Während die Cormorant sich dem havarierten U-Boot näherte, schaute Monk aus der Sichtluke. Der leuchtende Wald erstreckte sich in alle Richtungen. Unwillkürlich massierte er sich das linke Handgelenk, was er immer dann tat, wenn er angespannt war. Manchmal wanderten seine Finger zum Armstumpf, als ermahnte er sich unbewusst, wachsam zu bleiben, damit er nicht mehr verlor als nur eine Hand.
Vielleicht aber scheuerte auch nur die neue Prothese.
Er trug sie erst seit drei Monaten. Sie war vollgestopft mit neuester DARPA -Technik. Gesteuert wurde sie über die magnetischen Kontakte an seinem Handgelenk, die mit den Armnerven verbunden waren und auch sensorische Eindrücke übermittelten. Mit der Synthetikhaut und dem Hirnimplantat für drahtlose Steuerung war die Prothese kaum von einer echten Hand zu unterscheiden. Niemand an Bord der Cormorant hatte auch nur zwei Mal hingeschaut.
Das aber war noch nicht alles. Mit den kräftigen Fingern konnte er Walnüsse knacken. In der Handfläche war C4-Sprengstoff verborgen. Außerdem hatten die DARPA -Ingenieure eine Reihe von Abwehrmaßnahmen gegen elektronische Kriegsführung sowie Hacking-Tools eingebaut.
Die Prothese ersetzte nicht nur eine Hand, sie war auch eine Waffe.
Nicht, dass uns hier unten damit geholfen wäre.
Monk nahm die Finger vom Handgelenk, beugte sich vor und betrachtete über die Schulter des Piloten hinweg die Tiefenkarte. Ein grünes Dreieck markierte die Position des U-Boots.
Noch einen halben Kilometer.
Er schaute wieder aus der Luke, behielt aber den ihm gegenübersitzenden Mann im Auge. Datuk Lee hatte sich bislang nicht als Maulwurf beziehungsweise chinesischer Agent zu erkennen gegeben. Monk nahm sich jedoch vor, ihn jetzt, da das U-Boot in greifbarer Nähe lag, aufmerksamer zu beobachten und nach Rissen in der jovialen Fassade zu suchen.
Auf dem Rücksitz tat Adam das Gleiche, ließ jedoch weniger Zurückhaltung walten. Der TaU-Agent ließ den Biochemiker kaum aus den Augen. Datuk bekam davon nichts mit. Er überwachte die Sensoren und murmelte hin und wieder vor sich hin.
Monk fiel eine Bewegung ins Auge, doch das war kein Anlass zur Sorge. Eine leuchtend rote KitKat-Verpackung trieb auf dem Korallendach in der Strömung. Er hatte bereits weitere Belege von Umweltverschmutzung bemerkt: ein paar Bierdosen, mehrere Plastiktüten, einen großen Reifen. Es war traurig, dass man selbst in dieser Tiefe nicht der Welt an der Oberfläche entkommen konnte.
Doch es gab Schlimmeres.
Phoebe schnappte hörbar nach Luft.
Auch Monk hatte es bemerkt.
Vor ihnen tat sich eine schwarze Wunde in der leuchtenden Landschaft auf, ein riesiges Krebsgeschwür.
»Wir nähern uns der Position des U-Boots«, meldete Bryan.
Es war kaum vorstellbar, dass der Schaden vom Aufprall eines U-Boots stammte. Am Aufprallort der Sonde Track hatte der Wald noch geleuchtet.
Hier war es anders.
Die Korallen wirkten schwarz und tot. Die dunkle Fläche breitete sich in alle Richtungen aus.
Datuk hatte eine Erklärung. »Ich messe Gammastrahlung.«
Alle Blicke richteten sich auf ihn.
»Wie stark?«, fragte Monk.
»Achtzehn Rem«, antwortete er. »Ungefährlich, denn die Ummantelung wirkt abschirmend. Allerdings steigt die Strahlung stetig an. Wir sollten dem U-Boot nicht zu nahe kommen.«
Bryan hatte den Vortrieb bereits abgeschaltet. Ihr Schwung trug die Cormorant zum Rand der Todeszone.
»Zwanzig Rem«, meldete Datuk. »Dreißig …«
»Zurück«, befahl Monk.
Bryan kehrte den Schub um, worauf sie zurückglitten.
»Jetzt dürfte wohl klar sein, was die Korallen hier vernichtet hat«, meinte Adam. »Das havarierte U-Boot hat ein Strahlenleck. Wasser aber wirkt stark isolierend. An der zehn Kilometer über uns befindlichen Oberfläche sollte die Strahlung unbedenklich sein. Gefährdet ist nur das Meeresleben in unmittelbarer Umgebung.«
»Dann sollten wir aufpassen, dass uns das nicht mit einschließt«, setzte Monk hinzu.
Phoebe wandte sich an Adam. »Die Strahlung mag keine Gefahr für die Umwelt darstellen, aber irgendetwas hier unten bereitet Ihrem Onkel Sorge. Das ist der Abschnitt des Tongagrabens, in dem sich die Beben häufen. Die Havarie könnte ein Zufall sein, doch das glaube ich nicht. Vor allem, wenn das U-Boot bereits vor zwei Wochen gesunken sein sollte.«
Monk blickte Adam an. Sie wussten beide, dass dies vermutlich zutraf.
