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23. Januar, 15:20 ICT
Phsar Réam, Kambodscha

Dr. Luo Heng schaute aus der Schleuse in die Leichenkammer. Neben ihm stand Min. Junjie filmte zwischen ihren Schultern hindurch.

Hinter ihm auf dem Flur gellte ein Warnsignal. Heng hatte den Alarm ausgelöst, als er die Leichenkammer fluchtartig verlassen hatte. Mit dem Schleusentelefon hatte er Kommandantin Tse informiert.

»Filmen Sie weiter«, sagte Heng, als Junjie die Kamera sinken ließ. Heng wollte alles aufzeichnen, denn er traute seinen Augen nicht.

Das Gehirn und der Rückenmarksstrang lagen noch im Salzbad. Allerdings krümmte sich das Rückenmark. Aus dem Gehirn waren Hunderte dreißig Zentimeter lange Tentakel ausgetreten, die umherpeitschten.

Das Nervengewebe war zum Leben erwacht, ­nachdem Heng einen weiteren starken Stromstoß hindurchgejagt hatte. Daraufhin hatte Heng alle aufgefordert, sich in die Schleuse zu begeben, wo Glas und Stahl sie vor dem Grauen in der Leichenkammer schützten.

»Was geht da vor?«, keuchte Min.

Heng blickte aufs tragbare EEG -Gerät. Es war noch eingeschaltet. Die Kabel waren an den implantierten Elektroden befestigt. Auf dem Monitor zeigten sich wilde Ausschläge. Dergleichen hatte er noch nie gesehen, nicht einmal bei epileptischen Anfällen. Die Gehirnwellen überlappten und liefen wild durcheinander, als zeichnete das Gerät mehrere Signale gleichzeitig auf.

Über den Flur näherte sich das Geräusch von Schritten. Heng blickte sich über die Schulter um. Kapitän Tse tauchte im Fenster auf, ihre Miene ernst, das Gesicht gerötet. Sie hatte eine Pistole in der Hand. Flankiert wurde sie von zwei Männern, einem grauhaarigen Herrn im eleganten Anzug und einem jungen Mann in Armeeuniform mit Doppelstreifen und dem Stern eines Majors.

»Was ist los?«, rief Tse.

Heng schob Min zur Seite und machte ihr die Sicht in die Leichenkammer frei.

Junjie trat einen Schritt zurück und zuckte zusammen. »Sehen Sie!«

Heng wandte sich um. Drinnen hatte sich nichts verändert. Das Gehirn und der Rückenmarksstrang zuckten im Salzbad. Dann bemerkte auch er, was den Unterleutnant aufgeschreckt hatte.

Hinter dem verkabelten Tisch hatten die beiden kalzifizierten Toten auf den Metalltragen zu zittern begonnen. Der Schädel des vorderen Mannes war aufgeplatzt wie eine reife Melone. Tentakel hatten sich durch die Risse geschoben und peitschten umher. Die Spalte verbreiterten sich. Brocken versteinerten Gewebes fielen auf den Bo­den.

Das Gehirn quoll aus seinem Behältnis hervor wie ein Schmetterling aus der Puppe. Der graue Klumpen löste sich und fiel über die Tischkante, blieb jedoch in der Luft hängen, da er noch mit dem Rückenmarksstrang verbunden war. Weitere Tentakel traten aus und kräuselten sich über dem Gehirn.

Der andere Tote zitterte auf dem Tisch und platzte ebenfalls auf.

Im Salzbad hatte die Aktivität zugenommen. Der Rücken­marksstrang richtete sich auf wie eine Kobra und spaltete sich in drei Teile, die gegeneinanderpeitschten.

»Raus da!«, rief Kommandantin Tse in die Schleuse.

Heng rührte sich nicht vom Fleck, gebannt von dem Anblick. Min wich zurück, und Junjie packte Heng bei der Schulter und zerrte ihn vom Fenster weg. Seine Erstarrung löste sich.

Als er begriff, was Tse vorhatte, rief er: »Nicht!«

Tse beachtete ihn nicht. Sie drückte auf den großen roten Knopf an der Außenseite der Schleuse. Ein leises Zischen kam aus der Leichenkammer, gefolgt von einem dumpfen Tosen. Aus Öffnungen an der Decke schossen Flammen hervor. Die zwischen den Betonwänden eingeschlossene Hitze versengte die Innentür der Schleuse.

