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23. Januar, 23:07 NZDT
Pazifik, tausend Kilometer nordöstlich von Auckland

Phoebe beugte sich auf dem Sitz vor. Die Schubdüsen summten und beförderten die Cormorant über die leuchtende Unterwasserlandschaft hinweg. Es war, als segelten sie über einen Regenwald, den ein fantasievoller Künstler mit einer Palette phosphoreszierender Ölfarben gemalt hatte. Überall flackerte und blitzte es bis in die unergründliche Tiefe.

Bryan hatte weitere fünf Kilogramm Ballast abgeworfen, worauf sie dem Wunderland bis auf wenige Meter nahegekommen waren. Zusätzlich hatte er die Knickflügel der Cormorant ausgeklappt, sodass ihr U-Boot jetzt dem namensgebenden Vogel glich.

Die flammenden Scheinwerfer wiesen nach vorn und nach unten.

Hinten überwachte Adam einen Bildschirm mit den Scans des Unterbodensonars. Sie hofften, damit die wahre Tiefe des Tongagrabens zu bestimmen.

»Gibt es schon Ergebnisse?«, fragte Monk.

Adam nickte. »Der Meeresboden ist sichtbar. Er befindet sich etwa 500 Meter unter uns. Unter den Korallen.«

Datuk wippte aufgeregt mit dem Fuß. »Damit wäre dies die tiefste Stelle des Tongagrabens.«

»Und der Boden fällt weiter ab.«

Phoebe sah nach unten und wünschte, ihre Augen könnten den Korallenwald ebenso mühelos durchdringen wie das Sonar. Es war schwer, durch die dichte Krone hindurch etwas zu erkennen. Doch die smaragdgrünen Polypen wurden nach unten hin anscheinend immer größer. Die Population an der Oberfläche setzte sich wohl aus den jüngsten Mitgliedern der Kolonie zusammen.

Außerdem trugen die größeren Polypen am meisten zur Biolumineszenz des Waldes bei. Ihren jüngeren Geschwistern ging diese Fähigkeit weitgehend ab. Küstenkorallen lebten in Symbiose mit mikroskopischen Algen, den sogenannten Zooxanthellen, die sich und ihre Wirte mittels Photosynthese ernährten. Phoebe fragte sich, ob es hier unten eine ähnliche Vergemeinschaftung mit biolumineszierenden Algen gab. Oder handelte es sich um eine körpereigene chemische Reaktion der älteren Polypen?

So viele Fragen …

Auf einmal fiel ihr etwas ins Auge. Ein großer Schatten schien der Cormorant zu folgen, der sich in der Tiefe des Waldes fortbewegte und den dicken Korallenstämmen auswich. Sie hatte ihn auch schon vorher bemerkt, konnte aber nicht erkennen, was es war. Vielleicht handelte es sich auch um eine Sinnestäuschung, bedingt durch die Bordscheinwerfer. Es sah so aus, als verdecke etwas Großes die Biolumineszenz, so wie eine Gewitterwolke vorübergehend die Sterne auslöscht. Sie war sich nicht mal sicher, ob es nicht Einbildung war.

Trotzdem ging ihr eine Frage durch den Kopf.

Was vermag unter diesem enormen Druck zu leben?

Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie sah Bryan an. »Wie weit ist es noch bis zu einer der Sonden? Ich würde gern eine Köderbox ausbringen und Meeresbewohner aus dem Wald locken.«

Er sah auf die Sonaranzeige. Drei Punkte leuchteten auf der Tiefenkarte. »Track ist nur einen halben Kilometer entfernt«, sagte er. »Das liegt auf dem Weg zum gesunkenen U-Boot. Aber ich glaube, so lange brauchen Sie mit dem Ausbringen des Köders nicht zu warten.«

»Wie meinen Sie das?«

Bryan erhöhte den Schub, um der Waldkrone auszuweichen – doch das Hindernis war kein Teil des Waldes.

