Phoebe Reed stieg die Wendeltreppe hinunter. Sie führte mitten durch die dreizehnstöckige Glaskugel, die Science City genannt wurde. Die Kugel saß auf dem Heck der 300 Meter langen Titan X . Selbst zu dieser späten Zeit herrschte hier rege Betriebsamkeit. Mehr als hundert Forscher arbeiteten in den hochmodernen Labors der City.
Sie musste immer wieder anderen Männern und Frauen ausweichen, alle mit marineblauen Overalls bekleidet. Sie unterschieden sich nur durch die Abzeichen, auf denen ihr Forschungsgebiet vermerkt war, und die aufgenähten Namensschilder.
Adam und der DARPA -Wissenschaftler Monk gingen ihr voran. Sie kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen. Die beiden Männer unterhielten sich angeregt in gedämpftem Ton. Sie hörte die Worte »Museum« und »Singapur« heraus, der Rest ging im Umgebungslärm unter.
Auf der fünften Etage ließ Phoebe den Blick über die Gänge schweifen, die in die vier Himmelsrichtungen abgingen. Jeder Gang endete an der Glaskuppel, die Ausblick bot auf die Weite des Pazifiks. Die westliche Abzweigung war erfüllt vom Gleißen der tief stehenden Sonne.
Noch eine Stunde bis Sonnenuntergang.
Und ich werde ihn versäumen.
In zwanzig Minuten sollte ihr Tauchgang beginnen. Gerade eben hatte sie eine Sicherheitseinweisung absolviert und im Simulator geübt. Normalerweise hätten die Vorbereitungen Wochen gedauert, doch wegen der ernsten Lage wurde eine Ausnahme gemacht. Sie würden nicht einmal bis zum Morgen warten – nicht, dass dies beim Abstieg in die lichtlose Tiefsee einen Unterschied gemacht hätte.
Phoebes Gruppe war am frühen Nachmittag auf der Titan X eingetroffen. Das Schiff hatte zwei weitere Stunden bis zum Tongagraben gebraucht. Sie war darauf gefasst, unverzüglich in das Tiefsee-U-Boot zu steigen. Es handelte sich um eine Spezialanfertigung von Triton Submarines, für die William Byrd offenbar tief in die Tasche gegriffen hatte.
Der Pilot, der auch das Kommando führte, hatte darauf bestanden, dass sie sich zunächst einer Einweisung unterzogen.
Jetzt geht es endlich los.
Sie und die beiden Männer erreichten den Boden der Science City und traten vor einen Aufzug. Er würde sie in den Laderaum hinunterbringen, wo das Start-und-Bergesystem des U-Boots untergebracht war.
Im Aufzugkäfig erwartete sie ein weiterer Forscher im Overall. Das Abzeichen – ein über der Erdkugel schwebender Fisch – wies ihn als Mitarbeiter des Biologenteams aus. Sie kannte ihn nicht, was bedeutete, dass er die meiste Zeit an Bord der Titan X verbracht haben musste. Der Overall schlotterte um seine hagere, kaum eins sechzig große Gestalt. Was ihm an Körpergröße mangelte, machte er jedoch durch Enthusiasmus wett.
Sein Lächeln brachte Licht in den Käfig. Er wippte auf den Absätzen, als versuchte er, sich größer zu machen. Er streifte sich das Haar aus der Stirn, das gleich wieder zurückfiel, und hätte sich dabei fast die Brille von der Nase gefegt. Er schob sie hin und her und musterte seine Begleiter.
»Sie müssen Dr. Reed, Dr. Kaneko und Dr. Kokkalis sein.« Er schwenkte die Hand, als wüsste er nicht, wem er sie zuerst reichen sollte. Er hatte einen ausgeprägten britischen Akzent. »Ich bin Dr. Datuk Lee, Biochemiker von der Universiti Sains Malaysia.«
Phoebe schüttelte ihm als Erste die Hand, während die Tür sich schloss. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Dr. Lee, aber woher kennen Sie uns?«
Sie ahnte den Grund. Die Science City schwirrte von Klatsch und Tratsch wie ein Studentenwohnheim. Das Auftauchen der Titan X in diesen Gewässern hatte vermutlich erhebliche Aufmerksamkeit erregt.
Doch sie lag falsch.
»Ich bin der Ersatz für Dr. Ismail.«
Adam und Monk wechselten einen Blick.
»Was ist mit Dr. Ismail?«, fragte Phoebe.