Heng legte schützend die Hand vor die Augen und wich zurück. Ein Hitzeschutz senkte sich über das Fenster und verwandelte die Leichenkammer in ein Krematorium.

Als die Flammen erloschen, blieb der Raum versiegelt.

Heng atmete keuchend hinter der Schutzmaske. In der Schleuse war es so heiß wie in einem Backofen. Bevor sie sie verließen, forderte er die anderen auf, ihre Schutzanzüge abzulegen. Sie ließen sie drinnen liegen, und Heng schloss hinter ihnen die Tür.

Dann blickte er Kommandantin Tse böse an. »Das war eine Überreaktion. Die Leichenkammer war ausreichend geschützt.«

»Das können Sie nicht wissen. Ich bin für die Sicherheit dieser Einrichtung verantwortlich. Solange nicht klar ist, womit wir es zu tun haben, werde ich äußerste Vorsicht walten lassen.« Sie richtete den Zeigefinger auf ihn. »Die Schäden hier sind Ihrer Unfähigkeit zuzuschreiben. Sie haben mich nicht ausreichend über die Toten informiert.«

Einer der Neuankömmlinge – der junge Mann in Uniform – fixierte Heng. Der Major war Ende zwanzig, sein dunkles Haar kurz geschoren. Sein Blick war zu intensiv, um ihn länger auszuhalten.

»Nicht alles wurde vom Feuer zerstört«, sagte er zu Heng. »Wir haben noch ein weiteres Objekt, das untersucht werden kann. Stabsbootsmann Wong.«

»Mein Sohn hat recht«, sagte der ältere Herr. »Nach allem, was wir gesehen haben, ist der U-Boot-Fahrer von äußerster Wichtigkeit. Wir müssen mit ihm sprechen.«

Heng blickte zwischen den beiden Männern hin und her. Erst jetzt fiel ihm auf, wie ähnlich sich die kräftigen Kinnpartien und die spitzen Wangenknochen waren. »Er liegt noch im Koma«, sagte Heng. »Aber Sie können ihn sich vom Hauptlabor aus ansehen.«

Er geleitete die Besucher in den Nebenraum, wo sie sich einander vorstellten. Der junge Mann – Major Choi Xue – blieb an seiner Seite. Tse unterhielt sich leise mit seinem Vater, einem ehemaligen Generalleutnant der strategischen Unterstützungskräfte der Volksbefreiungsarmee und jetzt Berater der chinesischen Weltraumbehörde.

Heng überlegte, was die Vertreter dieser Behörden hierhergeführt haben mochte. Min wechselte einen besorgten Blick mit ihm. Er knirschte mit den Zähnen. Jetzt tat es ihm leid, dass er sie in eine Angelegenheit hineingezogen hatte, die immer weitere Kreise zog. Er hatte das Gefühl, in Treibsand zu versinken.

Xue hatte seine Bestürzung anscheinend bemerkt. »Wir werden alles erklären, so gut wir können«, versprach er in ernstem Ton. »Vielleicht sollten Sie uns aber zunächst mitteilen, was Sie über dieses merkwürdige Phänomen wissen.«

Heng nickte. Er hatte noch immer Mühe, dem Mann in die Augen zu sehen. Er spürte, dass sich dahinter ein brillanter Verstand verbarg. Seine Vermutung bestätigte sich, als er berichtete, was sein Team herausgefunden hatte. Xue lauschte mit schief gelegtem Kopf, als präge er sich jede einzelne Silbe ein. Anders als Tse stellte er präzise Fragen, die auf ein intuitives Auffassungsvermögen schließen ­ließen.

