Vom gartenseitigen Balkon des Safehouse aus musterte Seichan die Höllenlandschaft. Heiße Asche regnete auf die Stadt herab. Wolken hingen tief über der Insel. An vier Bergen leuchteten die Hänge. Sie waren so nah, dass die Lavaströme deutlich zu erkennen waren.
Inzwischen kannte sie die Namen der Berge.
Aalak, Gede, Cereme, Papandayan.
In Indonesien waren noch weitere Vulkane ausgebrochen, doch der dichte Rauch hatte die Sicht auf die vier Gipfel und die bedrohte Stadt am Rand der Javasee verengt.
Ständig donnerte es, bisweilen so laut, dass Fensterscheiben barsten. Unablässig bebte der Boden. Die Berge stießen dunkle Wolken aus, die von der glühenden Lava und Blitzen erhellt wurden. Die schwefelhaltige Luft brannte in der Lunge. In Teilen der Stadt war Feuer ausgebrochen.
In der Nähe wurde gerufen und geschrien. Fuhrwerke und schwer beladene Autos schlichen durch die Düsternis. Alle trugen Atemmasken zum Schutz vor der Asche und dem Gestank. Doch wohin sollten sie fliehen? Wegen des Ascheregens war der Flugverkehr eingestellt worden. An der Küste musste mit Flutwellen gerechnet werden.
Eines war klar.
Wir sitzen hier in der Falle.
Seichan hoffte, dass dies auch für andere galt. Bei der Begegnung auf der Brücke hatte Valya so selbstzufrieden gewirkt. Zwar war Seichan froh, dass sie ihre Mutter befreit hatte, doch sie fragte sich, ob das dicke Ende noch bevorstand.
Guan-yin legte ihr eine Hand auf die Faust. Sie stand neben der offenen Balkontür. Trotz der glühenden Hitze und des Gestanks rauchte sie eine Zigarette.
»Wir werden unsere Chance schon noch bekommen«, versicherte ihr Guan-yin und stieß langsam den Rauch aus. Sie spürte, wie frustriert Seichan war. »Vergiss nicht, meine Tochter, wonsungido namueseo tteoleojinda .«
Seichan hob eine Braue; sie kannte das koreanische Sprichwort. »Auch Affen fallen von Bäumen.«
Guan-yin nickte. »Die Russin glaubt, sie wäre so gewandt wie ein Baumaffe, doch sie wird Fehler machen. Du musst dich gedulden und auf den richtigen Moment warten.«
»Oder ich jage sie und töte sie, bevor sie uns erwischt.« Seichan konterte die Bemerkung ihrer Mutter mit einem weiteren Sprichwort, diesmal einem vietnamesischen. »Vi ệ c hôm nay ch ớ để ngày mai.«
Im Falle von Valya hielt sie es für passender.
Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen.
Guan-yin zuckte mit den Schultern. »Hoffen wir, dass es ein Morgen gibt.«
Seichan blickte in das Zimmer, in dem Gray über den Kopien brütete, die er von den Museumsdokumenten angefertigt hatte. Zhuang stand ihm gegenüber und stützte sich auf die Tischplatte.
Seichan ging wieder hinein. »Mal sehen, ob die beiden vorangekommen sind.«
Gray stützte das Kinn auf eine Hand, den Ellbogen auf den Tisch gepflanzt. Es war drückend schwül im Raum. Ein tief hängender Ventilator sorgte für ein wenig Linderung.
Das Haus aus der Kolonialzeit lag in der Altstadt von Jakarta. Nach außen hin wirkte es verfallen. Die Fassade bröckelte, die Fenster waren zugeklebt. Der Garten war von Unkraut überwuchert. Doch darin brummte ein moderner Stromgenerator, und ein Triadenmitglied achtete darauf, dass die Asche nicht den Luftfilter verstopfte. Der Rest der Stadt lag im Dunkeln, stellenweise erhellt von Flammen und den flammend roten Hängen der Vulkane.
Der Salak war nur dreißig Kilometer entfernt. Hin und wieder waren Detonationen zu hören, und der Himmel leuchtete auf, als wollte er sie dafür tadeln, dass sie das Rätsel nicht lösten.
Gray verschob die auf dem Tisch ausgebreiteten Papiere. Er hatte sie viele Mal gelesen und in den verblassten, in akkurater Handschrift verfassten Zeilen nach Antworten gesucht. Der Bericht stammte von Sir Stamford Raffles und handelte von der Entdeckung zweier versteinerter Toter. Die beiden Leichen waren von einem Schiff geborgen worden, das den Ausbruch des Tambora untersuchen sollte. Ein Arzt namens Dr. John Crawfurd hatte eine Autopsie durchgeführt, derselbe Mann, den Stamford nach der Absetzung seiner Nemesis William Farquhar zum Gouverneur von Singapur ernannt hatte.
