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23. Januar, 14:22 ICT
Phsar Réam, Kambodscha

Kapitän Tse Daiyu war entschlossen, ihre Kompetenzen zu verteidigen. Sie hatte viel Zeit und Energie darauf verwandt, auf kambodschanischem Boden eine Forschungseinrichtung aufzubauen, und wollte nicht, dass eine andere militärische Abteilung das Kommando übernahm. Wenn man sie ausbootete, wäre dies ein Makel in ihrem Lebenslauf, und sie wäre entehrt.

Gleichwohl erwartete sie den Astrophysiker in respektvoller Haltung. Sie stand hinter ihrem Schreibtisch, als die Sekretärin den Mann in ihr Büro geleitete. Sie begrüßte ihn mit einem angedeuteten Senken des Kopfes. »Willkommen in Kambodscha, Dr. Choi.«

»Xiexie nin« , antwortete er förmlich und ging zu dem Stuhl, den sie ihm anbot.

Als man sie über das Eintreffen des Forschers informierte, hatte Daiyu sich über den Besucher schlaugemacht. Choi Aigua war Ende sechzig, also zwanzig Jahre älter als sie, und hatte den größten Teil seines Lebens über in der Volksbefreiungsarmee gedient, hauptsächlich im Kosmodrom Jiuquan, von dem aus die chinesischen Taikonauten in den Weltraum starteten. Er hatte den Rang eines zhongjiang , eines Generalleutnants, innegehabt, bevor er in den Ruhestand gegangen war. Seitdem war er Berater der Akademie für Weltraumtechnik.

Und jetzt ist er hier.

Sie wartete, bis er saß, dann nahm auch sie wieder Platz. Auf einmal war sie sich der einfachen Einrichtung ihres Büros bewusst. Hinter dem nüchternen Stahlschreibtisch mit Desktoprechner und ordentlich gestapelten Akten standen zwei Schränke und in der Ecke ein dritter Stuhl. Daiyu empfing selten Besucher in ihrem Büro. Ein Stück den Flur entlang war ein Raum für Arbeitsbesprechungen.

Das einzig Bemerkenswerte in ihrem Büro war das große Fenster, das auf das Dock des Lagerhauses hinausging.

Aigua räusperte sich. »Ich bedaure die Unannehmlichkeiten, Kapitän Tse. Und ich möchte Ihnen dafür danken, dass ich meinen Sohn mitbringen durfte.« Er deutete auf den jungen Mann, der am Schreibtisch der Sekretärin lehnte, den Hut in der Hand. »Xue ist Major bei der Strategischen Unterstützungstruppe.«

Sie nickte. Der Stolz auf seinen Sohn war nicht zu überhören. Offenbar war er in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte dank dessen Protektion früh Karriere gemacht. Das ärgerte sie, denn für sie war es schwer ­gewesen, zum Kapitän aufzusteigen.

Trotzdem ließ sie sich nichts anmerken. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Sohn und ich haben uns die Toten angeschaut, die von der Changzheng 24 geborgen wurden. Die Marine und die Strategische Unterstützungstruppe verfolgen in dieser Angelegenheit das gleiche Ziel.«

»Inwiefern?«, stellte sie die Frage, die sie den ganzen Tag schon beschäftigte. Mit ihren Nachforschungen war sie nicht weitergekommen. »Wieso interessiert sich die Raumfahrtbehörde dafür?«

»Weil wir die Changzheng 24 ins Verderben geschickt haben.«

Daiyu vermochte ihre Überraschung nicht zu verhehlen. »Das … das habe ich nicht gewusst.«

»Nur wenige Personen der Armee waren eingeweiht. Die meisten glaubten, das U-Boot unternehme eine Testfahrt.«

Ihre Kiefermuskeln spannten sich an, doch sie behielt einen ruhigen Ton bei. »Das hat man mir gesagt.«

»Und jetzt werden Sie die Wahrheit erfahren.«

»Und wie sieht die aus?«

»Die Changzhen 24 hatte den Auftrag, ein anomales Funksignal zu untersuchen, das aus dem Tiefseegraben kam, in dem sie schließlich gesunken ist. Sie hatte zahlreiche Drohnen an Bord, außerdem autonome ROV s, die Sie entwickelt haben, als Sie das Forschungsschiff Zhu Hai Yun gebaut haben.«

Sie straffte sich, stolz auf ihre Errungenschaft. Allerdings verspürte sie auch eine gewisse Beklommenheit. Wenn etwas mit einer meiner Drohnen schiefging, wird man mir dann die Schuld an der Havarie geben?