Xue beugte sich zum Monitor vor und betrachtete die verschiedenen Formen polymorphen Karbonats. »Die Körper sind von Aragonit befallen.« Er deutete auf die ortho­rhombischen Kristalle. »Karbonat kristallisiert in Gegenwart von Meerwasser zu Aragonit. Deshalb glaube ich, dass die Männer nicht vor dem Einsatz mit einem Biotoxin vergiftet, sondern erst unterwegs infiziert wurden.«

Heng hob eine Braue. »Das ist auch meine Hypothese. Ein Pathogen aus dem Meer. Alles andere ergibt keinen Sinn.« Mit der Maus navigierte er durch die Dateien. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Ich habe bei Offizier Wong eine Stanzbiopsie der Haut durchgeführt und die Zellen anschließend vakuumgetrocknet, um das Muster der Kalzifizierung besser darstellen zu können. Mit dem Elektronenmikroskop zeigt sich Folgendes.«

Eine graue Kristallschicht wurde angezeigt. Es waren deutlich gewellte Ebenen zu erkennen.

Heng setzte zu einer Erklärung an, doch Xue kam ihm zuvor.

»Das ähnelt den Aragonitschichten, wie man sie in Muscheln findet«, sagte der Major.

Heng musterte ihn fragend. »Das kam mir auch in den Sinn. Molluskenschalen oder die kalzifizierten Skelette von Korallen. Die bestehen alle aus Aragonit.«

»Was die These vom Meeresursprung der Krankheit stützen würde.« Xue blickte zur Leichenkammer. »Es scheint so, als würde der Körper – das salzhaltige Blut, die kalzium­haltigen Knochen – als Mittel zur Ausbreitung benutzt. Die Knochen werden zu einem Exoskelett aus Aragonit, während das neurologische Gewebe als Nährmedium für etwas anderes dient.«

»Aber wofür? Und was ist die Ursache?« Heng musterte den Mann scharf. »Ich habe Ihnen alles mitgeteilt, was wir wissen. Was enthalten Sie mir vor?«

Xue erwiderte seinen Blick, dann senkte er das Kinn, als habe er einen Entschluss gefasst. »Einen Moment bitte.«

Der Major richtete sich auf und hob den Arm, um seinen Vater auf sich aufmerksam zu machen, der bei Kommandantin Tse stand. Sie redeten miteinander und beobachteten den reglosen Wong durchs Fenster.

Im Behandlungszimmer überwachte und pflegte Schwester Lam den komatösen Patienten. Die schwarze Verhärtung hatte sich weiter ausgebreitet und würde den Körper des Patienten in ein, zwei Tagen vollständig einhüllen.

Xue zuckte bei dem Anblick zusammen. »Weshalb lassen Sie ihn in dem Zustand?«

»Das war nicht meine Entscheidung. Wir haben ihn fünf Mal wiederbelebt. Auf Befehl von Kommandantin Tse.« Heng schüttelte den Kopf. »Der Umwandlungsprozess wird weitergehen, ob der Mann lebt oder nicht. Wir können ihn beobachten, auch ohne Wong dieser Qual auszusetzen.«

Der ältere Choi blickte endlich seinen Sohn an. Xue nahm einen USB -Stick aus der Tasche und hielt ihn hoch. Offenbar wollte er den Inhalt des Sticks nicht preisgeben, ohne zuvor die Erlaubnis seines Vaters einzuholen. Aigua nickte, denn er vertraute dem Urteil seines Sohnes.

Xue wandte sich an Heng und zeigte auf den Computer. »Darf ich?«

»Natürlich.«

Xue steckte den Stick in die Buchse. Die gespeicherten Dateien wurden angezeigt, und er klickte auf einen Ordner mit der Bezeichnung .

Heng runzelte die Stirn. Der Ordner trug den Namen des chinesischen Mondlandefahrzeugs Chang’e-5.

Xue öffnete eine Bilddatei. Es handelte sich um die Aufnahme eines scharfkantigen orthorhombischen Kristalls.

Der Durchmesser war mit fünf Mikrometer angegeben. Das entsprach der Größe eines Staubpartikels. »Ist das Aragonit?«

Xue nickte. »Shi. Mit der gleichen ungewöhnlichen kristallinen Matrix wie bei Ihren Proben.«

»Woher haben Sie das?« Heng wappnete sich für die Wahrheit, denn er ahnte, was der Name des Ordners bedeutete.

Xue bestätigte seine Befürchtung. »Der Mikrokristall stammt von Partikeln, die aus den Proben von Mondgestein isoliert wurden.«

Heng schluckte. Ihm lag der Hinweis auf der Zunge, das sei unmöglich, doch die Ereignisse, deren Zeuge er soeben geworden war, ließen sich nicht leugnen. »Womit haben wir es zu tun?«, murmelte er.