Seichan kam herein, begleitet von ihrer Mutter. »Hast du schon etwas herausgefunden?«
Gray richtete sich seufzend auf. »Nichts, was irgendeinen Sinn ergibt.«
»Sag mir, was du weißt.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Lass uns drüber reden.«
Er hatte für sie bereits einen Teil des Berichts zusammengefasst, deshalb ließ er den aus. »Die beiden Toten waren Johannes Stoepker – Mitglied der Batavischen Gesellschaft – und ein Aborigine-Schiffsjunge namens Matthew. Dr. Crawfurd glaubte, Stoepkers Leichnam, der nur teilweise petrifiziert war, berge einen Hinweis auf ein Heilmittel.«
»Hat er es gefunden?«
»Nicht direkt. Bei der Untersuchung von Stoepker gelangte er zu der Überzeugung, irgendetwas habe den Petrifizierungsprozess gestoppt. Leider nicht rechtzeitig, um dem Mann das Leben zu retten. Allerdings hatte Stoepker lange genug überlebt, um einen Bericht zu hinterlassen. Darin schilderte er das giftige Meer und eine nach dem Ausbruch des Tambora im Wasser lauernde Gefahr. Was immer es war, es hatte sein eigenes Schiff sowie ein Piratenschiff in Brand gesetzt.«
»Was war das?«
Gray lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Stoepker glaubte, es handele sich um eine seltsame Koralle. Ich vermute, dass sich ein Stück davon in dem Kasten befand, den die Chinesen von Valya bekommen haben. Irgendwas hat darin geklappert.«
»Weshalb glaubst du, das könnte eine Koralle gewesen sein?«
Gray blätterte in den Papieren. »Crawfurd hat nicht nur die Toten seziert, sondern auch einen Biologen hinzugezogen, um einen Korallenast zu untersuchen. Sieh dir das mal an.«
Gray zog eine Seite aus dem Stapel. Darauf waren ein Korallenast und mikroskopische Details des Skeletts abgebildet.
Seichan schnitt eine Grimasse. »Die Koralle sieht aus wie ein Finger.«
Gray nickte. »Da könntest du recht haben. Aufgrund der pathologischen Untersuchung glaubte Crawfurd, die Toten seien auf die gleiche Weise mineralisiert wie die Koralle.«
Er nahm ein anderes Blatt in die Hand und las vor: »Die Knochen der Toten scheinen sich aufgelöst und in eine kristalline Substanz umgewandelt zu haben, die sich ins umliegende Gewebe ausgebreitet hat. Daher weist das Fleisch eine unnatürliche Sprödigkeit auf.«
Zhuang verzog angewidert das Gesicht. »Kann das sein?«
Gray zuckte mit den Schultern. »Ausschließen lässt es sich nicht. In Anbetracht dessen, dass die Forscher von der Titan im Tongagraben einen riesigen Korallenwald entdeckt haben, könnte dies bedeutsam sein.«
»Was haben Stoepker und Crawfurd sonst noch notiert?«, fragte Seichan.
»Nur das. Damit endet der Bericht. Mir kommt es so vor, als sei er bewusst an dieser Stelle abgebrochen worden. Das Ganze wirkt unvollständig. Außerdem zieht Crawfurd keine weiteren Schlüsse.«
Zhuang deutete auf die Seiten. »Was ist mit den Zeichnungen?«
»Kann ich nicht sagen. Möglicherweise sollen sie weitere Hinweise geben. Wenn Stamford Sorge hatte, jemand wie Farquhar könnte sein Geheimnis enthüllen, hat er vielleicht einige Seiten anderswo versteckt.«
»Weil er nicht alle Eier in einen Korb legen wollte«, meinte Seichan.
»Wäre möglich. Aber wenn es so ist, komme ich nicht weiter.«
Guan-yin mischte sich ein. »Was ist auf den Zeichnungen zu sehen?«
Gray schob ein Blatt Papier nach vorn. »Das hier ist die detailreiche Darstellung einer Insel mit Einheimischen.«
Seichan betrachtete die Zeichnung stirnrunzelnd. »Vielleicht ist sie zufällig bei dem Bericht gelandet. Irgendwann glaubte man, sie gehöre dazu.«
»Das habe ich zunächst auch gedacht, doch dann fiel mir das hier auf.«
Er zog eine weitere Zeichnung hervor, die eine strohgedeckte Hütte darstellte, vermutlich auf derselben Insel gelegen.