Vorsichtig fragte sie: »Wonach haben Sie gesucht?«

Aigua schlug die Augen nieder. Offenbar legte er sich seine Antwort zurecht. »Kapitän Tse, was wissen Sie über das Chang’e-Projekt, die Mondmission von 2020?«

Daiyu reagierte verdutzt auf den abrupten Themenwechsel. »Ich weiß nur, dass das Raumschiff zum Mond geflogen ist und Gesteinsproben zurückgebracht hat.«

Aigua seufzte. »Dann wissen Sie vieles nicht – vielmehr können Sie es nicht wissen. In den Nachrichten wurde gemeldet, die Chang’e-5 sei in einem alten Lavameer am Nordrand des Mondes gelandet, in einer Region, die ­Oceanus Procellarum genannt wird. Die Sonde hat mit ihrem ­Bohrer zwei Kilogramm Basalt gefördert. Das war die erste Gesteins­probe vom Mond seit 45 Jahren.«

Daiyu runzelte die Stirn; sie verstand noch immer nicht, was das mit dem gesunkenen U-Boot zu tun hatte.

»Das Ziel der Mission war, Erkenntnisse über die Entstehung des Mondes zu gewinnen«, fuhr Aigu fort. »Bislang nahm man an, der Mond sei entstanden, als ein marsgroßes planetarisches Objekt, Theia genannt, vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren mit der jungen Erde zusammenstieß. Das Auswurfmaterial, ein Gemisch aus Gestein, Gas und Staub, habe sich zu einem heißen Magmaball verdichtet, der schließlich abgekühlt sei.«

»Ich sehe nicht, was das …«

Aigu fiel ihr ins Wort. »Die von Chang’e-5 gesammelten Gesteinsproben ergaben, dass sie sehr langsam abgekühlt waren. Daraus folgerte, dass der Mond sehr viel länger vulkanisch aktiv war, als man angenommen hatte. Darauf konnten sich die Wissenschaftler keinen Reim machen. Wenn der Mond so lange heiß war, muss es eine unbekannte Wärmequelle gegeben haben – einen Faktor oder einen Prozess, der die Abkühlung hinausgezögert hat.«

»Zum Beispiel?«

»Es gibt viele Theorien.« Aigua zuckte mit den Schultern. »Das Rätsel ist noch nicht gelöst. Manche Wissenschaft­ler meinen, bei der Wärmequelle könnte es sich um Uran oder Thorium gehandelt haben. Die gesammelten Gesteins­proben schlossen diese Möglichkeit allerdings aus.«

»Was war dann die Ursache?«

»Ich habe eine eigene Theorie, die ich seit der Rückkehr der Sonde zu erhärten suche.«

»Schließt das die Entsendung eines U-Boots ins Verderben ein?«, fragte Daiyu mit einem Anflug von Bitterkeit. Sie hatte bereits mit Wissenschaftlern zu tun gehabt, die zu sehr auf eine Idee fixiert gewesen waren, um größere Zusammenhänge zu erkennen. »Welche Entdeckung auf dem Mond könnte eine solche Mission rechtfertigen?«

»Eine Entdeckung, welche die Welt verändern könnte«, entgegnete Aigua kühl. »Wir haben Gesteinsproben in ganz China herumgereicht, doch die aufregendsten Teile waren den Labors der strategischen Kräfte vorbehalten.«

»Was für Teile?«

»Spuren von Staub. Wir haben eine Weile gebraucht, um diese exotischen Partikel auszusortieren. Auf den ersten Blick handelte es sich um gewöhnlichen Basalt, eine Mischung aus Silikaten und Metalloxiden. Die Partikel befanden sich jedoch im Zustand radioaktiven Zerfalls und waren aus anderen Isotopen zusammengesetzt als das übrige Gestein. Auch die Kristallstruktur war ungewöhnlich.«

Daiyu dachte an die eigentümlichen Kristalle auf dem Monitor von Dr. Luo Heng, welche die Zellen der U-Boot-Fahrer befallen hatten, doch sie verkniff sich eine Bemerkung.