Xue schüttelte nur den Kopf.

Min näherte sich und lenkte sie beide ab. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Mit Unterleutnant Junjie stimmt etwas nicht.«

Beide Männer blickten zum Videofilmer hinüber, der gerade die Aufzeichnung aus der Leichenkammer auf den Rechner überspielte. Er schüttelte die eine Hand und wischte sie an der Hose ab. Die graue Verfärbung des Zeigefingers war selbst aus diesem Abstand zu erkennen.

Heng eilte hinüber. Min und Xue folgten ihm.

Er packte Junjie beim Handgelenk und hielt die Hand des Unterleutnants ins Licht. Der Zeigefinger war eindeutig verfärbt.

»Was soll das?«, fragte Jinjie.

»Wurde Ihr Schutzanzug in der Leichenkammer beschädigt?«

Junjie versuchte, ihm seinen Arm zu entziehen. »Hab mich mit einer der Elektroden gestochen.«

»Haben Sie anschließend einen der Toten berührt?«

Panik zeigte sich im Blick des Unterleutnants. »Ich … nein, da bin ich mir sicher. Vielleicht habe ich den Tisch berührt, auf dem Sie den Toten seziert haben. Mehr nicht.«

Xue wich zurück. »Er könnte mit Partikeln in Kontakt gekommen sein, die bei der Autopsie freigesetzt wurden.«

Heng krümmte den Zeigefinger und betrachtete ihn von allen Seiten. Die Spitze war deutlich dunkler, um den Einstich herum fast schwarz.

Inzwischen waren auch Kommandantin Tse und Aigua aufmerksam geworden.

»Was ist los?«, fragte Tse.

Heng betrachtete weiterhin den Finger. »Unterleutnant Junjie hat sich möglicherweise infiziert. Durch eine offene Wunde. Aber das verstehe ich nicht. Andere, die mit den Toten zu tun hatten, haben sich nicht angesteckt.«

Vor seiner Ankunft hatte Heng sich das Video von der Bergung der Leichen aus der Rettungskapsel angeschaut. Die Einsatzkräfte hatten nicht einmal Handschuhe getragen. Trotzdem war die Krankheit nicht auf sie übertragen worden.

Anschließend hatte Heng eine Reihe von Tests mit La­bor­mäusen durchgeführt und sie mit Blut, Speichel und Körpergewebe von Wong und den anderen Toten in Kontakt gebracht. Keines der Tiere war erkrankt. Das Ausbleiben einer Ansteckung machte es noch schwerer, die Ur­sache der Krankheit zu bestimmen.

Warum wurde jetzt Junjie infiziert?

Er dachte an das Grauen, das sich nebenan abgespielt hatte. Waren die Toten erst dann ansteckend geworden, als die neuronale Degeneration weiter fortgeschritten war? War Junjie mit Rückenmarksflüssigkeit in Kontakt gekommen, die das Pathogen enthalten hatte?

Xue schob sich an seinem Vater vorbei. Ganz auf das medizinische Mysterium konzentriert, hatte Heng nicht mitbekommen, dass Xue zur anderen Seite des Labors gegangen und wieder zurückgekehrt war. Jetzt hielt er eine Brandaxt in der Hand.

»Legen Sie seinen Arm auf den Tisch, und halten Sie ihn fest.«

Heng verstand und verstärkte seinen Griff um Junjies Handgelenk.

»Nein, nein, nein …«, jammerte Junjie.

»Es ist besser, einen Finger zu verlieren, als …« Heng wies mit dem Kinn zum Nebenraum. »Das infizierte Glied muss entfernt werden.«

Die Augen des Unterleutnants weiteten sich. Er hörte auf, sich zu wehren, und ließ zu, dass Heng seine Hand auf eine Arbeitsfläche drückte. Dann wandte er das Gesicht ab.

»Spreizen Sie die Finger so weit wie möglich«, sagte Heng.

Xue näherte sich von der anderen Seite und hob die Axt. »Holen Sie Schwester Lam«, befahl er Min. »Bereiten Sie einen Druckverband vor.«

Min eilte zur Schleuse.

