ihrem Tod. Deshalb haben wir nicht gewagt, sie zusammenzulegen.«
Gray trat vor eine Vitrine, in die »Farquhar« eingraviert war. »Wie kam es zu dieser Rivalität? Dem Infotext zufolge hat Raffles Farquhar nach der Gründung der Stadt Singapur mit der Verwaltung betraut.«
»Aber Raffles hatte den Eindruck, sein Beauftragter nehme die Aufgabe auf die leichte Schulter. Unter Farquhars Verwaltung florierte der Sklavenhandel, der Genuss von Opium und andere Laster verbreiteten sich. Die Spannungen zwischen den beiden Männern nahmen von Jahr zu Jahr weiter zu. Schließlich beging Farquhar eine so abscheuliche Tat, dass Raffles ihn absetzte.«
Gray runzelte die Stirn. »Was hat er getan?«
»Man erzählte sich verschiedene Varianten, doch anscheinend war die gegenseitige Animosität am Ende so stark, dass Farquhar nach einem Vorwand suchte, seinen Rivalen aus der Region zu vergraulen. Angeblich hatte Raffles ein großes Geheimnis, doch niemand wusste, was es war. Um das Geheimnis zu lüften, warb Farquhar kriminelle Elemente an, hauptsächlich unter den Chinesen, die den Opiumhandel organisierten. Als Raffles davon erfuhr, entließ er Farquhar umgehend.«
Gray blickte Seichan an und hob triumphierend die Brauen. Dann wandte er sich wieder an Kwong. »Wissen Sie, was für ein Geheimnis das war?«
Der Kurator zuckte mit den Schultern. »Nein, aber Farquhar hatte gute Beziehungen zu den Chinesen, die ihm ein Abschiedsgeschenk machten, einen silbernen Becher im Wert von 700 Dollar, damals eine exorbitante Summe. Die Chinesen halfen ihm auch bei seiner Forschung und stellten ihm Künstler zur Verfügung, die für ihn über 500 Illustrationen anfertigten.« Kwong geleitete Gray zu einem Schaukasten. »Hier sehen Sie ein paar Beispiele.«
Gray beugte sich vor und betrachtete die bunte Darstellung eines Vogels. »Wenn Farquhar über Raffles’ Geheimnis Bescheid wusste, dann bestimmt auch die Chinesen.«
»Das könnte ich mir vorstellen, doch es kam nie ans Licht.«
»Zumindest bis jetzt noch nicht«, murmelte Gray.
Kwong sah ihn an. »Wie bitte?«
»Nichts.« Gray richtete sich auf. »Wann hat sich das zugetragen?«
»Im Jahr 1823.«
Gray blickte den Kurator überrascht an. »Im selben Jahr wurde das Museum gegründet.«
»Das ist richtig.«
»Wen hat Raffles zum Nachfolger von Farquhar bestimmt? Zum Verwalter der Stadt und zum Museumsleiter.«
»Einen Arzt namens Dr. John Crawfurd.«
»Einen Arzt?«
»Und angehenden Naturforscher. Crawfurd hat für Raffles gearbeitet, als er Vizegouverneur von Java war.«
Seichan kam näher.
Gray und seine verflixten Ahnungen …
Gray fixierte Kwong. »Dann war Crawfurd also zusammen mit Raffles in Java, als der Tambora 1815 ausgebrochen ist.«
Kwong legte die Stirn in Falten. »Das mag wohl sein. Das muss ein furchtbares Erlebnis für die beiden Männer gewesen sein.«
Gray blickte Seichan an. »Dann hoffen wir, dass es sich nicht wiederholt.«
Gray fuhr mit Seichan und Kwong im Fahrstuhl nach oben. Mit einer Magnetkarte hatte ihnen der Direktor Zutritt zu den fünf nicht öffentlichen Etagen über den beiden öffentlichen verschafft. Sie waren unterwegs ins Zentrum des Museums.
Gray dachte über das Rätsel nach. Hatten Raffles und Crawfurd beim Ausbruch des Tambora eine Entdeckung gemacht, in die Farquhar später seine chinesischen Mitverschwörer eingeweiht hatte? Was immer es gewesen sein mochte, damals hatte es keinen Sinn ergeben, denn Farquhar hatte nie darüber geredet. Die Chinesen auch nicht, doch sie waren berühmte Archivare. Offenbar hatte der Gegenstand 200 Jahre überdauert. Raffles hatte schließlich Dr. John Crawfurd, einen guten Freund, damit beauftragt, ihn aufzubewahren und in dem Museum zu verstecken, das einmal seinen Namen tragen sollte.
Was war so wichtig gewesen, dass man eine solche Geheimhaltung für angebracht gehalten hatte?
Der Aufzug öffnete sich zischend in der dritten Etage, und Kwong geleitete sie zu einer Tür, die er mit der Magnetkarte entsperrte. Ein durchdringender Geruch schlug Gray entgegen. Vor ihnen erstreckten sich Regale, in denen sich Glasgefäße mit konservierten Tieren in unterschiedlicher Größe aneinanderreihten.