»Walsturz voraus!«, meldete der Pilot.

Datuk und Monk blickten ihm und Phoebe über die Schulter.

»Was ist das?«, fragte Monk.

»Das, wonach es klingt«, antwortete Phoebe. »Tote Wale sinken häufig auf den Meeresgrund, und die Tiefseebewohner laben sich an den Kadavern.«

Während die Cormorant immer näher kam, vergewisserte sich Phoebe, dass die externen 4K-Kameras alles aufzeichneten. Bald darauf war der dunkle Rumpf eines Pottwals zu erkennen. Trotz seines großen Gewichts war er von der Waldkrone aufgefangen worden.

Wie bei jedem Walsturz war auch dieser ein Fest des Lebens in der nährstoffarmen Tiefe. Die Hälfte des Kadavers war bereits verzehrt worden, die weißen Rippen und die Kieferknochen lagen bloß. Um die Reste wurde gestritten; es wurde gebissen, gerissen und geschnitten, und es wimmelte von Würmern.

»Oh Mann«, sagte Monk. »Ist es normal, dass hier unten so viele Tiere leben?«

»Ja«, flüsterte Phoebe ehrfurchtsvoll. »Und nein.«

Monk sah ihr staunend über die Schulter. »Wie meinen Sie das?«

Phoebe deutete auf eine Gruppe leichenblasser Krusten­tiere, die sich über das Fleisch hermachten. Sie wirkten wie eine Kreuzung aus Hummer und Garnele und hatten lange Antennen.

»Das sind Amphipoden. Sie sind in der Lage, in dieser Tiefe zu überleben. Die Oberflächenvertreter dieser Gattung werden selten größer als ein Daumennagel. In Tiefseegräben wurden Exemplare von über dreißig Zentimetern Länge beobachtet.«

Monk schüttelte den Kopf. »Die Riesen da draußen sind einen Meter lang.«

Sie nickte. »Wie gesagt, sie wurden hier beobachtet – aber noch nie so große.«

Einer der Amphipoden krümmte den Panzer wie ein Pillendreher, ihr ferner Verwandter, zu einer Kugel und rollte an der Flanke des Wals hinunter.

»Das ist ein Anblick wie aus einem Albtraum.« Adam zeigte auf eine hellrote Krabbe, die auf dem Berg aus verwesendem Fleisch herumstakte. Ihre mit Gelenken ausgestatteten Beine hatten eine Spannweite von 4,5 Metern. »Das Tier ist bestimmt auch übergroß, oder?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Phoebe. »Das ist Macro­cheira kaempferi. Eine japanische Spinnenkrabbe. Sie wurden noch nie in dieser Tiefe gesichtet. Andererseits wurden 99 Prozent der tiefen Meeresgräben bislang weder von Menschen noch von Robotern erforscht.«

Ein großer Stachelrochen glitt über den Wal hinweg. Er war knapp zwei Meter breit und doppelt so lang, wenn man den stachelbewehrten Schwanz mitzählte.

Im Innern des ausgehöhlten Kadavers wimmelten Kraken – normalerweise Einzelgänger – und stritten miteinan­der um Nahrung. Diese Art kannte sie. Enteroctopus dofleini, die Pazifische Riesenkrake. Sie wurde neun Meter lang und wog bis zu 700 Pfund.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

Wie können sie hier unten überleben?

Tiefseegräben glichen abgelegenen Inseln. Die Lebensbe­dingungen waren so extrem, dass es keinen Austausch zwi­schen ihnen gab, weshalb die darin gefangenen Arten zur Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten gezwungen waren.

Und die sind praktisch einzigartig.

Die hier isolierten Lebewesen mussten spezielle Strategien entwickelt haben, um mit dem extremen Druck zurechtzukommen.