»Wieso glaubst du, das wäre wichtig?«, fragte Guan-yin.
Gray tippte auf den linken unteren Rand der Zeichnung. Dort saß eine Gestalt in Kolonialkleidung, die sich anscheinend mit Einheimischen unterhielt.
»Das könnte Crawfurd sein«, sagte Gray. »Sicher bin ich mir nicht, aber es sieht so aus, als habe jemand aus dem Bericht diese Insel aufgesucht, um mit den Einheimischen zu sprechen. Die Zeichnungen sind der Beleg für die Begegnung.«
»Aber was bedeutet das?«, fragte Zhuang. »Weshalb sollte der Arzt dorthin gesegelt sein?«
»Vielleicht weil er hoffte, dort ein Heilmittel zu finden«, antwortete Gray. »Im Bericht ist von einem Elixier die Rede.«
Seichan schaute finster drein. »Diese Insel könnte sonst wo liegen.«
»Stimmt. Aber die letzte Zeichnung ergibt noch weniger Sinn.«
Er zog ein weiteres Blatt heran. Diese Zeichnung war erheblich plumper, beinahe kindlich. Sie stellte eine feuerspuckende Schlange und möglicherweise einen Regenbogen dar.
»Dem Bericht zufolge befand sich die Zeichnung in dem Metallkasten mit den handschriftlichen Notizen, den man bei Stoepkers Leichnam gefunden hat«, sagte Gray. »Eine Erklärung war nicht dabei. Vielleicht fehlen ja mehrere Teile des Berichts.«
»Weshalb hat Stoepker die Zeichnung aufbewahrt?«, fragte Zhuang. »Dafür muss es einen Grund gegeben haben.«
»Ich könnte mir denken, dass die Zeichnung nicht von Stoepker angefertigt wurde, sondern vom zweiten Passagier des Beiboots.«
»Von dem Aborigine«, sagte Seichan.
Gray seufzte. »Von Matthew, dem Schiffsjungen der unglückseligen Tenebrae . Er und Stoepker wurden etwa sechzehn Tage nach dem Aufbruch von Jakarta gefunden. Ich nehme an, es hat eine Weile gedauert, bis die Krankheit sie außer Gefecht setzte. In dieser Zeit hat Stoepker seinen Bericht geschrieben. Vielleicht hat Matthew vor seinem Tod die Schlange und den Regenbogen gezeichnet.«
»Der arme Junge«, meinte Guan-yin. »Aber was wollte er mit dieser merkwürdigen Zeichnung ausdrücken?«
»Stoepker hielt sie offenbar für so wichtig, dass er sie in den Kasten gelegt hat«, sagte Gray. »Möglicherweise wollte er sie einfach nur aufbewahren – in diesem Fall ist sie bedeutungslos. Doch das glaube ich nicht.«
Seichan runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Dem Bericht ist zu entnehmen, dass Crawfurd und Raffles nicht sonderlich sentimental waren. Sie waren nüchtern denkende Menschen, wie man es von Mitgliedern der Batavischen Gesellschaft erwarten konnte. Hätte es sich bei der Zeichnung lediglich um ein Andenken an den Jungen gehandelt, hätten sie sie nicht aufbewahrt.«
»Und was folgt daraus?«, fragte Guan-yin.
»Ich habe da so eine Ahnung.«
Seichan kniff die Augen zusammen. »Eine Ahnung oder ein Bauchgefühl?«
»Beides, schätze ich. Auf dem Herflug konnte ich nur einen flüchtigen Blick auf die Dokumente werfen, doch schon da hatte ich den Eindruck, die Zeichnungen seien von Matthew.« Er tippte auf die Darstellung der Begegnung auf der Insel. »Vielleicht sind die hier abgebildeten Menschen ebenfalls Aborigines.«
Zhuang nahm das Blatt und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen.
Gray versuchte, seinen Gedankengang zu erläutern. »Vor der Landung habe ich im Internet nach Schlange , Regenbogen und Aborigines gesucht. Ich hatte nur eine vage Vermutung, aber dabei hat sich etwas Interessantes ergeben.«
Zhuang senkte das Blatt. »Was genau?«
Gray nahm das Tablet in die Hand, auf dem er die Suchergebnisse gespeichert hatte. »In der Aborigine-Mythologie gibt es eine Geschichte, die man sich bei allen der vielen hundert australischen First Nations erzählt, nämlich den Mythos der Regenbogenschlange. Diese Schlangengöttin hat viele Namen. Yurlunggur Tulloun , Kanmare , Goorialla und weitere. Die Geschichte aber ist überall gleich. Der Mythos gilt als eine der ältesten religiösen Überlieferungen der Welt.«
»Und worum geht es dabei?«, fragte Seichan.