»Sie ist erkrankt. Eine Magenverstimmung. Ich wurde gebeten, ihren Platz einzunehmen, denn ich habe das U-Boot-Training bereits absolviert. Außerdem bin ich auf barophile Organismen spezialisiert.«
Adam und Monk sahen Phoebe fragend an.
Sie nickte. Jetzt war ihr klar, weshalb man den Mann ausgewählt hatte und warum er das Training bereits absolviert hatte. »Barophile sind Organismen, die unter extremem Druck überleben. Wie zum Beispiel in Tiefseegräben.«
»Ich untersuche den Zusammenhang von Geologie und der Evolution des Lebens. Die meisten Forschungsmittel verwende ich jedoch auf die Suche nach …«
Der Aufzug kam rumpelnd zum Stehen.
Monk nutzte den Moment, um dem neuen Crewmitglied eine Frage zu stellen. »Wer finanziert Ihre Forschung, Dr. Lee? Ihre Universität?«
»Ja, aber ich bekomme auch Gelder von den PLASSF .«
Phoebe war die Abkürzung unbekannt.
Adam wusste mehr. »Den strategischen Unterstützungskräften?«
Datuk nickte. »Und von der NASA .«
Monk wirkte ebenso überrascht wie Adam. »Sie werden von zwei verschiedenen Raumfahrtorganisation finanziert?«
Bevor der Biochemiker antworten konnte, öffnete sich die Fahrstuhltür. Im Laderaum herrschte hektisches Treiben, Männer und Frauen drängten in den Käfig. Es roch nach Salzwasser und Dieseltreibstoff. Sie gingen durch den klimatisierten Hangar zum U-Boot. Es hing über der Wasserlinie an einem Galgen.
Als Phoebe es erblickte, vergaß sie ihre Begleiter.
Welcher Mann kann es schon damit aufnehmen?
Sie stolperte aufs Achterdeck hinaus und musterte staunend ihr Transportmittel. Der Pilot – ein muskulöser, braunhaariger Australier namens Bryan Finch – stand auf dem U-Boot und erteilte den Bootsleuten Anweisungen, die es zu Wasser ließen.
Phoebe betrachtete das DSV . Die Konstruktion basierte auf einem Triton 3600/2. Allerdings war es ein wenig größer und bot Platz für fünf Personen und nicht bloß zwei. Die Kastenform hatte es beibehalten. Darin befand sich eine Hohlkugel aus Titan G23 für die Passagiere. Die Kugel schaute vorne aus dem Kasten heraus und glich einer gläsernen Muschelschale mit Titanrahmen.
Das DSV verfügte über zwei Knickflügel, die flach an den Seiten anlagen. Im Wasser würden sie nach oben geklappt werden. An der Unterseite waren Scheinwerfer und Kameras befestigt. Mit den zehn Schubdüsen würde sich das U-Boot in der Tiefe präzise steuern lassen.
Das Fahrzeug war nach dem Seevogel Kormoran benannt, der in der Lage war, fünfzig Meter tief zu tauchen.
Phoebe grinste.
Bloß dass dieser Vogel viel tiefer tauchen wird.
Adam ließ sich in der Titankugel auf seinen Sitz sinken. Beengte Räume machten ihm nichts aus. Für Geologen, die häufig unter der Erde tätig waren, wäre Klaustrophobie äußerst hinderlich gewesen. Doch als der Pilot die Luke verriegelte, stockte ihm der Atem, und sein Herzschlag beschleunigte sich.
Seine Reaktion hatte weniger mit dem Eingesperrtsein zu tun, sondern eher mit dem Ort , zu dem sie unterwegs waren.
Zehntausend Meter unter dem Meeresspiegel.
Bryan Finch, der Pilot, zwängte sich an den Passagieren vorbei und nahm vor der Steuerung Platz. Phoebe hatte links von ihm auf dem Sitz des Co-Piloten Platz genommen. Monk saß hinter ihr, neben ihm Datuk Lee.
Adam hatte mit dem Sitz ganz hinten vorliebnehmen müssen, doch das war ihm recht. Er wollte den malaysischen Biochemiker im Auge behalten. Sein plötzliches Auftauchen weckte Adams Argwohn, zumal er mit den Chinesen in Verbindung stand und das Wrack kannte, zu dem sie hinabtauchen wollten.
Monks Bericht von den Ereignissen in Singapur hatte ihn aufgeschreckt. Dem Blutvergießen, dem raffinierten Vorgehen und den eingesetzten Ressourcen nach zu schließen, ging es um mehr als um die Vertuschung der U-Boot-Havarie.