Wie zum Beweis gelangte ein einzelner Krake in Sicht und baute sich vor ihnen auf, als wollte er sein Territorium markieren. Es handelte sich um ein riesiges Exemplar von Mesonychoteuthis hamiltoni, dem Koloss-Kalmar. Er wog bestimmt eine Tonne. Die tellergroßen schwarzen Augen schimmerten im Lichtschein der Photophoren, die um die Linsen herum angeordnet waren. Hellblaue Biolumineszenz verwandelte die Gliedmaßen in ein bedrohliches Lichtspektakel.

Als er vorbeiglitt, fragte sich Phoebe, ob das Leuchten des Korallenwalds vielleicht teilweise von biolumineszierenden Lebewesen wie diesem herrührte.

Bevor sie den Gedanken weiterspinnen konnte, erbebte die Cormorant leicht. Die Korallenkrone wogte und vibrierte. Einzelne Teile lösten sich.

Phoebe stützte sich am Fenster ab, während Bryan das DSV etwas höher steuerte.

Die schmausenden Lebewesen stoben auseinander. Ei­­nige tauchten in den zitternden Wald ab. Andere verschwanden in der Dunkelheit. Einige Kraken suchten im Walbauch Zuflucht. Der große Stachelrochen schoss über die Cormorant hinweg und streifte sie mit dem Stachel, als wollte er sie warnen.

Bryan bemühte sich nach Kräften, sicheren Abstand zum wogenden Wald zu gewinnen. Nach einer Weile beruhigte sich die Lage wieder. Trotzdem ließ Bryan das Tauchboot höher steigen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Reihum wurden genickt, Daumen wurden gereckt.

»Sollen wir fortfahren?«, fragte er.

Monk beugte sich vor. »Wie weit ist es noch bis zum U-Boot?«

»Drei Kilometer.«

Monk hatte vorgeschlagen, nicht unmittelbar über dem havarierten U-Boot abzutauchen. Da es einen Atomantrieb hatte, mussten sie von einem Strahlenleck ausgehen. Adam hatte ihm beigepflichtet. Die verstohlenen Blicke, die sie wechselten, ließen vermuten, dass die beiden mehr über das U-Boot wussten, als sie bislang preisgegeben hatten. Trotzdem hatte Phoebe keine Einwände erhoben. So blieb ihr mehr Zeit für die Erforschung des Korallenwalds.

Monk schaute sich zum Wal um, vom Tiefseeleben of­fen­bar ebenso fasziniert wie sie. »Wieso ist hier unten alles so groß?«

»Das bezeichnet man als Tiefseegigantismus«, antwortete sie. »Mit der Tiefe nimmt die Größe der Lebewesen zu. Das ist den niedrigeren Temperaturen und dem höheren Druck geschuldet. Die Zellen werden größer und leben länger. Auch Nahrungsknappheit ist ein Faktor. Größere Tiere haben einen langsameren, effizienteren Stoffwechsel.«

»Das heißt, sie müssen weniger essen«, meinte Monk.

»Und nicht nur das«, warf Datuk ein, der offenbar sein Wissen über das Leben unter hohem Druck unter Beweis stellen wollte. »Die Größe der Meereslebewesen steht in direkter Beziehung zur Menge des gelösten Sauerstoffs. Je mehr Sauerstoff, desto größer das Tier.« Er deutete auf den Monitor mit den Sensordaten. »Sehen Sie sich die Zahlen an. Die sind wirklich enorm. Dreißig Prozent höher als bei bisherigen Messungen in Tiefseegräben.«

Phoebe beugte sich hinüber. »Der Salzgehalt ist um den gleichen Prozentsatz gesunken.«

Datuk nickte. »Dieses Gewässer hat einen deutlich erhöhten Sauerstoff- und einen stark erniedrigten Salzgehalt. Die Werte entsprechen beinahe denen von Blutplasma.«

»Dann muss das eine Riesenblutzelle sein.« Monk zeigte auf eine rosafarbene Qualle an der rechten Seite. Der Schirm hatte einen Durchmesser von mehreren Metern und war mit fleischigen Armen besetzt.