»Der Korallenwald existiert seit Urzeiten.« Phoebe schwenkte die Hand über die schwarze Fläche. »Dieser Schandfleck ist neu. Es muss einen Zusammenhang mit der Havarie geben. Da bin ich mir sicher.«
»Aber wir können der Sache nicht nachgehen«, rief Datuk ihr in Erinnerung.
»Was ist mit dem ROV an der Unterseite der Cormorant ?«
Phoebe schüttelte den Kopf. »Die Kabel reichen nur achtzig Meter weit. Wir sind noch 400 Meter entfernt. Um das ROV nutzen zu können, müssten wir näher herangehen.«
»Auf keinen Fall«, sagte Datuk. »Wenn die Strahlung weiterhin kontinuierlich ansteigt, wäre es dort für uns tödlich.«
»Aber wir würden nicht gleich tot umfallen«, erwiderte Phoebe.
Bryan pflichtete ihr widerwillig bei. »Die Titankapsel und das Bleiglas der Kuppel bieten einen gewissen Schutz. Bis zu einer bestimmten Grenze.«
Phoebe nickte. »Das heißt, wir würden wohl lange genug überleben, um die Ursache der Seebeben bestimmen zu können und möglicherweise herauszufinden, was man dagegen unternehmen könnte.«
»Bloß um anschließend an der Strahlenkrankheit zu sterben«, meinte Adam.
Phoebe zuckte mit den Schultern. »Wenn wir damit Millionen Menschenleben retten können …«
Monk hob die Hand. »Wir greifen vor. Wir sollten zunächst mal bestätigen, woher das U-Boot kam. Die, welche es geschickt haben, verfügen möglicherweise über Informationen, die es unnötig machen, dass wir uns opfern.«
Bryan zeigte nach vorn. »Wir sind nah genug, um mit den 4K-Kameras zoomen zu können.«
»Versuchen wir das«, sagte Monk.
Phoebe und Bryan machten sich an die Arbeit und gingen die acht Kameras der Cormorant durch. Außerdem richteten sie einen 2,5-m-Lichtmast auf.
»Die SeaCam ist anscheinend am besten geeignet«, meinte Bryan. »Sie hat den größten Zoom und ist für schwache Lichtstärke ausgelegt.«
Phoebe nickte. »Sehe ich auch so.«
Auf dem Monitor über der Pilotenstation wurde ein verschwommenes Bild angezeigt. Nach ein paar Anpassungen wurde es klarer, und der schwarze Fleck in der leuchtenden Landschaft zeichnete sich ab.
»Ich zoome jetzt ran«, sagte Phoebe.
Der Bildausschnitt veränderte sich. Der Fleck wurde größer und verwandelte sich in das körnige Bild eines grauen Turms, der aus den schwarzen Korallen hervorragte. Monk und Adam hatten sich beide die Überwachungsvideos der Huludao-Schiffswerft angeschaut. Der chinesische U-Boot-Typ 096 SSBN hatte einen sehr charakteristischen Turm.
Er wechselte einen Blick mit Adam.
Einen Turm wie diesen hier.
Adam nickte und blickte dabei Datuk an. Der Biochemiker zeigte keine Reaktion.
»Können Sie es identifizieren?«, fragte Phoebe.
Monk sah keinen Grund, weshalb er hätte lügen sollen. »Das ist ein chinesisches U-Boot.«
Phoebe runzelte die Stirn. »Dann können wir nur hoffen, dass die Chinesen bereit sind …«
Es dröhnte laut, das Kamerabild schwankte. Der Korallenwald türmte sich zu einer hohen Woge auf und kam immer näher. Bryan erhöhte den Schub, um dem Seebeben auszuweichen, was ihm nur knapp gelang. Der Korallenwald streifte die Unterseite des Tauchboots, als die Welle unter ihnen vorbeirollte.
Das DSV wurde durchgeschüttelt. Dieses Beben war noch heftiger als die anderen.
Doch das war nicht die einzige Gefahr.
»Die Strahlung steigt an!«, rief Datuk.
Bryan wendete die Cormorant und vergrößerte den Abstand.
»Achtzig Rem!«
Vermutlich war die Reaktorhülle durch das Beben weiter aufgerissen. Sie würden nicht rechtzeitig wegkommen.
»Hundert Rem! Sollte der Wert noch weiter zunehmen, besteht die Gefahr einer Strahlenvergiftung. Selbst hier drinnen.«
»Ich werfe den gesamten Ballast ab«, sagte Bryan. »Auch die externen Akkus.«
Es knallte gedämpft, als die Sprengbolzen gezündet wurden. Die Cormorant schoss nach oben wie der Korken aus einer Sektflasche.
Die leuchtende Landschaft fiel zurück. Der schwarze Fleck wurde größer, da immer weitere Teile der empfindlichen Korallen von der Strahlung zerstört wurden.
Das Funkmodem meldete sich. Der Sprecher klang panisch. »Cormorant , hier Titan X ! Verlassen Sie den Tongagraben. Sofort!«
Die Übertragung erfolgte mit Verzögerung. Die Warnung war vor sieben Sekunden ausgesprochen worden.
Monk konnte nur hoffen, dass es noch nicht zu spät war.