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24. Januar, 00:02 WIB
Jakarta, Java, Indonesien

Gray musste anerkennen, dass die Ortswahl für den Geisel­austausch einer gewissen Ironie nicht entbehrte. Die Lie­bes­brücke war eine Touristenattraktion im Küstenviertel Ancol im Norden Jakartas.

Er stand auf dem Westteil der U-förmigen Holzbrücke, die in die Jakarta Bay hinausragte und 300 Meter weiter zum Strand zurückführte. Die beiden Abschnitte fassten einen gebogenen Sandstrand ein. Die Holzkonstruktion und der Strand bildeten den Umriss eines großen Herzens am Rand der städtischen Bucht.

»Das ist bestimmt eine Falle«, sagte Seichan.

»Ist Liebe das nicht immer?«, meinte Gray und sah sie von der Seite an.

Liebe hatte sie hierhergeführt. Valya hatte in Singapur Seichans Mutter entführt. Über das Triadennetzwerk hatte die Russin mit ihnen Kontakt aufgenommen, einen Lebensnachweis erbracht und den Austausch arrangiert. In dem kurzen Video hatte Guan-yin zornig gewirkt, ein Auge war zugeschwollen. Valya hatte ihnen wenig Zeit gelassen, um nach Jakarta zu reisen. Ihr Angebot hatte sie vor gerade mal sechs Stunden vorgelegt. Entweder sie kamen nach Jakarta und übergaben ihr die Dokumente, die Gray im Museum an sich genommen hatte, oder Guan-yin würde an sie zurückgeschickt – Stück für Stück. Sie hatten sich beeilen müssen, um rechtzeitig nach Java zu gelangen.

Seichan, die bei Zhuang und einem Dutzend weiteren Mitgliedern der Duan-zhi-Triade stand, wirkte besorgt und wütend. Weitere Bewaffnete sicherten die Zugangswege zur Brücke an dieser Seite. Zhuang hatte ein Sturmgewehr von Heckler & Koch dabei. Seine Männer waren unterschiedlich bewaffnet.

Das 300 Meter entfernte andere Ende der Brücke wurde vom Gegner gleichermaßen bewacht. Gray hatte sich mit dem Fernglas ein Bild von der Lage gemacht. Valya stand neben Guan-yin. Die ehemalige Killerin der Gilde hatte ihre Verkleidung abgelegt. Ihr blasses Gesicht und ihr weißes Haar leuchteten im schwachen Schein der Straßenlaternen. Sie hatte nicht nur mehrere eigene Leute mitgebracht – ein aus Russen und Osteuropäern bestehender Trupp –, sondern auch eine große Anzahl chinesischer Schützen. Ihrer Haltung und den QBZ -Gewehren nach zu schließen, kamen sie vom Militär, möglicherweise von einer der Eliteeinheiten.

Da die beiden Lager ihre jeweilige Stellung befestigt hatten, würde der Austausch in der Mitte der Brücke stattfinden, wo der Holzsteg einen Knick nach innen beschrieb und die Mitte des Herzens markierte. An diesem markanten Punkt gab es ein Restaurant – Le Bridge –, doch um diese Zeit war es geschlossen und unbeleuchtet.

Gray sah auf die Uhr. »Bereit?«

»Es kann losgehen«, sagte Seichan.

Sie setzten sich in Bewegung, gefolgt von Zhuang und zwei Triadenmitgliedern, einer davon Yeung, der waffenstarrende Stellvertreter mit den stahlblauen Augen.

An der anderen Seite der Brücke machte sich eine zweite kleine Gruppe auf den Weg zum Treffpunkt. Valya hatte genaue Angaben zur Anzahl der Personen gemacht, die sich auf der Brücke treffen sollten. Sie wurde von zwei ihrer Leute und zwei chinesischen Bewaffneten begleitet. Einer der Söldner hielt Guan-yin eine Waffe an den Hinterkopf.