»Tiburonia«, sagte Phoebe. »Rote Riesenqualle. Dieses Exemplar hier ist allerdings doppelt so groß wie die bisher gesichteten.«

»Bei diesem Sauerstoffgehalt wundert mich das nicht«, sagte Datuk. »Außerdem findet sich in meinen Proben auch kein Mikroplastik. Man könnte fast meinen, der Korallenwald habe dieses Gewässer in einen jungfräulichen Zustand versetzt.«

Phoebe blickte nach unten. Das war ein interessanter Gesichtspunkt. Sie dachte an den brasilianischen Regenwald, die grüne Lunge des Planeten, die Kohlendioxid ein- und Sauerstoff ausatmete.

Erfüllte der Korallenwald eine ähnliche Funktion?

Bryan straffte sich. »Track , eine der Sonden, sollte jeden Moment vor uns auftauchen. Dann führe ich erst mal einen Systemcheck durch, bevor ich weiterfahre. ­Einverstanden?«

Keiner hatte Einwände.

Phoebe fragte sich, ob sie welche hätten haben sollen.

23:30

Das veränderte Geräusch der Schubdüsen veranlasste Phoebe, nach unten zu blicken. Die Cormorant schwankte leicht und wurde langsamer.

»Wir haben Track fast erreicht«, meldete Bryant. »Die Sonde befindet sich unmittelbar vor uns.«

Das Summen wurde noch leiser. Mit großem Geschick brachte Bryan ihr Tauchboot vor der auf der Tiefenkarte markierten Position der Sonde zum Stillstand.

Phoebe schaute umher. »Wo ist er?«

Bryan zeigte nach unten. »Direkt unter uns.«

Phoebe beugte sich vor und blickte an ihren Füßen vorbei.

Ah …

Die kastenförmige Sonde lag zwei Meter unter ihnen schief auf der Waldkrone, inmitten abgebrochener Äste. Der am Wald angerichtete Schaden tat ihr in der Seele weh – bot aber auch Chancen.

Während Bryan die Systeme überprüfte, richtete Phoebe die Unterbodenscheinwerfer auf die Sonde. Sie hoffte, durch die entstandene Lücke einen Blick ins Innere des Waldes werfen zu können. Sie leuchtete die Oberseite der Sonde an.

Grünlicher Dunst trübte das Wasser. Das waren die umherwirbelnden Polypen, die millimetergroßen Jungtiere, welche die Waldkrone bedeckten. Beim Aufprall der Sonde waren sie offenbar aufgeschreckt worden.

Sie dachte an die Polypen, die an der Unterwasserstation der Titan den ROV -Greifer attackiert hatten, als sie einen Korallenzweig abgebrochen hatte. Sie fragte sich, ob sie wohl Zeit hätte, eine Probe zu nehmen, solange Bryan beschäftigt war. Dafür musste sie jedoch näher heran.

Sie streckte die Hand zur Steuerung des hydraulischen Arms aus. »Könnten wir …«

Ein großer schwarzer Aal schoss durch die Lücke im Wald. Er war schenkeldick und leuchtete in pulsierendem Rhythmus. Zentimeterlange nadelspitze Zähne saßen im geöffneten Maul. Er schnappte nach dem Tauchboot und krümmte aggressiv seinen muskulösen Körper.

Vermutlich hatte ihn der Scheinwerfer angelockt.

Und nicht nur ihn.

Tausende Polypen bildeten einen dichten Nebel. Sie griffen das Ziel an, das sich ihnen bot – den Aal. In Sekundenschnelle war der schwarze Körper mit grünen Poly­pen besetzt. Der Aal zappelte noch heftiger, nicht mehr Ausdruck aggressiven Verhaltens, sondern vor Schmerzen. Blitze wanderten an ihm auf und ab.

Phoebe beobachtete gequält seinen Todeskampf. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn schließlich hatte sie den Aal herbeigelockt.