»Ich flute jetzt Abluftleitung und Ballasttanks«, meldete Bryan, nachdem er den Systemcheck abgeschlossen hatte.
Ein gedämpftes Gurgeln war zu hören. Die hinteren Sitze hatten Fenster in Kniehöhe, auf den beiden vorderen hatte man quasi Panoramaaussicht. Das Wasser wanderte am Glas nach oben und schwappte über das Fahrzeug.
»Und runter geht’s, Leute«, sagte Bryan mit breitem Lächeln.
Adam atmete schwer und kämpfte gegen einen Anflug von Panik an. Er beäugte die Sauerstofftanks aus Karbonfaser. Man hatte ihm gesagt, die Luft reiche für drei Tage, und das sei mehr als genug, da die Akkus der Cormorant nur sechzehn Stunden durchhielten.
Bryan steuerte das Fahrzeug mit einem Joystick. Am Nachmittag hatten sie alle im Simulator trainiert. Die Steuerung glich der eines Helikopters. Trotzdem hatte Adam fünf Bruchlandungen hingelegt. Monk und Phoebe hatten ihn beide ausgestochen. Monk hatte berichtet, er sei bei den Green Berets Helikopter geflogen, deshalb hatte er sich mit der Steuerung leichtgetan. Phoebe wiederum hatte von ihrer Erfahrung bei der Tiefseeerkundung profitiert.
Wahrscheinlich bin ich hier hinten wirklich am besten aufgehoben.
Bryan meldete der Titan X , das U-Boot habe den Abstieg begonnen. Währenddessen behielt er die Schalter, Kontrollleuchten und Displays sowie die von einem Navigationsarray übermittelten Daten im Auge.
Eigentlich war die Cormorant nur eine Komponente des Hadal-Erkundungssystems. Unter dem großen Schiff an der Oberfläche kreisten in dem Gebiet noch zwei DriX-USV s wie stählerne Haie. Das eine erstellte mit einem Mehrstrahlsonar eine Tiefenkarte. Das andere war mit dem gleichen Funkmodulator ausgerüstet wie die Titan X . Darüber konnte die Cormorant mit der Außenwelt Kontakt halten, doch mit der Tiefe würde auch die Zeitverzögerung zunehmen. Unten angelangt, würde es sieben Sekunden dauern, bis ein SOS -Signal die Oberfläche erreichte, und weitere sieben Sekunden, bis die Titan X mit einem tief empfundenen Wir werden euch vermissen antworten könnte.
Eine weitere Komponente des Hadal-Erkundungssystems waren drei kastenförmige Sonden, die nach dem Eintreffen der Titan X vor Ort ausgebracht worden waren. Die schweren Sonden waren auf den Grund gesunken. Sie hießen Tick, Trick und Track , nach den Neffen von Donald Duck – denn Wissenschaftler hielten sich für humorvoll. Dies aber war der Beweis des Gegenteils.
Die Sonden würden ihnen bei der Navigation helfen und als wissenschaftliche Plattformen dienen. Sie waren gespickt mit Schaufeln, Sedimentbohrern und Probensammlern. Sie verfügten sogar über eine Köderbox, um Meerestiere anzulocken.
»Machen Sie sich’s bequem«, sagte Bryan. »Es dauert drei Stunden, bis wir unten sind.«
Er lehnte sich demonstrativ zurück und schraubte eine Flasche Diät-Cola auf. In Anbetracht der spartanischen Ausstattung vermutete Adam, dass die leere Flasche später Körperflüssigkeiten aufnehmen würde – zumindest die der Personen, die über ausreichend Treffsicherheit verfügten.
Niemand sprach während der ersten Minuten. Alle hingen ihren Gedanken nach. Vielleicht wollten sie auch den Piloten nicht ablenken. Das erwies sich jedoch als übertrieben, denn Bryan holte ein Handy hervor und startete einen Netflix-Film, den er sich zuvor heruntergeladen hatte.
Nach einer Weile brach Phoebe das Schweigen. Sie drückte sich die Nase am Fenster platt. »Das ist wundervoll.«
Inzwischen hatten sie die Zwielichtzone erreicht. Adam konnte ihre Begeisterung nicht nachempfinden. Draußen herrschte ein dunkles Blau vor, abgesehen von den Schneewirbeln, die von den Scheinwerfern erhellt wurden. Der Schnee war eine Mischung aus Krill, winzigen Krebsen und Plankton. Hin und wieder gelangte ein neugieriger Fisch in Sicht und verschwand gleich wieder. Ein paar Quallen verweilten länger, dann ließ die im Sinken begriffene Cormorant sie hinter sich.