Die geforderte Bezahlung führte Gray unter der Jacke mit sich. Die Papiere steckten noch immer im säurefreien Plastikumschlag des Museums. Gray hatte sie bereits kopiert, deshalb waren die Kosten für den Austausch von Seichans Mutter minimal. Bislang hatte er nur einen flüchtigen Blick auf die Dokumente werfen können.

Darin ging es um versteinerte Menschen, eine seltsame Autopsie und eine wilde Behauptung bezüglich eines Mittels, das die Krankheit heilen und die Götter der Unterwelt besänftigen sollte. Beigefügt waren verschiedene Skizzen eines Korallentyps, zwei Zeichnungen einer Insel und die kindlich anmutende Darstellung einer Schlange.

Das ergab keinerlei Sinn und war vermutlich absichtlich bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt worden.

Aber wie hängt alles zusammen?

Diese Frage musste warten. Er konzentrierte sich auf die unmittelbare Bedrohung. Die dunkle Bucht lag spiegelglatt da und reflektierte die Mondsichel. Er hielt Ausschau nach einer Gefahr, einem Hinterhalt im Wasser. Doch um diese Zeit war kein einziges Boot unterwegs. Für U-Boote war das Gewässer zu flach. Falls Taucher im Wasser waren, machten sie kein Geräusch und erzeugten keine Luftblasen. Auch in dem kleinen, dunklen Restaurant hatte er nach versteckten Gegnern Ausschau gehalten. Entdeckt hatte er keinen, auch nicht mit dem Infrarot-Zielfernrohr.

Bislang hatte Valya ihre Zusagen anscheinend eingehalten.

Trotzdem wusste Gray es besser. Seichan hatte zweifellos recht.

Das ist eine Falle.

Allerdings war ihm nicht klar, wie sie zuschnappen sollte.

Beide schwer bewaffnete Parteien näherten sich dem Treffpunkt. Der Austausch sollte an einer gut einsehbaren Stelle stattfinden. Die einzige Garantie für ein Gelingen war die gegenseitige Vernichtungsdrohung.

Als Gray das geschlossene Restaurant erreichte, hatte er Herzklopfen. Zhuang schwenkte das Sturmgewehr herum und sicherte gegen einen möglichen Hinterhalt. Doch das Lokal war kaum größer als ein Coffeeshop. Yeung lief hinüber und leuchtete mit dem Zielscheinwerfer ins Innere. Niemand versteckte sich darin.

Sie gingen Valyas Gruppe entgegen.

Beide Parteien starrten von Waffen.

Gray hatte ein flaues Gefühl. Das würde kein gutes Ende nehmen.

00:06

Dr. Luo Heng klatschte sich mit einer flachen Hand auf den Hals und zerquetschte eine Mücke. Einer der Falke-Kämpfer zuckte zusammen. Der Soldat hatte ein Sturmgewehr angelegt und beobachtete durchs Zielfernrohr die beiden sich einander nähernden Gruppen.

Vor ihm bewachte ein Dutzend Männer – eine Mischung aus Söldnern und Militärs – das Ende der Brücke. Major Choi Xue unterhielt sich leise mit Hauptmann Wen, dem Anführer der Antiterroreinheit. Der Major hatte die Hand auf die QSZ -92-Pistole gelegt, die in seinem Gürtelholster steckte. In den nächsten Minuten musste alles glattlaufen, und Wen hielt offenbar nicht viel von ihren Verbündeten.

Heng hatte Verständnis für Wens Bedenken. Auf dem Herflug von Kambodscha hatte man ihn von den Plänen unterrichtet, die gestohlenen Dokumente wieder in ihren Besitz zu bringen. Die Söldner hatten zwar die Museumsdokumente verloren, aber eine Geisel mitgenommen – zusammen mit einem zerbeulten Stahlkasten, der Stamford Raffles gehört hatte.