»Die Sensoren melden einen Anstieg der Wassertemperatur«, sagte hinter ihr Datuk.

Der Biochemiker hatte von dem Angriff, der sich in der Nähe der Sensoren zugetragen hatte, nichts mitbekommen.

»Sehen Sie nach draußen«, sagte Phoebe. »Ich glaube, Sie registrieren die Körperwärme des Aals.«

Datuk beugte sich zum Fenster vor und hielt seine Brille fest. Er schaute lange nach draußen. »Ni tidak mungkin« , murmelte er ungläubig. »Die Körperwärme muss erstaunlich hoch liegen, sonst würden die Sensoren in dieser Kälte gar nichts registrieren. An der Oberfläche würde er bei lebendigem Leib gebraten werden, wenn nicht sogar verbrennen.«

Die Lichterscheinungen waren trüber geworden. Die Zuckungen hörten auf.

Phoebe schlug schuldbewusst die Hand vor den Mund. Das leidende Tier lebte hier seit Jahrzehnten, wenn nicht schon wesentlich länger – bis wir es gestört haben .

Etwas drängte durch die Lücke. Zunächst glaubte Phoebe, es sei ein Aal, doch es war ein Tentakel. Er war dunkelgrün und leuchtete in allen möglichen Farben. Er schlang sich um den Aal und zog ihn zur Lücke in der Waldkrone. Ein zweiter leuchtender Tentakel schlängelte sich heran, dann ein dritter. Mit den Enden betasteten sie die Haut des Aals.

Der grüne Überzug schwebte davon. Im Nu waren die Polypen von der schwarzen Haut des Aals verscheucht. Der erste Arm zog sich zurück, blieb aber durch kleinere Filamente, die an der Unterseite saßen, mit dem Aal verbunden. Die pulsierenden Lichter erinnerten an ein schlagendes Herz.

Der Aal regte sich wieder und begann sich zu schlängeln. Leuchtende Linien durchliefen ihn. Schließlich löste er sich und verschwand in der Tiefe des Waldes. Die leuchtenden Tentakel wurden zurückgezogen.

Alle an Bord hatten dies gesehen, auch Bryan.

Monk brach die Stille als Erster. »Hat das andere Tier den Aal wieder zum Leben erweckt?«

»Und was war das? Ein versteckter Krake?«

Phoebe schüttelte benommen den Kopf. Sie schluckte. »Nein, das war kein Krake. Ich glaube, das war ein Polyp.«

Datuk schaute sie fragend an. »Ein Polyp? Wie die aus den Korallen?«

»Einer von tief unten«, sagte sie. »Mir ist bereits aufgefallen, dass die Polypen nach unten hin stetig größer werden. Ganz am Grund müssen sie gigantisch sein.«

Die anderen schauten skeptisch drein.

Phoebe machte es nichts aus. Sie vertraute ihrem Bauchgefühl und der Wissenschaft. »Die Polypen haben bereits gezeigt, dass sie frei beweglich sind und die Kalkäste verlassen können. Bei den Filamenten, die auf den Tentakeln saßen, könnte es sich um eine angepasste Form von Kampftentakeln handeln, die ich an dieser Spezies bereits beobachtet habe.«

»Wann beobachtet?«, fragte Datuk. »Und wo?«

Sie berichtete von dem Korallenbaum, den sie nahe der Unterwasserstation der Titan entdeckt hatte. »Ich bin mir sicher, dass es dieselbe Spezies ist.«

Adam runzelte die Stirn. »Für mich sahen die Tentakel aus wie die Arme eines Kraken. Vielleicht haben wir es mit einer frühen Form zu tun, die noch keine Saugnäpfe entwickelt hat.«

»Das war ein Polyp«, beharrte Phoebe.

»Vielleicht trifft ja beides zu«, meinte Datuk.

Alle Blicke richteten sich auf den Biochemiker.