Kwong zog sie mit sich. »In den ersten beiden nicht öffentlichen Etagen ist unsere Nasssammlung untergebracht, die in Ethanol konservierte Wirbellose und Wirbeltiere umfasst.«
Gray hatte den Ursprung des Geruchs ausgemacht. Ein Forscher mit einer Gesichtsmaske hatte sich über einen Tisch gebeugt und untersuchte eine zusammengerollte gestreifte Schlange, die er einem offenen Gefäß entnommen hatte. Über ihm summte eine Abzugshaube, die den verdunstenden Alkohol jedoch nicht vollständig aufzufangen vermochte.
Kwong geleitete sie zu einem Regal und blieb vor einer Reihe kleiner Gefäße stehen, die älter wirkten als die anderen. Die handbeschrifteten Etiketten waren verblasst und lösten sich ab. In den Flaschen waren kleine Krabben, manche nicht größer als ein Daumennagel.
»Sie interessieren sich für die Geschichte unseres Museums«, sagte der Kurator. »Diese Krustentiere wurden von einem Schiff der Königlichen Marine – der HMS Alert – im Jahr 1881 am Strand von Singapur gesammelt. Doch sie wirken so frisch wie am ersten Tag.«
»Beeindruckend.« Gray beugte sich vor, dann richtete er sich auf und sah Kwong an. »Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?«
»Schwer zu sagen. In der Anfangszeit des Museums bekam das Museum viele Exemplare von Privatpersonen. Sie stammten von Forschern und Abenteurern oder wurden von Einheimischen an die Singapore Institution verkauft. Häufig mit spärlichen Herkunftsangaben. Zudem haben sich viele Etiketten inzwischen zersetzt.«
Gray blickte Seichan an, die sich im Hintergrund hielt. Mit angewiderter Miene betrachtete sie die eingelegten Exemplare.
Kwong geleitete sie zur anderen Seite des Raums, wo eine Tür zum Treppenhaus führte. Sie stiegen weiter in die Höhe.
Gray ging neben dem Direktor her. »Stammen auch einige der historischen Exemplare von Stamford Raffles?«
»Natürlich. Ein paar sind unten in der historischen Abteilung ausgestellt.«
»Ja, aber keins davon datiert von 1823, dem Jahr, als das Museum gegründet wurde.«
»Ja, diese Schätze verwahren wir in einem Tresorraum.«
»Tatsächlich? Sie haben sie noch? Ich würde sie gern sehen.«
»Wenn Sie möchten, beenden wir dort unseren Rundgang. Die dort verwahrten Exemplare haben keinen großen wissenschaftlichen Wert. In der großen Sammlung haben wir bessere Präparate. Sie werden einfach nur wegen ihres Alters weggeschlossen. Ich hoffe, Sie werden nicht enttäuscht sein.«
Ich auch.
Auf der nächsten Etage geleitete Kwong sie in ein weitläufiges Labyrinth hoher Metallschränke, die dicht nebeneinander angeordnet waren und massive Wände bildeten. Die Schränke waren mit Rollen ausgestattet und konnten entlang einer Schiene seitlich verschoben werden.
Kwong winkte sie weiter. »Das hier ist unsere Trockensammlung. Die Schränke sparen eine Menge Platz. Darin befinden sich Tausende von Regalen, auf denen die Präparate getrocknet werden.«
Sie kamen an einem Raum vorbei, in dem Forscher Insekten auf Tafeln hefteten. Kwong schilderte die verschiedenen Methoden zum Trocknen, Tiefgefrieren und Konservieren der Exemplare. Gray ließ ihn reden, denn er wollte ihn nicht unter Druck setzen, da er sonst womöglich misstrauisch geworden wäre.
Doch die Uhr tickte.
»Befindet sich der Tresorraum mit den historischen Schätzen, den Sie erwähnten, auch auf dieser Ebene?«, fragte Gray.
Kwong sah ihn an. »Nein, über uns liegen Büros und ein Forschungslabor.« Der Direktor musterte Gray aufmerksam. »Und unser historischer Tresor.«
Gray sah auf die Uhr, nicht um die Zeit abzulesen, sondern um Kwong zu bedeuten, dass der Rundgang allmählich enden könnte.
Die Botschaft kam an. »Ich bringe Sie gleich dorthin.«
Er wandte sich abrupt zur Treppe und wäre beinahe mit einer kleinen Forscherin zusammengestoßen, die ein Kartontablett mit einer großen fixierten Spinne in Händen trug.
»Maafkan saya« , entschuldigte er sich auf Malaiisch bei der jungen Frau.
Sie warf das Tablett beiseite, darunter kam eine Pistole zum Vorschein. Sie rammte die Waffe Kwong in die Rippen. Auch die anderen Forscher im Raum zückten Waffen. Hinter ihnen näherte sich Stiefelgetrappel.
Die Frau funkelte Gray und Seichan an.
Sie hatte dunkles, kurzes Haar, rauchgraue Augen und einen mandelfarbenen Teint. Gray wusste, das alles war ein Fake. Im Geiste entfernte er Perücke, Make-up, Kontaktlinsen und das Latex, mit dem sie ihre Wangenknochen verbreitert hatte. Zum Vorschein kam ein blasses Gesicht, eine leere Leinwand, auf der sie ihre Verkleidung aufgebaut hatte.
»Ich glaube, der Rundgang ist hier zu Ende«, sagte Valya.