Nach der Landung hatte Heng sich dessen Inhalt angeschaut. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wiesen die vor zwei Jahrhunderten gesammelten Korallenäste die gleiche Aragonit-Struktur auf wie das im Körper der toten U-Bootfahrer gefundene Karbonat, doch Gewissheit würde erst die Untersuchung der Kristallstruktur mit dem Elektronenmikroskop erbringen. Das zweite Artefakt, eine Speerspitze aus Holz, machte ihn ratlos. Sie wirkte alt, und es war denkbar, dass sie durch Zufall in dem Kasten gelandet und mit der Zeit vergessen worden war.

Xue kam zu Heng herüber. »Sobald die Dokumente übergeben wurden und wir die Echtheit bestätigt haben, bringen wir Sie zu einem Labor in Jakarta, in dem Sie arbeiten können.«

»Wir kehren nicht nach Kambodscha zurück?« Heng hatte Min dort zurückgelassen, wo die beiden Patienten Junjie und Wong weiter beobachtet wurden. »Dort gibt es noch viel zu tun.«

»Zunächst müssen wir herausfinden, ob dieser 200 Jahre alte Bericht irgendeine Bedeutung für die Gegenwart hat. Außerdem würde ich gern den historischen Aspekt untersuchen. Stamford Raffles hat die Dokumente in seiner Zeit als Vizegouverneur gesammelt. Sollte er weitere Hinweise hinterlassen haben, sind sie vermutlich hier zu finden.«

Heng nickte zustimmend. Im Grunde konnte er es kaum erwarten, die alten Korallen zu untersuchen.

Er schaute aufs Wasser hinaus. Die beiden Parteien hatten die Mitte der Brücke erreicht.

Auch Xue blickte zum Restaurant und tippte sich mit einem Zeigefinger auf den Oberschenkel. Sie waren beide ungeduldig und wohl auch besorgt. Eine Sache machte ihn nervös.

»Wer sind diese Amerikaner?«, flüsterte er.

00:08

Seichan biss die Zähne so fest zusammen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn ein Backenzahn zerbrochen wäre. Die Rechte hatte sie um die Glock 45 gelegt, den Finger am Abzug. Am liebsten hätte sie abgedrückt, doch sie hielt sich zurück.

Ein Russe mit buschigen Augenbrauen und dunkelblondem Haar bewachte ihre Mutter. Eine Hand hatte er in ihr Gewand gekrallt, mit der anderen hielt er ihr eine Waffe an den Kopf. Ihre Hände waren hinter dem Rücken ­gefesselt. Den seidenen Niqab hatte man Guan-yin abgenommen, ­sodass man ihre purpurfarbene Narbe und das Drachen­tattoo sah.

Auch Valya hatte jede Verstellung aufgegeben. Das schneeweiße Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, der Haaransatz bildete ein scharfes V auf ihrer Stirn. Ihre blasse Haut wirkte nahezu durchscheinend. Sie litt an Albinismus. Ihre Augen waren allerdings nicht rötlich, sondern eisblau. Hass brannte hinter dem Eis, während sie Seichan fixierte.

In diesem Moment wurde Seichan klar, wie sehr ihre Mutter und die Russin einander ähnelten, bis zu dem Tattoo an der linken Gesichtsseite. Valyas schwarze Tinte stellte eine Sonnenhälfte mit geknickten Strahlen dar, die sich über Wange und Stirn zogen. Inzwischen war auch eine Narbe eingebettet, eine knotige Linie, die durch die Sonnenmitte verlief. Beide Frauen hatten viel durchgemacht und ums Überleben kämpfen müssen, nachdem sie ihr Zuhause verloren hatten. Valya hatte sich der brutalen Gilde angeschlossen, Guan-yin den grausamen krimi­nellen Triaden. Beide hatten sich eine Position erarbeitet, in der man ihnen nicht mehr wehtun konnte, und waren die Anführerin ihrer jeweiligen Organisation geworden.