Bald verwandelte sich das Zwielicht in tiefe Nacht.
»Wir haben die Thermokline durchquert«, meldete Datuk, den Blick auf ein Display mit vielen Daten gerichtet.
»Was heißt das?«, fragte Monk.
Datuk rückte seine Brille zurecht und zeigte auf den Monitor. Die Daten stammten vom externen Niskin-Wasserschöpfer und dem CTD -Sensor. Angezeigt wurden in Echtzeit Tiefe, Außendruck, Temperatur, Leitfähigkeit, Salzgehalt, pH-Wert und Sauerstoffsättigung.
»Die Thermokline liegt zwischen den lichterfüllten Schichten und der kälteren Tiefsee«, erklärte Datuk. »Beim Passieren der Linie ist die Temperatur rapide abgefallen. Jetzt sinkt sie wieder viel langsamer. Inzwischen sind es draußen vier Grad. Bis zum Grund wird die Temperatur um weitere ein bis zwei Grad fallen, bis dicht vor den Gefrierpunkt.«
Adam blickte Datuk über die Schulter. Die Temperatur hatte sich stabilisiert, während Tiefe und Druck weiter zunahmen. Das war der einzige Beleg dafür, dass sie immer noch tiefer sanken. Im DSV war davon nichts zu spüren.
Phoebe wandte sich um. »Wir erreichen jetzt die bathypelagische Meereszone, auch Mitternachtszone genannt. Sie liegt zwischen tausend und 4000 Metern. Anschließend geht es in die abyssopelagische Zone hinab.«
Datuk nickte. »Unterhalb von 6000 Metern liegt das Hadal, benannt nach Hades, dem griechischen Gott der Unterwelt. Diese unerforschten Tiefen machen etwa die Hälfte des Ozeans aus. Bis vor Kurzem hatten mehr Menschen den Mond betreten als diesen Bereich. Im Moment steht es 22 zu zwölf für das Erreichen der tiefsten Meeresgräben.«
Phoebes Augen leuchteten vor Erregung. »Heute wird sich diese Zahl ändern.«
Adam wünschte, er hätte ihre Begeisterung teilen können. Beim Sicherheitstraining hatte man sie über die beiden größten Gefahren beim Abstieg informiert: Feuer an Bord oder ein Leck. In dieser pulverisierenden Tiefe gab es keine Aussicht auf Rettung. Früherkennung war ihre einzige Überlebenschance.
Während sie weiter sanken, stoppte Bryan seinen Film eine Viertelstunde lang, um die Beobachter an der Oberfläche auf den aktuellen Stand zu bringen. Adam hörte aufmerksam zu – ihn interessierten weniger die technischen Details, die hatte er bereits verinnerlicht, sondern eher der Tonfall des Piloten. Er versuchte, Anzeichen von Stress oder Besorgnis herauszuhören.
Nachdem eine weitere Stunde verstrichen war, fiel es ihm immer schwerer, seine Konzentration beizubehalten. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er müde, die Augen fielen ihm zu.
Phoebes helle Stimme weckte ihn auf. »Ich glaube, wir kommen in eine Salzschicht«, sagte sie.
Adam straffte sich. Das schwarze Wasser vor dem Vorderfenster wurde von den Scheinwerfern erhellt. Das Licht wurde gestreut, als bewegten sie sich durch trübe Hühnerbrühe.
Datuk meldete sich zu Wort, den Blick auf den vor ihm befindlichen Monitor gerichtet. »Sie haben recht, Dr. Reed. Der Salzgehalt hat sich verachtfacht. Das ist eindeutig eine Schicht mit erhöhtem Salzgehalt.«
»Ist das ein Grund zur Besorgnis?«, fragte Adam und beugte sich vor.
»Nicht für uns«, antwortete Phoebe. »Für das Meeresleben sind das allerdings Todeszonen. Wegen des hohen Salzgehalts und des Mangels an Sauerstoff.«
Datuk nickte. »In diesen Salzschichten leben jedoch alle möglichen seltsamen chemolithotrophen Organismen. Wegen ihrer einzigartigen Enzyme sind sie interessant für pharmazeutische und industrielle Zwecke. Ähnlich wie die Barophilen, die ich untersuche.«
Monk sah den Biochemiker an. »Sie meinen die Organismen, die unter hohem Druck leben?«
»Genau.« Datuk lächelte. »Die Salzschichten weisen auch eine erhöhte elektrische Leitfähigkeit auf. Aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften könnte man die Organismen dazu verwenden, Wasser aus der Marsatmosphäre zu gewinnen. Das wird der ExoMars-Rover Kazachok untersuchen, der bald starten soll.«
Monk wandte sich an Adam und hob eine Braue. Sie hatten beide bislang darauf verzichtet, die Verbindungen des Wissenschaftlers zur chinesischen Raumfahrtbehörde anzusprechen. Falls der Mann ein Maulwurf war, wollten sie ihn nicht unnötig nervös machen. Jetzt aber bot sich die Gelegenheit, das Thema zur Sprache zu bringen.
