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24. Januar, 2:40 NCT
640 Kilometer vor der Norfolkinsel (Australien)

Kapitän Tse Daiyu betrachtete stirnrunzelnd die Sonaranzeige auf der Brücke der Dayangxi . Die Daten stammten nicht vom Schiff, einem Helikopter-Landedock vom Typ 076, sondern wurden von einer Reihe von Sonarbojen übermittelt, die sie im Umkreis der auf dem Korallenmeer schwimmenden großen Forschungsstation abgeworfen hatten.

Der leuchtende Sonarmonitor zeigte eine 3D-Karte des Meeresgrunds. Sie starrte die Bescherung in drei Kilometern Tiefe an. Die Unterwasserstation hatte sich in mehrere untertellerartige Flecken aufgelöst, die sich langsam von­einander entfernten.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Daiyu. »Hat das Schneeleopardenteam die Station bereits zerstört?«

Hinter ihr saß ein Funker in blauer Tarnuniform an seiner Konsole. Er hatte sich einen Kopfhörer über das eine Ohr geschoben. »Es herrscht Verwirrung, Kapitän. Die nach unten entsandten Leute sind noch nicht wieder aufgetaucht. Bislang wurden von den Hydrophonen an der Meeresoberfläche keine Unterwasserdetonationen regis­triert.«

»Was ist dann passiert?«

»Das ist unklar. Es könnte einen Unfall gegeben haben.«

Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. Ungewissheit war ihr zuwider. »Haben wir noch die Kontrolle über die Oberwasserstation?«

Der Mann nickte heftig. »Shi.«

Daiyu trat vors Bugfenster. Das dunkle Meer war spiegelglatt, als werde es von den tiefhängenden Wolken platt gedrückt. Die Scheinwerfer der Dayangxi wurden von der herabfallenden Asche getrübt. Hin und wieder blitzte es in den wogenden Aschewolken.

Im Westen, achtzig Seemeilen hinter dem Heck, war ein schwaches Leuchten auszumachen. Es markierte das Oberdeck der Forschungsstation, die nach dem Raketenangriff noch immer brannte. Das Schneeleopardenteam hatte einen Helikopter zerstört, worauf ein Z-8-Transporthubschrauber landen und die schwerbewaffneten Kämpfer absetzen konnte. Gleichzeitig waren drei Kampfboote mit jeweils vierzig Soldaten an Bord vom gefluteten Welldeck der Dayangxi aufgebrochen. Sie hatten die Station erreicht und rasch eingenommen.

Daiyu hatte den Angriff aus der Ferne überwacht. Die Dayangxi war bereits mit voller Kraft der Gasturbine und des Dieselantriebs unterwegs. Als sie in großem Abstand die Forschungsstation passierte, war sie kaum langsamer geworden. Die Station war zweitrangig. Ihr eigentliches Ziel war der Tongagraben.

Trotzdem hatte sie den Angriff von der Kampfleitstelle der Dayangxi aus verfolgt, um notfalls zusätzliche Kräfte zu Wasser und in der Luft bereitzustellen. Im Moment wartete auf einer elektromagnetischen Startvorrichtung auf dem Flugdeck eine Stealth-Drohne vom Typ Hongdu GJ -11 Scharfes Schwert auf den Einsatz. Sie war ein wenig enttäuscht, dass kein Bedarf dafür bestand – was sie allerdings nicht verwunderte. Die Forschungsstation war kaum geschützt und verfügte nur über geringe Feuer­kraft.

Sie schaute noch einen Moment zur brennenden Station hinüber, dann ging sie zurück zur Sonarkonsole.

Sie zeigte auf den Funker. »Funken Sie das Schneeleopardenteam an. Wenn die Taucher einsatzbereit sind, sollen sie alles sprengen und die Überwasserstation versenken. Anschließend sollen sie zur Dayangxi zurückkehren.«

»Zu Befehl.«

Der Helikopter der Schneeleoparden und die Kampfboote waren weit schneller als die 200 Meter lange Da­yangxi . Das Angriffsteam würde sie mühelos einholen, während das Landedock sich langsam dem Graben näherte. In der nächsten Stunde beabsichtigte sie, ein weiteres schnelles Boot einzusetzen, das noch im Welldeck lag. Damit wollte sie den Graben vor der Dayangxi erreichen.

Sie dachte an das wartende Boot und ballte die Hände zu Fäusten.

Ausgesprochen passend, dass ich ein solches Boot befehlige.

Die Marine der Volksbefreiungsarmee hatte Daiyus Spezifikationen für die AI -gesteuerte Zhu Hai Yun ­sowie deren Ausstattung mit autonomen Drohnen übernommen. Sie hatte eine Militärversion gebaut und auf die Yema montiert, ein Luftkissenboot vom Typ 726. Auf dem Meer machte es achtzig Knoten und war somit drei Mal so schnell wie die Dayangxi . Damit würde sie den Graben in etwa fünf Stunden erreichen. Dort angelangt, würde sie sich mit dem im Anmarsch befindlichen Jagd-U-Boot koordinieren. Das ­U-Boot hatte Anweisung, bis zu ihrem Eintreffen ausschließlich zu patrouillieren .

Sie ballte die Hände noch fester.

Niemand wird mir die Schau stehlen.