Gray näherte sich Valya, um die Dokumente zu überreichen, die Guan-yin die Freiheit bringen sollten. Seichan ließ die Killerin keinen Moment lang aus den Augen, registrierte jedes Muskelzucken, jede Veränderung des Gleichgewichts und jede Augenbewegung. Dennoch schnup­perte sie Grays Schweißgeruch, hörte seinen Atem und spürte seine Körperwärme, wenn er an ihrer Schulter streifte. Den Blick unverwandt auf Valya gerichtet, fragte sie sich, wo sie jetzt stünde, wenn sie nicht Gray gefunden hätte.

Würde ich dann auf der richtigen Seite stehen?

Gray zeigte seine leeren Hände vor und nahm vor Valya Aufstellung. Seine Windjacke flatterte im Meereswind und entblößte die SIG Sauer, die im Holster steckte – neben dem gefalteten Dokumentenstapel, den er hinter den Gürtel geschoben hatte. Langsam zog er den Umschlag hervor, hielt ihn aber außer Reichweite ihrer Gegnerin.

»Geben Sie Guan-yin frei«, sagte er bestimmt. Er bückte sich und legte die Dokumente auf die Holzplanken der Brücke, dann trat er zurück. Er zog die Pistole, beließ sie jedoch auf Höhe des Oberschenkels.

»Erst muss ich die Dokumente prüfen«, sagte Valya. »Mich vergewissern, dass es sich um keine Finte handelt. Auf der Inventarliste des Museums sind vierzehn Seiten aufgeführt. Ich hoffe, sie sind vollständig.«

»Ich habe mein Wort gehalten. Ich erwarte, dass Sie das Gleiche tun.«

Valya nickte, worauf Seichans Mutter nach vorn gescho­ben wurde. Valya packte Guan-yin beim Ellbogen und drückte ihr eine Beretta in die Seite. Ihre beiden Begleiter zielten mit ihren Waffen auf Gray. Der trat noch einen Schritt zurück, damit es zu keinem Missverständnis kam.

Seichan legte den Finger an den Abzug.

Valya bückte sich nach dem Umschlag, die Augen auf Gray gerichtet, die Pistole auf Guan-yins Herz. Sie hob den Umschlag hoch und verlagerte das Gewicht aufs rechte Bein. Ihre Augen verengten sich leicht.

Nein …

Seichan wusste, was passieren würde – oder glaubte es zu wissen. Auch Guan-yin ahnte es offenbar. Sie fiel auf ein Knie nieder und drehte sich zu ihren Bewachern um. Sie riss die rechte Hand hoch, darin eine kleine Pistole. Durchtrennte Kabelbinder fielen zu Boden.

Valya wandte sich ebenfalls um.

Die beiden Frauen feuerten gleichzeitig.

Die beiden chinesischen Söldner brachen mit Einschusslöchern in der Stirn zusammen.

Valya stieß sich mit dem rechten Bein ab und stürmte auf Seichan und Gray zu. »Lauft!«, schrie sie, den Umschlag an sich gedrückt.

Guan-yin setzte ihr nach, gefolgt von Valyas beiden Begleitern.

»Pa ă o!« , brüllte Guan-yin, der Befehl zur Flucht.

Gray wurde mitgerissen. Seichan folgte ihrer Mutter und zielte mit der Glock auf Valya, die von ihren beiden Leibwächtern flankiert wurde.

Guan-yin drückte Seichans Arm nach unten. »Mh’ hóu.«

Weitere Erklärungen mussten warten. Von den Chinesen an der anderen Seite der Brücke wurden sie unter Feuer genommen. Planken splitterten, Kugeln zischten im Wasser, doch wegen eines Feuergefechts an der anderen Seite waren die Schüsse schlecht gezielt. Offenbar hatten Valyas Männer die Soldaten angegriffen.

Lange würde die Auseinandersetzung jedoch nicht dauern.

Die Chinesen gewannen bereits die Oberhand. ­Valyas Männer flüchteten über die dunklen Nebenstraßen des Uferviertels. Die Schüsse wurden gezielter, während Seichan und die anderen das Restaurant passierten und zu ihrer Seite der Brücke liefen. Die Triadenmitglieder empfingen sie mit Feuerstößen ihrer Sturmgewehre, gezielt auf die chinesischen Kämpfer, die sie daran hindern wollten, auf die Brücke zu stürmen.