Aigu hob eine Aktentasche hoch, stellte sie sich auf den Schoß und öffnete sie. Während er darin wühlte, fuhr er fort: »Lange Zeit wurde angenommen, der Mond habe sich aus Material von Theia geformt, dem Planetoiden, der die Erde getroffen hat. Doch aufgrund isotopischer Studien wissen wir inzwischen, dass Mond und Erde aus dem gleichen Material bestehen.«

Daiyu ahnte, worauf er hinauswollte. »Sie glauben, der exotische Staub, den Sie entdeckt haben, bestehe aus anderen Isotopen.«

Aigua nickte. »Es ist zwar klar, dass die Mehrheit des Mondes aus Erdmaterial besteht, doch ich glaube, dass darin auch ein kleiner Teil des Planetoiden Theia enthalten ist.«

»Sie glauben, die exotischen Partikel stammen von Theia.«

»Genau. Sie unterscheiden sich in der elementaren Zusammensetzung und sind so stark radioaktiv, dass es sich dabei um die unbekannte Wärmequelle handeln könnte, welche die Abkühlung des Mondes hinausgezögert hat.«

Daiyu schüttelte den Kopf. »Das ist sicherlich interessant, doch es erklärt nicht, weshalb Sie nach Kambodscha gekommen sind.«

»Ich bin hier, weil die exotischen Partikel beweisen, dass nicht nur der Mond Teile von Theia enthält, sondern dass sich große Brocken des Planetoiden auch an anderer Stelle finden.«

»Wo?«

»Hier auf der Erde. Direkt unter unseren Füßen.« Er fixierte Daiyu. »Und sie könnten unseren Untergang herbeiführen.«

14:44

Dr. Luo Heng atmete schwer durch die Schutzmaske. Er stand zusammen mit Zhao Min in der isolierten Leichenkammer. Die schmalgliedrige Frau war eine Kollegin, eine Molekularbiologin von der Universität Schanghai. Sie hatten fünf gemeinsame Forschungsarbeiten veröffentlicht. Als er mit dieser monumentalen Aufgabe betraut worden war, hatte er sie angeworben.

Jetzt verspürte er einen Anflug von schlechtem Gewissen. Veröffentlichungen würden bei dieser geheimen Forschung keine herausspringen. Sie hatten beide eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet. Bei einem Verstoß würde es nicht bei einer Geld- oder Gefängnisstrafe bleiben. Vermutlich würden sie beide unter der Erde landen.

Und das könnte selbst dann passieren, wenn wir uns an die Vereinbarung halten.

Er verdrängte seine Ängste und schob eine weitere Elektrode in den Occipitallappen des Gehirns, das er und Min dem Schädel entnommen hatten.

Junjie zeichnete alles mit einer Handkamera auf. Der groß gewachsene Unterleutnant passte nur mit Mühe und Not in den Schutzanzug. Trotz der Klimatisierung glänzte sein Gesicht von Schweiß. Seine Augen wirkten glasig, der Mund verkniffen, als kämpfte er gegen Übelkeit an.

Man hatte ihn gezwungen, beim Sezieren des schwarzen Leichnams zuzusehen, an dem sie tags zuvor bereits die Kraniotomie durchgeführt hatten. Heng hatte ihn auf den Bauch gewälzt und zwei Stunden gebraucht, um den Hinterkopf zu öffnen und das Rückgrat freizulegen. Dann hatte er vorsichtig das Gehirn und das Rückenmark mit zahlreichen intakten Nervensträngen entnommen. Als die Knochen entfernt waren, ließ sich das spröde, verkalkte Fleisch sauber vom Nervengewebe lösen. Wie die Schale eines hart gekochten Eis , hatte er kommentiert.

Junjie hatte gehustet und sich die Hand auf den Bauch gelegt.