Xue hob die Axt noch höher, holte tief Luft und ließ sie niederfallen. Die Axt durchschnitt Haut und Knochen – und trennte nicht bloß den Finger, sondern die ganze Hand ab.

Junjie schrie vor Schmerz und Entsetzen.

Heng umklammerte seinen Unterarm und versuchte, die Blutung zu stoppen. Fragend sah er Xue an.

Der Mann ließ die Axt sinken und variierte Hengs Worte: »Es ist besser, eine Hand zu verlieren, als …« Er nickte in Richtung Krankenstation.

Heng war übel, doch er ahnte, dass der Mann recht hatte.

Xue sah auf die abgetrennte Hand nieder. »Vielleicht war selbst diese Amputation nicht ausreichend.«

16:04

Kommandantin Tse Daiyu tigerte am Konferenztisch auf und ab und versuchte, ihrer Verärgerung und Frustration Herr zu werden. Die Bestürzung, mit der Heng die Neuigkeiten zum Defekt der Mondsonde, den exotischen Partikeln im Mondgestein, der Bedrohung durch die uralten Bruchstücke eines Planetoiden und den wahren Umständen der Havarie von Changzhen 24 aufgenommen hatte, bereitete ihr jedoch eine gewisse Genugtuung.

Xue ging zu technischen Details über, vermochte Daiyus Aufmerksamkeit jedoch nicht zu fesseln. Verstohlen musterte sie Major Chois Vater. Er stand auf dem Flur und sprach aufgeregt in sein Handy. Irgendetwas stimmte nicht. Sie schwelgte in seiner Betroffenheit, denn sie hatte den Eindruck, er sei zu sehr von sich eingenommen und zu stolz auf seinen Sohn, den er nach Kräften protegiert hatte. Die Unterhaltung drehte sich bestimmt ums aktuelle Thema.

Sie kniff die Augen zusammen.

Kann ich einen Vorteil daraus schlagen, wenn irgendwas nicht stimmt?

Unterleutnant Junjie befand sich in der Krankenabteilung. Man würde ihn überwachen und aufmerksam auf Anzeichen einer Infektion achten. Die abgetrennte Hand lag in einer Salzlösung und würde eingehend untersucht werden.

Das aber interessierte sie nicht mehr.

Große Umwälzungen fanden statt, und damit bot sich die Chance auf unvorstellbaren Ruhm.

Eine Bemerkung Aiguas kam ihr in den Sinn.

Eine Waffe, die das Nukleararsenal der Welt in den Schatten stellt.

Aigua ließ das Handy endlich sinken, stand eine Weile reglos da und kehrte dann in den Konferenzraum zurück. Alle Blicke wandten sich ihm zu, während Aigua in die Runde schaute.

»Das Einsatzteam aus Singapur hat sich gemeldet«, verkündete er. »Das Museumsartefakt wurde geborgen. Ein Metallkasten von 1823.«

Xue erhob sich. »Was befindet sich darin?«

Daiyu wusste, dass der junge Mann auf die historische Fährte gestoßen war. Seine Augen funkelten erwartungsvoll.

Aigua seufzte. »Nichts, was uns auf den ersten Blick weiterbringt. Darin war ein Korallenast. Vielleicht handelt es sich auch um einen versteinerten Finger , schwer zu sagen. Wir müssen das Objekt erst noch untersuchen.« Er fasste seinen Sohn in den Blick. »Aber es könnte deine Vermutung bestätigen, etwas Ähnliches habe sich schon einmal ereignet. Und zwar beim Ausbruch des Tambora.«

Xue trat einen Schritt vor. »War sonst nichts in dem Kasten?«

»Noch ein zweiter Gegenstand, der noch weniger Sinn ergibt.« Aigua runzelte die Stirn. »Dem Leiter des Einsatzteams zufolge handelt es sich um eine mit Schnur umwickelte bemalte Speerspitze aus Holz. Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Vielleicht ist das Objekt aber auch zufällig in dem Kasten gelandet.«

»Keine Dokumente?«, fragte Heng mit Blick auf Xue. »Ich habe das Museumsprotokoll gesehen, das Ihr Sohn entdeckt hat. Darauf war mehr aufgeführt als nur ein Kasten.«