Seichan hielt die Glock in der Hand. Im Laufen wechselte sie einen Blick mit Gray. Inzwischen war ihnen beiden klar, was passiert war. Valya hatte nicht vorgehabt, Guan-yin gegen die Dokumente auszutauschen. Sie wollte sich mit Seichans Mutter ein eigenes Leben erkaufen.

Als die Chinesen in Jakarta eintrafen, hatte sie offenbar den Eindruck gewonnen, sie sitze in der Falle und sei in Gefahr. Die Chinesen sahen keinen Grund mehr, ihre Söldner zu verstecken. Deshalb und weil ihr Team gleich zwei Mal versagt hatte – in Hongkong und im Museum –, hatte Valya sich denken können, dass die Chinesen bald keine Verwendung mehr für sie haben würden.

Guan-yin hatte ihr einen Ausweg angeboten und ihr die Unterstützung der Triaden versprochen, wenn Valya ihr zur Flucht verhalf.

Ein Leben für ein Leben.

Als sie sich der Westseite der Brücke näherten, hob Seichan die Pistole.

Ich habe kein Versprechen abgegeben.

Obwohl Valya ihr den Rücken zukehrte, spürte sie anscheinend die Gefahr. Sie kam rutschend zum Stehen, wandte sich um und richtete ihre Beretta auf Seichan.

»Schluss damit!«, befahl Guan-yin und trat dazwischen. »Ich habe Mikhailov zugesichert, dass sie unter meinem Schutz steht, bis sie die Region verlässt.«

Ein solches Versprechen galt bei den Triaden als heilig. Es zu brechen, hätte Guan-yin und die ganze Duan-zhi-Triade entehrt.

Zhuang ließ weitere Bewaffnete vorrücken, um die Brücke während der Hängepartie zu sichern. Das Dauerfeuer hielt die Chinesen in Schach, doch es würde nicht lange so bleiben.

»Laufen Sie weiter!«, sagte Guan-yin zu Valya und schwenkte die Hand. Der Hass, den sie für die Killerin empfand, verlieh ihren Worten Schärfe. »Nehmen Sie Ihre Leute mit. Zhuang, sorg dafür, dass man ihre Gruppe passieren lässt.«

Valya legte die letzte Strecke rückwärtsgehend zurück, die Pistole auf Seichan gerichtet. Seichan wiederum zielte unentwegt auf Valya. Obwohl sie vor Zorn am ganzen Leib zitterte, hielt sie den Arm vollkommen ruhig und sah ­Valya in die Augen. Beide Frauen waren bereit abzudrücken, doch sie wussten, dass ihre Rache warten musste.

Trotzdem wollte Seichan die Killerin nicht noch einmal entkommen lassen. Sie zielte mitten zwischen die eisblauen Augen.

Diesmal nicht.

00:21

Gray lief zu Seichan, denn er fürchtete die Folgen, wenn Guan-yins Versprechen auf einen ungehinderten Abzug gebrochen würde. Bevor er sie erreichte, bebte die Erde.

Die Brücke wurde hochgedrückt, Holz splitterte. In der ganzen Stadt gellten die Sirenen. Der Steg brach unter ihren Füßen.

Schon wieder ein Beben  …

Valya rettete sich auf festen Boden. Sie wurde von Triadenmitgliedern umringt, darunter auch Zhuang.

Gray stürzte zu Seichan und Guan-yin. Mit Yeungs Hilfe geleitete er sie über die schwankenden Überreste der Brücke zum Ufer. »Wir sollten nicht mehr hier sein, wenn der nächste Tsunami …«

Es donnerte, als ginge die Welt unter. Der Boden hob sich und schleuderte sie von der Brücke ins Wasser. Da sie sich in Strandnähe befanden, war es nur knietief.