Nachdem er eine weitere Elektrode eingeführt hatte, richtete Heng sich auf und betrachtete sein Werk. Gehirn und Rückenmark waren vollständig und lagen in einer Plastikwanne mit Salzlösung. Um ein EEG machen zu können, musste das Gewebe vom Stahltisch isoliert werden. Insgesamt dreißig Nadeln steckten in Gehirn und Rückenmark.

»Das war die letzte«, verkündete Heng.

Min nickte und befestigte winzige Klemmen an den letzten beiden Elektroden. Kabel führten zu einem tragbaren EEG -Gerät. Schulter an Schulter warteten sie darauf, dass es auf Betriebstemperatur kam.

Heng bemerkte, dass Min sich an ihn lehnte. Er wusste, dass sie nicht nur ein akademisches Interesse an ihm hatte. Ihre Zuneigung hatte bei ihrer Entscheidung, nach Kambodscha zu gehen, vermutlich den Ausschlag gegeben. Dass er ihre Gefühle nicht erwidern konnte, verstärkte seine Schuldgefühle. Er hatte sie über seine sexuelle Orientierung im Unklaren gelassen. In der akademischen Welt, zumal jetzt, nach der Übergabe von Hongkong an China, konnte zu viel Offenheit eine Karriere beenden. Deshalb spielte er die Rolle, die man von ihm erwartete.

Leuchtende Linien überlagerten sich auf dem Monitor. Das Bild flackerte kurz, als das System einsatzbereit war. Die Linien bildeten Zacken aus, doch die Amplituden waren niedrig.

Genau wie gestern.

»Es ist noch aktiv«, flüsterte Heng. »Eigentlich müsste die elektrische Aktivität längst abgeflaut sein. Ohne Blut- und Sauerstoffversorgung sollte das eigentlich unmöglich sein. Ich kann es mir nicht erklären.«

»Könnte es sein, dass die Ströme von elektromagnetischer Strahlung der Station herrühren?«, sagte Min. »Die Techniklabors über uns verbrauchen bestimmt eine Menge Strom.«

Heng schüttelte den Kopf. »Nein. Unser Labor ist abgeschirmt. Und sehen Sie sich mal das Muster an. Die Rhythmen und Wellen ähneln viel zu sehr normaler Gehirnaktivität.« Er fuhr mit dem Finger an einem Kabel entlang. »Das sind eindeutig Alpha-, Delta-, Beta- und Gammawellen. Interferenzen sind als Ursache ausgeschlossen.«

Min beugte sich weiter vor. »Wonach suchen wir dann?«

Heng schaute auf den Monitor. Er wollte sich ans Kinn fassen, stieß aber gegen den Gesichtsschutz. Er senkte den Arm. »Das weiß ich auch nicht, zumal das Signal so schwach ist. Doch es scheint so, als hätten die Alphawellen abgenommen und die Theta- und Gammawellen zugenommen.«

»Und was bedeutet das?«

»Das Gehirnwellenmuster gleicht dem eines Koma-Patienten.«

Min sah ihn an. »Stabsbootsmann Wong fiel ins Koma, als die Körpertemperatur zu sehr anstieg. Diese Männer haben vor ihrem Tod bestimmt gelitten. Könnte es sich hier um eine Art Geisterabbild der Ereignisse handeln? Um ein Muster, das sich ins Gehirn eingebrannt und den Tod irgendwie überdauert hat?«

»Wenn es so wäre, müssten die Neuronen mit Sauerstoff versorgt werden. Das, was hier vorgeht, ist zu bedeutsam, um es zu ignorieren.«

Er hatte vorgehabt, mit einem Mikrotom dünne Schnitte des Gehirns anzufertigen und das Gewebe zu untersuchen, um herauszufinden, weshalb das Zentralnervensystem von der Kalzifizierung ausgespart worden war. In Anbetracht der elektrischen Aktivität stellte er das Vorhaben jedoch einstweilen zurück.

Zunächst wollte er etwas anderes probieren.

»Ich möchte wissen, was passiert, wenn wir dem ­Gewebe Energie zuführen.« Er wandte sich an Junjie. »Würden Sie Schwester Lam bitten, uns den Pulsgenerator zu bringen, der an Wongs Bett steht?«

Der Unterleutnant nickte und entfernte sich, offensichtlich erleichtert.