Gray betrachtete erneut die Zeichnung. »Den australischen Aborigines zufolge ist die Regenbogenschlange die Erschafferin der Menschheit. Diese große Schlange lebt im Wasser. Obwohl sie als Erschafferin gilt, ist sie auch eine Zerstörerin. Sie wandert unter Wasser um die Welt, taucht hier und dort auf, bestraft oder bietet Schutz.«
Zhuang schob die Zeichnung vor. »Wollte der Junge die Gottheit vielleicht um Hilfe anflehen?«
»Das weiß ich nicht. Aber wenn es sich bei der Zeichnung um eine Art Aborigine-Gebet handeln sollte, weshalb haben Crawfurd und Raffles – beide Christen – es dann bei ihren Aufzeichnungen aufbewahrt?« Gray blickte in die Runde. »Sie muss etwas bedeuten.«
Seichan verschränkte unverändert skeptisch die Arme.
Gray zog die letzte Seite aus dem handschriftlichen Bericht hervor und las vor. »Das hier schreibt Sir Stamford Raffles zum Schluss. ›Leider ist uns jetzt bewusst, wie wenig wir über die Welt wissen. Und wir müssen ein Geheimnis schützen, das zum Untergang führen könnte, wenn es in die falschen Hände geriete. Vielleicht wäre es besser, wir nähmen es mit ins Grab, doch es darf nicht verloren gehen. Denn es birgt auch die Hoffnung auf Rettung. Auf eine Möglichkeit, die Götter der Unterwelt zu besänftigen, sollten sie uns je wieder zürnen, und das werden sie gewiss tun‹ .«
Draußen donnerte es, als wollten die Götter das Jahrhunderte alte Vermächtnis beglaubigen. Flammen loderten vom Gipfel des Mount Salak empor.
»Die Götter sind jedenfalls aufgebracht«, murmelte Seichan.
»Dann müssen wir eine Möglichkeit finden, sie zu besänftigen«, sagte Gray.
»Aber wie?«, fragte Zhuang.
»Indem wir nach dem Rest von Stamfords und Crawfurds Bericht suchen.«
»Wo fangen wir damit an?«, fragte Guan-yin.
Gray erhob sich und schaute zum Gewitterhimmel hinaus. »Indem wir in ein weiteres Museum einbrechen.«
Er nahm das Tablet in die Hand und scrollte durch zahlreiche Legenden der Regenbogenschlange, Göttin der Schöpfung und der Zerstörung. Bei der Werbung für eine aktuelle Ausstellung hielt er inne: Meereswanderungen: Menschen, Orte, Objekte.
»Diese Ausstellung wird vom australisch-indonesischen Museumsprojekt finanziert. Es geht um die weit zurückreichende historische Verbindung zwischen Indonesien und den australischen Aborigines. Das wirkt weit hergeholt, doch das Museum verfolgt das Thema schon seit Langem.«
»Um welches Museum geht es?«, fragte Seichan.
»Es liegt hier in der Altstadt. Das Historische Museum von Jakarta.«
Seichan runzelte die Stirn. »Ich kann nachvollziehen, dass das Thema für unsere Nachforschungen relevant sein könnte, aber weshalb glaubst du, es gebe eine Verbindung zu Stamfords fehlenden Seiten? Hat er vielleicht auch dieses Museum gegründet?«
»Nein. Das Museum wurde hundert Jahre vor Stamfords Ankunft gegründet.« Gray blickte in die Runde. »Aber als er hier lebte, diente es als Bürgermeisteramt.«
Bei Seichan machte es klick. »In seiner Zeit als Vizegouverneur unterhielt Stamford dort ein Büro.«
»Ja. Und falls er wichtige Papiere verstecken wollte, hat er es vielleicht dort getan.« Gray zuckte mit den Schultern. »Scheint mir ein guter Ausgangspunkt für die Suche nach den fehlenden Seiten zu sein.«
Seichan deutete zum Balkon und schloss sich seiner Argumentation widerwillig an. »Dann sollten wir dorthin gehen, bevor die ganze Stadt abbrennt.«
Ein weiterer Donnerschlag ließ das Haus erbeben und rief ihm in Erinnerung, dass das Schicksal Jakartas auf der Kippe stand – wenn nicht gar das der Region oder vielleicht sogar der ganzen Welt.
Dennoch mussten sie vorsichtig sein. Dort draußen gab es noch andere Gefahren als Feuer und Asche.
Wir sind nicht als Einzige auf der Insel gefangen.