Gray rappelte sich hoch, watete zu Guan-yin und half ihr auf die Beine.

Seichan schloss sich ihnen an, die Pistole noch immer in der Hand.

Gray zeigte zum Ufer. Sie waren auf der anderen Seite der Brücke gelandet, abgeschirmt von den Stützpfeilern. Trotz des Bebens wurde an der anderen Seite weiter geschos­sen.

Sie wateten durchs aufgewühlte Wasser. Es war nicht weit, doch der Untergrund war durch das Erdbeben aufgelockert worden und hatte sich in Treibsand verwandelt. Mit jedem Schritt knallte es dröhnend laut. Trotz der Entfernung fühlte es sich jedes Mal an wie ein Schlag in die Magengrube. Schließlich erreichten sie den Strand und stiegen aus dem Wasser.

Zhuang lief ihnen entgegen und drängte sie zur Eile. Valya hatte er in Begleitung von mehreren Triadenmitgliedern offenbar vorgeschickt.

»Wohin gehen wir?«, fragte Gray.

Die Chinesen hatten sich inzwischen vom anderen Ende der Brücke zurückgezogen. Gray und seine Begleiter mussten wachsam bleiben, denn sie hatten den Chinesen nichts mehr zu bieten. Valya hatte den Umschlag mit den Dokumenten bei sich, den sie auf der Brücke an sich genommen hatte. Vielleicht hatte sie es von vorneherein darauf angelegt gehabt, sich die Beute zu schnappen und sie später an die Chinesen zu verkaufen.

Abwegig war das nicht, zumal Valya einiges zuzutrauen war.

»Hier entlang.« Zhuang geleitete sie vom Strand weg; offenbar wusste er genau, wohin er sie bringen wollte. Vor der Landung in Jakarta hatte er angedeutet, die Triade unterhalte in der Stadt ein Safehouse.

Gray hoffte, dass es stimmte.

Das Beben hatte inzwischen aufgehört, doch die Detonationen gingen weiter. Es klang wie Kanonenfeuer. Manchmal ganz nah, dann wieder weiter weg.

»Was geht da vor?«, fragte Guan-yin, die sich zur Bucht umsah.

Gray zeigte nach Osten. Der Nachthimmel leuchtete rot, als ginge die Sonne auf. »Vulkanausbrüche.«

Und nicht nur in dieser Richtung. Ringsumher wurde der Horizont von Flammen erhellt. Es knallte unentwegt, als sei das Ende der Welt gekommen.

Sie erreichten die City und entfernten sich weiter von der Bucht, denn es war nur eine Frage der Zeit, wann der Tsunami eintreffen würde. Das Beben war nicht besonders stark gewesen und hatte auch nicht lange angehalten. Doch offenbar hatte es auf den Vulkaninseln die Kettenreaktion ausgelöst, die von den Geologen vorhergesagt worden war. Es lag bereits Schwefelgeruch in der Luft, vom steifen Meereswind aus der Region mit den hellsten Flammen herangeweht.

Die Straßen waren verstopft. Viele Menschen blickten zum flammenden Horizont. Blitze zuckten und beleuchteten die von einem glühenden Krater aufsteigende schwarze Wolke.

»Da drüben!«, rief Zhuang.

Der Triadenleutnant geleitete sie unbeirrt über die Straße, während die Panik zunahm und das Geschrei immer lauter wurde. Er zog sie in eine Gasse, führte sie um mehrere Ecken und hielt dann vor einem unscheinbaren hohen Tor an.

»Da drinnen sind wir sicher«, sagte Zhuang.

Gray bezweifelte das, folgte aber den anderen auf den kleinen Hof, der von dreistöckigen Fassaden mit Balkonen umschlossen war. Er schaute hoch. Die Sterne verblassten allmählich und wurden vom heranwogenden Rauch ausgelöscht.

Asche rieselte vom Himmel. Die heißen Körnchen brannten auf Wange und Stirn.

