Heng ließ die Knöchel knacken, während er darauf wartete, dass das Elektronenmikroskop den Scan abschloss. Er wippte auch mit dem Fuß und ließ den Blick durch das kleine Forschungslabor im Keller des Eijkman Instituts für Molekularbiologie im Zentrum von Jakarta schweifen.
Das Institut gehörte zu einem größeren medizinischen Forschungskomplex, wohl der Grund, weshalb es noch mit Strom versorgt wurde. Das Gebäude stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert. Schon damals hatte man hier Bakterien untersucht. Heute war es nach modernstem Standard ausgerüstet und verfügte über ein Biosicherheitslabor und eine Gasdekontaminationskammer.
Hoffen wir, dass wir sie nicht brauchen werden .
Nachts war das Institut geschlossen, doch die chinesische wissenschaftliche Gemeinde hatte sich an das indonesische Forschungsministerium gewandt und Xue eine Sondererlaubnis verschafft. Ein Wachmann hatte ihnen das Tor geöffnet und sie ins Gebäude gewinkt. Er hatte panisch gewirkt und hätte sich am liebsten abgesetzt.
Und da war er nicht der Einzige.
Draußen vor der Labortür führte Xue ein hitziges Gespräch mit Hauptmann Wen, dem Kommandeur der Falkeneinheit. Wen wollte seine Leute abziehen und sie zusammen mit Xue und Heng aufs chinesische Festland bringen. Ein Boot ankerte so weit draußen in der Bucht, dass es den Tsunami und die nachfolgende Flutwelle unbeschadet überstanden hatte. Xue weigerte sich zu gehen, frustriert darüber, dass er die Museumsdokumente verloren hatte.
Wens Männer bewachten den Flur und waren zwischen dem Labor und dem Tor postiert, das nach draußen führte. Sie wurden regelmäßig über die Lage informiert. Nicht, dass Heng darauf angewiesen gewesen wäre. Immer wieder erbebte das Gebäude infolge von Eruptionen. Selbst hier im Keller waren die Sirenen und das Geschrei der verängstigten Menschen in der Stadt zu hören. Der Schwefelgestank wurde immer stärker.
Während er wartete, hatte er das drahtlose Internet genutzt, das erstaunlicherweise noch funktionierte – ein weiterer Beleg dafür, welche Bedeutung man der medizinischen Einrichtung und den beiden zugehörigen Krankenhäusern beimaß. Er hatte sich über die Geschichte der Inselvulkane informiert. Allein auf Java gab es über vierzig aktive Vulkane. Der Salak, der nächstgelegene, war zuletzt 1938 ausgebrochen, setzte aber regelmäßig giftige Gase frei, die 2007 zum Tod von sechs Jugendlichen geführt hatten.
Den neuesten Berichten der Rettungsdienste Jakartas zufolge traten bei einem Dutzend Bergen aus Rissen Dämpfe aus. Das deutete darauf hin, dass dies der Beginn einer größeren geologischen Katastrophe sein könnte.
Xue kam ins Labor. Seine Wangen waren gerötet, seine Augen blitzten. »Wie lange brauchen Sie noch, Dr. Luo?«
Heng sah auf den Countdown, der neben dem REM -Gerät angezeigt wurde. »Eine knappe Minute.«
»Gut. Es kommt auf jede Sekunde an. Wir müssen von hier verschwinden.«
Heng war sich der Gefahr bewusst. Er wandte sich Xue zu, auch diesmal wieder beeindruckt von dessen zarten Gesichtszügen. Er musste sich zusammenreißen, bevor er fortfahren konnte. »Und dann verlassen wir die Insel?«
Xue richtete seine dunklen Augen auf ihn, ein Lächeln spielte um seine Lippen.