Aiguas Miene verfinsterte sich. »Den Rest konnten wir nicht sicherstellen.«

»Wie das?«, fragte Daiyu. »Was ist passiert?«

»Amerikanische Agenten haben eingegriffen. Die Gruppe, die wir in der Nacht zuvor beseitigen wollten.«

»Dann sind sie der Sache also ebenfalls auf der Spur«, sagte Heng. »Wenn wir ihnen eine Zusammenarbeit anbieten würden …«

»Dafür ist es zu spät.« Aigua fixierte Daiyu. »Zu viel Blut wurde vergossen.«

Offenbar hielt er seinen ehrgeizigen Wunsch, von Dr. Luo eine neue Waffe zu bekommen, sogar vor seinem Sohn geheim.

Aigua fuhr fort. »Die Anführerin des Einsatzteams glaubt, sie verfüge über ein Druckmittel, um die US -Agenten zur Herausgabe der Dokumente zu bewegen. Eine Geisel, die sie zum Austausch anbieten will.«

»Wann soll das passieren?«, fragte Xue.

»Um Mitternacht. In Jakarta auf Java.«

»Wo Stamford Raffles Vizegouverneur war«, bemerkte Xue.

»Ich habe den Ort mit Absicht ausgewählt. Dort hat er die Artefakte während des Tambora-Ausbruchs gesammelt. Selbst heute noch ist Raffles mit Ausstellungsstücken in vielen Museen der Stadt vertreten. Ich glaube, die Nähe zum Ausgangspunkt könnte sich als wertvoll erweisen.« Aigua wandte sich an seinen Sohn. »Deshalb möchte ich, dass du, Xue, den Austausch vornimmst.«

Xue nickte. »Gern.«

»Und ich möchte, dass du Dr. Luo mitnimmst.«

Heng wich zurück. »Moment! Wieso das?«

Xue wandte sich an den Arzt. »Ich würde gern Ihre Meinung hören.«

Ehe Heng etwas erwidern konnte, fuhr Aigua fort. »Ich gebe Ihnen das Sondereinsatzkommando Falke mit. Als Schutz und zur Unterstützung.«

»Warum das?«, fragte Xue.

Aigua runzelte die Stirn. »Das Einsatzteam, das ich angeheuert habe, besteht aus Söldnern , weil ich unsere Beteiligung zunächst verschleiern wollte. Dieser Grund ist hinfällig geworden. Es steht zu viel auf dem Spiel, und zwar in mehrfacher Hinsicht.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Heng.

»Wir haben erfahren, dass ein internationales Forschungsschiff zum Tongagraben unterwegs ist. Das könnte sich als problematisch erweisen. Kurz nach Mitternacht soll dort ein weiteres unserer U-Boote eintreffen – ein Jagdboot der Yuan-Klasse. Wie die Dayangxi ist es mit einem neuartigen Helikopter-Landedeck vom Typ 076 ausgestattet.«

Daiyu spannte sich an. Sie kannte die Dayangxi . Sie verwendete Technik, die sie bei ihrer Arbeit an dem AI -gesteuerten Schiff entwickelt hatte, der Zhu Hai Yun . Sie verfügte über autonome Drohnen, U-Boote und sogar ein elektromagnetisches Katapult sowie eine Fanganlage für unbemannte Kampfdrohnen. Sie hatte an der Entwicklung mitgewirkt.

Aigua war ihre Reaktion nicht entgangen. Als hätte er ihre Gedanken gelesen – und in ihr Herz geblickt –, sagte er: »Das ist der Grund, weshalb ich die Kommandantin gebeten habe, die Einsätze im Graben zu überwachen. Wir müssen diese Region abschotten. Das heißt, wir müssen das Forschungsschiff und die Station, von der es ausgesandt wurde, in unsere Gewalt bringen.«

Daiyu straffte sich. Sie dachte an ihren langfristigen Plan, in den Admiralsrang befördert zu werden. Wenn sie jetzt Erfolg hatte, könnte sie die Wartezeit mindestens halbieren.

Gleichwohl wollte sie Aufgabenstellung und Einsatzparameter genauer definiert haben. »Falls es starken Widerstand gibt oder eine Bedrohung auftritt …«

Aigua verstand, worauf sie hinauswollte. »Lassen Sie es wie einen Unfall aussehen.«