Auch das tragbare EEG -Gerät stammte aus dem Raum. Damit hatten sie Wongs komatösen Zustand überwacht. Heng hatte auch einen Neurostimulator angefordert. Pulsgeneratoren wurden bei der Behandlung neurologischer Krankheiten und komatöser Zustände eingesetzt. Bei Wong hatte sich allerdings keine Wirkung gezeigt.

Heng schaute die abgedeckten Präparate an, die aussahen, als habe ein verrückter Akupunkteur sie mit Nadeln gespickt.

»Was erhoffen wir uns von der Tiefenstimulation des Gehirns?«, fragte Min.

»Wenn es sich um Ghosting handelt, wie Sie vorgeschlagen haben, sollte ein Stromstoß das Muster löschen. Wenn es sich aber wirklich um ein Koma-Muster handelt, könnte die Neurostimulation den Rhythmus möglicherweise normalisieren.«

Junjie passte die Krankenschwester an der Luftschleuse ab und kam mit dem Pulsgenerator zurück. Lose Kabel hingen davon herab. Heng nahm ihn entgegen und verband die Kabel mit den Hirnelektroden.

Als er fertig war, schaute er aufs EEG . Es zeigte noch immer schwach ausgeprägte Wellen und Zacken. Er verstellte den Regler des batteriebetriebenen Neurostimulators. »Ich beginne mit der niedrigsten Einstellung.«

Min sah auf den Monitor.

»Los geht’s.« Heng drückte auf einen Knopf, dann blinkte zwei Sekunden lang ein Lämpchen und wurde dann rot. Er blickte Min an. »Sieht man schon was?«

Sie zeigte auf die gezackten Linien, die den Stromstoß verzeichneten. »Noch einen Moment.«

Die Linien glätteten sich rasch. Es war kaum ein Unterschied zum vorigen Zustand zu erkennen. Der Stromstoß hatte weder das Muster gelöscht noch das normale Muster wiederhergestellt. Der einzige Unterschied war eine leicht erhöhte Amplitude.

Heng wählte eine mittlere Einstellung. »Ich erhöhe die Stromstärke.«

Er drückte den Knopf und wartete, bis das grüne Lämpchen rot wurde, dann sah er Min an. Das Ergebnis war das gleiche wie zuvor. Keine signifikante Veränderung, lediglich größere Ausschläge der Wellen wie bei einem aufgewühlten Meer.

»Ich gehe auf volle Leistung«, sagte er und drehte den Regler bis zum Anschlag. »Und los.«

Er drückte den Knopf – und die Hölle brach los.

15:02

Daiyu schaute Aigua mit großen Augen an. »Glauben Sie wirklich, im Erdreich seien große Teile des Planetoiden zu finden?«

»Einen Moment«, sagte der Astrophysiker. Er wühlte in seiner Aktentasche, holte ein Tablet hervor und entsperrte es mittels Daumenabdruck. Während er wischte und tippte, sagte er: »Seit den Siebzigerjahren wissen wir von der Existenz zweier amorpher Gebilde in der zähflüssigen Schicht des Erdmantels. Sie wurden mithilfe seismischer Tomografie identifiziert. Dabei zeigte sich, dass Erdbebenwellen sich verlangsamen, wenn sie diese Regionen durchlaufen. Wissenschaftler sprechen von großen Provinzen mit niedriger Schergeschwindigkeit oder LLSVP s. Wegen ihrer Form bezeichnet man sie auch als Klumpen

Aigua beugte sich vor und legte das Tablet auf den Schreibtisch. »Diese Klumpen haben die Größe von Kontinenten und sind hundert Mal so hoch wie der Mount Everest. Der eine befindet sich unter Afrika.«

Er öffnete eine Grafik, die unter dem afrikanischen Kontinent ein amorphes Gebilde zeigte.

»Eine weitere LLSVP befindet sich an der anderen Seite der Welt«, erklärte Aigua. »Unter dem Pazifik, und ihr Rand reicht bis in diese Region.«

Er wischte über das Display und drehte die Weltkugel, bis Australien und Südostasien angezeigt wurden. Unter dem Pazifik zeichnete sich ein zweiter kontinentgroßer Schatten ab.