Sie wollte dem Kapitän des Jagd-U-Boots nicht das Kommando über den Ort überlassen, an dem die Changzheng 24 gesunken war. Stattdessen wollte sie die militärischen Fähigkeiten und den Wert ihrer autonomen Systeme demonstrieren. Das im Deck wartende modifizierte Luftkissenboot hatte einen Kampfpanzer und zahlreiche Drohnen an Bord, alle einzigartig und tödlich. Außerdem war es mit einer Tiefseetauchkapsel ausgestattet, die in der Lage war, bis zum Meeresgrund zu tauchen, auf seine Art ebenso gefährlich wie ihre anderen Entwürfe.

Sie lächelte. Sie würde sowohl das Jagd-U-Boot als auch die schwerfällige Dayangxi übergehen. Stattdessen würde sie Beijing beweisen, dass es an der Zeit war, über die alten Kriegswaffen hinauszublicken. Sie würde ihnen einen neuen – und besseren – Weg in die Zukunft weisen.

Und ich werde uns dabei führen.

»Kapitän Tse«, sagte der Funker. »Ich habe Ihre Befehle an das Schneeleopardenteam gefunkt. Aber die Verbindung wird durch die Asche immer stärker gestört. Die Funktion der Antennen wird durch die elektrisch aufgeladene Luft beeinträchtigt.«

Wie zum Beleg zuckte ein gleißender Blitz über den Him­mel.

Finster musterte sie die tief hängenden Wolken. An Steuerbord loderten Feuer in der Dunkelheit – die ausgebrochenen Vulkane der Salomon-Inseln. Sie überlegte, wie sie dieses Phänomen für sich nutzen könnte.

Vor sieben Stunden war sie auf der Dayangxi gelandet und hatte das Kommando über das Schiff übernommen. Auf dem Meer hatte sie von den gemeldeten Beben nichts mitbekommen. Sie hatte lediglich die Vulkanausbrüche und die Aschewolken bemerkt, was an und für sich schon besorgniserregend genug war. Später hatte sie ein kurzes Funkgespräch mit Choi Agua geführt. Er glaubte, die tekto­nische Aktivität sei ein weiterer Beleg für seine Theorie, und fühlte sich in seinen Hoffnungen auf das, was im Wasser verborgen lag, bestärkt.

Daiyu sah auf ihre Füße nieder und versuchte, sich das in der Erdkruste eingebettete Bruchstück eines Planetoiden vorzustellen. Choi zufolge war es die Ursache für das sich ausbreitende Chaos und die Eruptionen. Sie war skeptisch – obwohl ihr die Vulkanausbrüche in der Region zu denken gaben.

Was ihren eigenen Ehrgeiz betraf, so wusste sie, was Aigua im Graben zu entdecken hoffte. Er war überzeugt, die Havarie der Changzheng 24 habe die Kette der Ereignisse irgendwie ausgelöst. Wenn sie herausbekamen, wie das abgelaufen war – in welchem Zusammenhang es mit den versteinerten Toten, den Kristallen der Gesteinsprobe vom Mond und dem merkwürdigen ELF -Impuls stand –, könnte dies zur Entwicklung einer machtvollen Waffe beitragen, die in der Lage wäre, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern. Im Erfolgsfall würde sie es China ermöglichen, die ganze Welt zu dominieren, und eine neue glanzvolle Dynastie erschaffen, die fortbestehen würde, bis die Sonne erlosch.

Obwohl sie Aiguas Theorie nicht vollständig akzeptierte, wagte sie doch nicht, sie abzutun.

Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass er recht hat …

Auf dem Monitor fiel ihr eine Bewegung ins Auge. Die Einzelteile der Unterwasserstation hatten sich noch weiter voneinander entfernt. Die untertellerartigen Teilstücke schienen auch langsam höher zu steigen. Vor allem aber der kleinste Teil weckte ihr Interesse. Er verharrte in der Tiefe und trieb seitlich ab.

Argwöhnisch und neugierig kniff sie die Augen zusammen.

Plötzlich verpixelte die Anzeige. Nach ein paar Sekunden stellte sie sich wieder her, doch das Bild wurde immer wieder unscharf.

»Die Interferenzen werden stärker«, meldete der Funker. »Vielleicht aufgrund der elektromagnetischen Effekte der Vulkaneruptionen, an denen wir vorbeikommen. In etwas größerer Entfernung sollte sich die Übertragung wieder stabilisieren.«

»Geben Sie Ihr Bestes«, sagte Daiyu.

Sie straffte sich und blickte nach vorn. Das Schicksal der Forschungsstation rückte bereits in den Hintergrund. Sie vertraute darauf, dass das Schneeleopardenteam sich der Sache annehmen würde. Außerdem hatte sie zusätzliche Vorkehrungen getroffen. Vor dem Aufbruch hatte sie UUV s ausgesetzt. Die unbemannten Unterwasserfahrzeuge operierten autonom. Sie waren in der Lage, anomale Kavi­tationen zu erkennen, ihnen zu folgen und sie anzugreifen. Wurden sie entdeckt, verwandelten sie sich in selbst gesteuerte Torpedos.

Sie dachte an das kleine davontreibende Stationsfragment. Wenn es zu weit abkam, würde es gesprengt werden. In dem Bewusstsein, dass alles geregelt war, schob sie ihre Bedenken beiseite und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihr lag. Sie dachte an die große Forschungsjacht – die Titan X .

Lächelnd schaute sie aufs dunkle Meer hinaus.

Ein weiteres Ziel, das es zu zerstören galt, ein weiterer Schritt zum Ruhm.