Die Eruptionen hatten endlich aufgehört, doch es fühlte sich an wie ein Atemholen vor dem Weltuntergang.

In der Innentasche seines Sakkos summte es. Er holte das Satellitentelefon hervor, das man ihm in Singapur gegeben hatte. Eine einzige Person hatte die Nummer.

Gray hielt sich das Telefon ans Ohr. »Direktor Crowe.«

»Gray«, sagte Painter. »Gott sei Dank sind Sie wohlauf. Sie müssen mit Ihren Leuten aus der Region verschwinden. Die Projektionen deuten auf einen geologischen Kollaps hin. Bei Ihnen droht die Hölle auf Erden.«

»Was ist mit den Chinesen und dem U-Boot?«

»Das ist jetzt unsere geringste Sorge.«

Gray blickte zur Straße.

Nicht für die Chinesen.

Gray aber hatte eigene Sorgen. »Konnten Sie Monk und Kowalski warnen?«

Das Schweigen dehnte sich. Gray fürchtete schon, die Verbindung sei abgebrochen.

Schließlich antwortete Painter. »Kat versucht, sie zu erreichen, seit sie wieder in D. C. ist. Die Titan X und deren Basisstation im Korallenmeer sind verstummt. Wir wollen einen Zugang zu einem Überwachungssatelliten der NSA bekommen, doch vor zwei Stunden hat es auch auf umliegenden Inseln Ausbrüche gegeben – auf der Kermadec-Kette in der Nähe des Tongagrabens und den Salomon-Inseln in der Nähe des Titan -Projekts.«

Gray schluckte. Das war lange vor dem hiesigen Beben gewesen.

»Dichte Aschewolken verdecken dort die Sicht«, sagte Painter. »Im Moment haben wir keinen optischen Zugriff. Selbst die SAR -Satelliten, die normalerweise dichte Wolken und Rauch durchdringen, werden von den starken elektrischen Entladungen in den Aschewolken gestört. Möglicherweise sendet aber auch der Gegner Störsignale. Oder beides trifft zu.«

Gray schaute nach oben. Die Sterne waren vollständig verdeckt. Da der heiße Ascheregen immer stärker wurde, suchte er Schutz unter einem Balkon.

»Wir probieren es weiter«, versprach Painter. »Sie sollten das Gebiet verlassen, bevor alle Flüge gestoppt werden.«

»Dafür dürfte es bereits zu spät sein.«

»Dann beschaffen Sie sich ein Boot.«

In der Richtung der Bucht grollte und krachte es. Es war das gleiche Geräusch wie gestern. Ein Tsunami hatte die Küste getroffen, vermutlich ausgelöst durch einen nahen Vulkanausbruch.

Er dachte an die 200 Jahre alten Berichte vom Ausbruch des Tambora. Sir Stamford Raffles war Augenzeuge gewesen. Die Geschichte wiederholte sich, bloß hundertfach schlimmer.

Er hatte die Dokumente aus dem Museum nur überfliegen können, doch Raffles’ einleitende Zeilen gingen ihm nicht aus dem Kopf: Die Hoffnung der Welt ruht auf diesen Seiten.

»Gray?«, fragte Painter. »Was werden Sie tun?«

»Ich bleibe hier.«

»Warum?«

Die Frage war berechtigt. Obwohl er Stamfords Bericht noch nicht gründlich gelesen hatte, spürte er, wie wichtig er war. Sein merkwürdiger Verstand, wie Seichan das nannte, beschäftigte sich bereits mit dem Rätsel, von dem bislang nur ein paar Bruchstücke bekannt waren. In dem Bericht hatte Stamford jedoch eine mögliche Lösung aufgeführt, eine Möglichkeit, die Götter der Unterwelt zu besänftigen .

In der Ferne dröhnte es erneut.

Painter wiederholte seine Frage. »Weshalb wollen Sie bleiben?«

»Um herauszufinden, wie man mit den Göttern sprechen kann«, antwortete er nach bestem Gewissen.