Nachdem Daiyu sich die Grafik angeschaut hatte, richtete sie sich auf. »Sie glauben, die beiden Klumpen stammen vom Planetoiden Theia?«

»Nicht nur ich. Das entspricht der Mehrheitsmeinung der wissenschaftlichen Gemeinde. Die neueste geodynamische Untersuchung hat die Annahme weiter untermauert.«

Daiyu lehnte sich zurück und versuchte, sich die in den Erdmantel eingelagerten Bruchstücke eines fremden Himmelskörpers vorzustellen. »Sie erwähnten, von den Klumpen könne eine Gefahr ausgehen, die unseren Untergang herbeiführen könnte. Wie das?«

»Ob die LLSVP s tatsächlich von Theia stammen oder nicht, sei dahingestellt, doch es ist bekannt, dass sie eine tektonische Instabilität verursachen, insbesondere an den Rändern. Der afrikanische Klumpen war in der Vergangenheit für starke vulkanische Aktivität verantwortlich. Die von unten drückende Masse ist auch der Grund, weshalb der Kontinent langsam aufsteigt.«

Aigua zeigte auf die Grafik. »Die pazifische LLSVP ist gleichermaßen problematisch. Sie ist einer der Hauptverursacher des vulkanischen Feuerrings um den Pazifik. Im Verlauf der Erdgeschichte haben die Klumpen Millionen Kubikkilometer Lava in Form riesiger Blasen nach oben gedrückt. Man nimmt an, dass eine solche Blase das Große Aussterben gegen Ende des Perms verursacht hat, bei dem der größte Teil des Lebens auf dem Planeten ausgelöscht wurde. Auch heute noch stellen diese Klumpen geologische Zeitbomben dar. Besonders dann, wenn sie gestört werden.«

»Wie kann man einen kontinentgroßen Brocken eines Planetoiden stören?«

»Deshalb bin ich hier. Denn genau das haben wir getan.«

»Was? Wodurch?«

»Das möchte ich herausfinden. Wenn wir die Antwort finden, könnte das zu einer Waffe führen, die das Nukleararsenal der Welt in den Schatten stellt. Das würde die Dominanz Chinas für Jahrhunderte zementieren.«

Daiyu schaute skeptisch drein.

»Als Chang’e-5 die Mondoberfläche anbohrte, brach vorübergehend der Satellitenkontakt mit der Sonde ab. Als er wiederhergestellt war, hatte der Bohrer gestoppt und war scheinbar funktionsuntüchtig. Der Öffentlichkeit teilten wir mit, wir seien auf eine Schieferschicht gestoßen, die eine tiefere Bohrung unmöglich machte, doch das war nicht der Grund. Als wir den Bohrer nach der Rückkehr der Sonde untersuchten, stellte sich heraus, dass die Elektronik geschmolzen war.«

»Was war geschehen?«

»Das wissen wir nicht. Doch zur gleichen Zeit, als es passierte – und wir brauchten Jahre, um zu erkennen, wie bedeutsam das war –, haben wir ein schwaches Funksignal detektiert. Es wurde von unserem Sensorarray in den Dabie-Bergen in Huazhong empfangen. Damals stuften die Techniker das Signal als unwichtig ein, vor allem, da es nur ein paar Sekunden andauerte. Sie schrieben es Interferenzen zu.«

Daiyu runzelte die Stirn. Sie kannte die Anlage. Sie diente zum Senden und Empfangen langwelliger elektromagnetischer Wellen, die Wasser und Gestein zu durchdringen vermochten und die Kommunikation mit getauchten U-Booten ermöglichten. Im Jahr 2019, kurz nach Fertigstellung, hatte sie die streng geheime Einrichtung besichtigt.