Wohin konnte er auch schon flüchten?
Während Phoebe die trübe Salzschicht beobachtete, fiel ihr eine Bewegung ins Auge, die sich im Fensterglas spiegelte. Adam hatte sich auf dem Rücksitz vorgebeugt.
»Dr. Lee«, sagte er, »Sie haben erwähnt, die Raumfahrtindustrie interessiere sich für Ihre Forschung an barophilen Organismen. Warum?«
Auch Phoebe hatte sich diese Frage bereits gestellt. Interessiert wandte sie den Kopf.
Datuk grinste, seine Augen funkelten. Wie die meisten Wissenschaftler ließ er sich ausgesprochen gern über sein Forschungsgebiet aus. »Ich gehöre einem Forschungsteam namens LAB an. Dem Laboratory for Agnostic Biosignatures . Finanziert werden wir von astrobiologischen Programmen in aller Welt. Unsere Aufgabe ist es, unser Verständnis von Leben und dessen Definition zu erweitern. Unter anderem suchen wir an Orten nach Leben, an denen es eigentlich keines geben dürfte.«
Phoebe sah wieder aus dem Fenster. »Zum Beispiel an einem Ort wie diesem.«
»Genau. Die Erforschung der Tiefsee gibt Aufschluss über mögliches Leben jenseits unserer Welt. Daraus könnten sich neue Ansätze für die Suche nach Biosignaturen extraterrestrischen Lebens ergeben. Bislang haben wir uns darauf beschränkt, fremde Planeten nach Spuren von Wasser, Methan und anderen Verbindungen zu untersuchen, die auf das Vorhandensein von Leben hindeuten können. LAB möchte die Suche ausweiten.«
»Und deshalb erforschen Sie die extreme Tiefsee?«, fragte Monk.
Datuk nickte. »Unser Team versucht, die Wände des allgemein akzeptierten Dogmas zu durchbrechen. Beispielsweise glaubte man jahrzehntelang, das Leben auf der Erde sei an der Oberfläche entstanden, wo Wasser und Atmosphäre dem Sonnenlicht und der UV -Strahlung ausgesetzt sind. Mein Ziel ist es, dies zu widerlegen. Ich möchte nachweisen, dass das Leben im Meer entstanden ist, befeuert von chemischer Energie. Das hat mein Interesse an der Piezosphäre geweckt – einer Schicht in 5000 Metern Tiefe. In tief gelegenen Sedimenten haben wir Leben gefunden, wo es eigentlich keines geben dürfte. Der Metabolismus arbeitet dort so langsam, dass eine einzelne Zellteilung tausend Jahre dauert.«
Phoebe runzelte die Stirn. »Und Sie glauben, das könnte helfen, nach Spuren außerirdischen Lebens zu suchen?«
»Allerdings. Ich bin überzeugt, die Chancen für die Entdeckung von Leben auf fernen Planeten sind größer, wenn wir nach langsamem Leben in der Tiefe suchen. Das schnelle Leben an der Oberfläche kommt und geht. Planetenoberflächen empfangen zwar viel Energie von ihrer jeweiligen Sonne, sind aber auch Meteoreinschlägen und Sterneruptionen ausgesetzt. In der Tiefe hingegen ist das Leben vor solchen Katastrophen geschützt und deshalb stabiler.«
Phoebe versuchte blinzelnd, diese Information zu verarbeiten.
Datuk sah ihr über die Schulter und wies mit dem Kinn aufs Fenster. »Sieht so aus, als hätten wir die Salzschicht passiert.«
Phoebe wandte den Kopf.
Das Wasser war wieder klar.