»Das hängt davon ab, was Sie hier herausfinden.« Xue blickte zur Tür. »Und von Hauptmann Wens Temperament. Bei dem Feuergefecht hat er sieben Männer verloren.«
»Aber Sie beabsichtigen, in Jakarta zu bleiben?«
»Trotz der Gefahr bin ich dazu entschlossen. Wenn Ihre Untersuchung Früchte trägt.«
»Wie meinen Sie das?«
Bevor Xue antworten konnte, meldete ein Signal den Abschluss des REM -Scans. Heng wandte sich um. Auf dem Monitor öffnete sich ein Fenster.
Endlich …
In der vergangenen Stunde hatte Heng von der schwarzen Koralle aus dem Museumskasten eine hauchdünne Scheibe abgeschnitten, sie mit doppelseitig klebendem Karbonband am Aluminiumträger des Rasterelektronenmikroskops fixiert und alle anhaftenden Partikel mit Luftspray entfernt. Die Prozedur hatte einige Zeit gedauert, doch er wollte ein möglichst klares Bild erzielen.
Heng öffnete den Ordner, der zwei Fotos in unterschiedlicher Vergrößerung enthielt. Er klickte aufs erste. Das Foto zeigte zwei verkrustete Löcher, Calyces genannt, in denen normalerweise Polypen nisteten.
Xue legte Heng die Hand auf die Schulter und beugte sich vor. Seine Handfläche fühlte sich erhitzt an, auch sein Atem, der Hengs Wange streifte. »Ähnelt das den Kalzifizierungen, die Sie bei den infizierten U-Boot-Fahrern gefunden haben?«
»Vielleicht«, stammelte Heng, durch die körperliche Nähe des anderen Mannes aus dem Konzept gebracht. »Ich schaue mir das mal genauer an.«
Heng öffnete das zweite Foto. Es handelte sich um eine Großaufnahme der an die Calyces grenzenden Kristalle.
Xue krampfte die Finger um Hengs Schulter. »Das sind orthorhombische Kristalle. Die gleichen wie die im Gewebe der U-Boot-Fahrer.«
»Und wie im Mondstaub, den Chang’e-5 gesammelt hat«, fügte Heng hinzu.
»Gute Arbeit.« Xue klopfte ihm auf die Schulter.
Heng stieg das Blut ins Gesicht. Er bewegte sich von dem Mann weg, bevor er sich umdrehte. »Aber was beweist das?«
Xues Augen funkelten vor Erregung. »Das beweist, dass die Ereignisse der Vergangenheit Auswirkungen auf die Gegenwart haben.«
»Und was folgt daraus? Sie sagten, Sie wollten auf der Insel weitere Nachforschungen anstellen.«
Xue richtete sich zu voller Größe auf. »Es gibt einen Ort, den ich mir gern anschauen würde. Sir Stamford Raffles hat in seiner Zeit als Vizegouverneur dort ein Büro unterhalten.«
»Das Büro des früheren Vizegouverneurs? Existiert das noch?«
»Ja. Das alte Bürgermeisteramt von Batavia gibt es noch. Inzwischen beherbergt es das Historische Museum.« Xue bedeutete Heng aufzustehen. »Jetzt, da wir bestätigt haben, dass die Geschichte sich tatsächlich wiederholt, dürfen wir keine Zeit mehr verlieren.«
Heng sammelte eilig seine Forschungsmaterialien auf. »Warum? Weshalb die Eile?«
Xue blickte ihn über die Schulter an. »Vor ein paar Minuten habe ich erfahren, dass auch die Amerikaner zu dem Museum unterwegs sind.«
»Von wem?«, fragte Heng.
Xue antwortete nicht. Er war bereits unterwegs zum Ausgang und im Begriff, Hauptmann Wen zu alarmieren. Heng vermutete, dass die Aussicht auf eine Auseinandersetzung mit den Amerikanern den Hauptmann dazu bewegen würde, auf der Insel zu bleiben.
Wen verspürte nach dem Verlust von sieben seiner Leute einen noch machtvolleren Wunsch, als zu überleben.
Er wollte Rache.