»Xue, mein Sohn, hat den Zusammenhang zwischen dem Funksignal und dem Problem der Mondsonde erkannt«, fuhr Aigua fort. »Er ist an der Entwicklung von Chang’e-6 und -7 beteiligt. Er hat alle Ereignisse im zeitlichen Umfeld des Kontaktabbruchs und dem Ausfall des Bohrers von Chang’e-5 untersucht, weil er hoffte, die Ursache des Versagens herauszufinden und diesen Fehler bei zukünftigen Missionen vermeiden zu können.«

»Weshalb glaubte er, das Signal sei bedeutsam, obwohl die Techniker des Arrays es bereits verworfen hatten?«

»Aus zwei Gründen. Erstens wegen seines Ursprungs . Auch andere Radioteleskope und Antennen hatten das Signal empfangen. Deshalb konnten wir die Emission lokalisieren. Das Signal wurde nördlich von Neuseeland ausgesandt, von einer Stelle mitten im Meer. Dort befindet sich der Kermadec-Tonga-Graben. Und es konnte unmöglich von einem vorbeifahrenden Schiff stammen.«

»Warum nicht?«

»Wegen des zweiten Grundes. Das Signal war im ELF -Bereich, hatte also eine extrem niedrige Frequenz – wie Sie wissen, benötigt man zur Erzeugung einen großen Sender. So etwas gibt es nicht auf Schiffen.«

Sie nickte. Die Anlage in den Bergen erstreckte sich über 4000 Quadratkilometer. Die Dimensionen waren notwendig für die Erzeugung tieffrequenter Wellen.

»Deshalb haben wir die Changzheng 24 dorthin geschickt«, erklärte Aigua. »Sie sollte nach dem Ursprung des Signals suchen. Er muss gewaltige Ausmaße haben.« Er deutete auf den großen Schatten unter der Region. »Die Ausmaße eines Kontinents.«

»Sie glauben, das Signal sei von der LLSVP gekommen.«

»Das wollten wir herausfinden, als wir die Changzheng 24 losschickten. Es könnte sich um ein natürliches Phänomen handeln. Auch Blitze und Erdbeben erzeugen ELF -Wellen. Im vergangenen Jahr wurde getestet, ob das Array als Vorhersageinstrument für Erdbeben taugt.«

»Und was haben Sie im Graben herausgefunden?«

Aigua zuckte mit den Schultern. »Das ist es ja. Wir wissen es nicht. Als die Changzheng 24 sich über dem Graben befand, haben wir ein ELF -Signal ausgesandt, das dem entsprach, das 2020 aufgezeichnet wurde. Das U-Boot hat den Empfang bestätigt – dann brach die Verbindung ab.«

»Genau wie bei Chang’e-5.«

Aigua nickte. »Minuten später wurde ein starkes Seebeben registriert. Das Epizentrum lag nahe der zuletzt gemeldeten Position des U-Boots.«

Daiyu runzelte die Stirn. Allmählich verstand sie, weshalb Aigua von einer Waffe gesprochen hatte. »Wollen Sie damit sagen, das ELF -Signal habe das Beben ausgelöst?«

»Wir haben irgendetwas getan. Denn seitdem häufen sich die Beben an dieser Stelle. Sie werden stärker, reichen weiter und drohen, die ganze Region zu destabilisieren. Projektionen und Modellierungen deuten darauf hin, dass wir auf ein beispielloses apokalyptisches Ereignis zusteuern könnten.«

Daiyu vergegenwärtigte sich den Zustand der U-Boot-Fahrer und das Leiden des Unteroffiziers. In Aiguas Augen aber lag ein gieriges Funkeln.

Eine Waffe, die das Nukleararsenal der Welt in den Schatten stellt.

Der Mann hoffte, die Erdbeben ließen sich kontrollieren, damit man die kontinentgroßen Bruchstücke des Planetoiden in zerstörerische Waffen verwandeln könnte.

Sie nickte langsam. »Wenn in den Dokumenten Antworten zu finden sind …«

Aigua nahm das Tablet vom Schreibtisch. »Deshalb habe ich ein Einsatzteam damit beauftragt, die Artefakte in Singapur sicherzustellen.«

Ehe Daiyu etwas erwidern konnte, ertönte draußen ein Warnsignal.

Die Sekretärin und Aigus Sohn kamen herbeigeeilt. »Es gibt ein Problem im medizinischen Labor!«