»Der Salzgehalt hat sich normalisiert«, meldete Datuk und fuhr in zweifelndem Ton fort: »Und er sinkt weiter. Der Sauerstoffgehalt nimmt zu.«
Phoebe blickte in die Finsternis hinaus. Inzwischen waren sie in über 7000 Metern Tiefe angelangt und befanden sich in der Hadal-Zone. »Das ist normal in dieser Tiefe«, sagte sie. »Das Wasser in den tiefen Meeresgräben ist aufgrund des niedrigen Salzgehalts und des hohen Drucks sauerstoffreicher.«
»Aber sehen Sie sich die Zahlen an«, sagte Datuk.
Phoebe riss den Blick vom Meer los und schaute auf seinen kleinen leuchtenden Bildschirm. Der DO -Wert, die Maßzahl für die Menge des gelösten Sauerstoffs, stieg kontinuierlich an. Im Moment wurden 12 mg/l angezeigt – zwanzig Prozent mehr als erwartet. Der Salzgehalt war unter 29 Promille gesunken. Normalerweise betrug er 33 Promille, auch in dieser extremen Tiefe.
Sie schüttelte den Kopf. »Die Sensoren müssen defekt sein. Die Zahlen können nicht stimmen.«
Bryan meldete sich vom Pilotensitz aus zu Wort. »Was ist das da unter uns?«
Phoebe wandte den Kopf, die hinteren Passagiere schauten aus ihren Sichtfenstern. Phoebe blickte zwischen ihren Knien hindurch. Die Kuppelwölbung ermöglichte ihr freie Sicht in die Tiefe.
Ausrufe des Erstaunens waren zu hören.
Ihr selbst stockte der Atem.
In der Tiefe schimmerte und leuchtete es. Smaragdgrüne und himmelblaue Verästelungen schossen in alle Richtungen. Andere Gebiete pulsierten wie ein leuchtendes Kaleidoskop.
Sie wusste, was das war.
Biolumineszenz.
Sie sanken in die unwirkliche Landschaft ein. Sie erstreckte sich in alle Richtungen und verblasste in der Ferne. Phoebe stellte sich die zu beiden Seiten aufragenden Wände des Tongagrabens vor. Sie befanden sich in der Mitte, da sie es vermeiden wollten, daran zu streifen.
»Ist es das, was ich glaube?«, fragte hinter ihr Adam.
Phoebe dachte an die ölartige schwarze Fläche auf der bathymetrischen Karte des Grabens. Sie hatte einen riesigen Korallenwald markiert, 300 Meter hoch, mit 500 Quadratkilometern Grundfläche.
Dieser Wald aber war nicht schwarz.
Während die Cormorant zum Boden hinuntersank, kam der biolumineszierende Dschungel immer näher. Er war ein flammendes Wunderland dunkler Äste, die in verschiedenen Farbtönen blinkten, schimmerten und strahlend hell leuchteten. Korallenstämme, so dick wie Mammutbäume, ragten aus der Tiefe auf. Ihr Ursprung war nicht zu erkennen. Unmittelbar unter der Cormorant bildeten die Äste einen undurchdringlichen Baldachin mit Mulden und Anhöhen.
»Ich werfe Ballast ab und stoppe den Sinkvorgang«, sagte Bryan.
Er betätigte mehrere Schalter und warf Fünf-Kilogramm-Gewichte ab, eins nach dem anderen.
Während die Sinkgeschwindigkeit abnahm, vermochte Phoebe den Blick nicht von den Korallen abzuwenden. Schließlich kam die Cormorant über dem leuchtenden Baldachin zum Stillstand. An den nächstgelegenen schwarzen Ästen machte sie Polypen aus.
Alle waren smaragdgrün und schauten aus dem harten schwarzen Korallenskelett hervor.
Sie dachte an die einzelne Koralle in der Nähe der Unterwasserstation der Titan , von der sie am Vortag eine Probe genommen hatten. War dies dieselbe Spezies? Der Abstand war noch zu groß, um das zu entscheiden. Gestern hatte sie den einzelnen Baum für einen Riesen gehalten. Wenn es sich hier tatsächlich um dieselbe Spezies handelte, war das gestrige Exemplar nichts weiter als ein Setzling gewesen.
Sie wünschte, Jazz wäre hier und könnte dies alles sehen.
»Akah Bahar« , murmelte hinter ihr Datuk.
»Wie bitte?«, fragte Adam.
»Das ist die malaysische Bezeichnung für schwarze Koralle – und ich finde sie treffend.«
Phoebe blickte unentwegt nach draußen. »Warum? Was bedeutet der Name?«
»Er bedeutet Wurzel des Meeres .«
»Das kommt mir eher vor wie die Wurzel der ganzen Welt«, meinte Phoebe.