Er riss die Augen von den Sensordaten los und wandte sich an seine Kollegen. »Kraken werden zwar als Cephalopoden klassifiziert, doch in evolutionärer Hinsicht ergeben sie keinen Sinn. Ihr großes Gehirn, ihr komplexes Nervensystem, die kameraartigen Augen und ihre Fähigkeit, sich zu tarnen – all diese Eigenschaften sind ganz plötzlich in Erscheinung getreten. Kraken können sogar ihre eigene RNA editieren und an die Umgebung anpassen, was kein anderer Organismus vermag. Im Vergleich zu ihren Kopffüßer-Verwandten sind sie der Evolution Lichtjahre voraus.«

»Was heißt das?«, fragte Monk. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass wir nicht wissen, wie die Kraken entstanden sind. Sie sind so seltsam, dass manche Wissenschaftler glauben, sie seien möglicherweise nicht auf der Erde entstanden.«

»Demnach wären sie also Aliens«, sagte Adam in spöttischem Ton.

»Mittelbar. Die Veröffentlichungen, auf die ich mich beziehe, wurden intensiv begutachtet.« Datuk hob die Hand. »Aber darauf will ich nicht hinaus. Ich wollte lediglich festhalten, dass wir noch immer nicht wissen, wie die Kraken entstanden sind. Wir wissen lediglich, dass sie nach den ersten Meereskorallen in Erscheinung getreten sind.«

»Das stimmt«, sagte Phoebe.

Datuk zeigte nach unten. »Und das ist eine sehr alte Koralle.«

Phoebe nickte. »Das stimmt auch.«

Adam sah auf die Koralle. »Behaupten Sie etwa, die großen Polypen seien ein früher Vorläufer der heutigen Kraken? Das fehlende Glied in der Evolutionsgeschichte?«

»Ich behaupte gar nichts. Ich spekuliere bloß.«

Phoebe erinnerte sich an eine weitere einzigartige Eigenschaft der Koralle, die ihren Versuch, sie taxonomisch mit anderen schwarzen Korallen in einen Topf zu werfen, vereitelt hatte.

Diese Polypen hatten acht Arme.

Genau wie der Krake.

Sie dachte an die leuchtenden Tentakel, die den Aal behutsam wieder zum Leben erweckt hatten. Eine altruis­ti­sche Motivation würde Datuks These möglicherweise stützen. Das Wissen über die komplexen und ­intelligenten Kraken wurde ständig erweitert. Sie waren ­ausgesprochen fürsorglich und zeigten Zuneigung und Empathie. Außer­dem waren sie in der Lage, emotionalen Schmerz zu empfinden, und konnten sogar trauern.

Sie sah zum Korallenwald hinunter.

Hat Datuk womöglich recht?

Sie dachte an die jungen Polypen, die den Aal attackiert hatten, und fragte sich, ob das aggressive Verhalten vielleicht ihrer Jugend geschuldet war. Von jungen Klapperschlangen ging eine größere Gefahr aus als von ausgewachsenen Exemplaren. Sie bissen wahllos zu und gaben ihr Gift auf einen Schlag ab, während die älteren Schlangen gelernt hatten, dass es für sie vorteilhafter war, wenn sie sich versteckten und zurückhielten. Ausgewachsene Klapperschlangen dosierten die Giftmenge pro Biss und behielten eine Reserve zurück. Manchmal bissen sie sogar »trocken« zu, wenn sie sich bedroht fühlten.

Haben wir gerade etwas Ähnliches erlebt? Haben die Erwachsenen das aggressive Verhalten ihrer Jungen korrigiert? Haben sie in ihrem Hinterhof für Ordnung gesorgt und ihre Mitbewohner beschützt?

Phoebe schüttelte tief beeindruckt den Kopf.

Diese Rätsel aber mussten warten.

Bryan straffte sich auf seinem Sitz und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die aktuelle Mission. »Alles im grünen Bereich. Wir können weitermachen.«