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24. Januar, 7:38 NZDT
Pazifik, tausend Kilometer nordöstlich von Auckland

Sechzig Meter über dem Meer versuchte Monk, sich vor dem zu verstecken, was in der Tiefe lauerte. Er stand auf der Brücke der Titan X . Sie befand sich in der Beobachtungsplattform – einem verglasten Keil –, der auf dem stolzen Bug der Jacht saß. Durch die Fenster hatte man Rundumsicht auf das Schiff und das Meer.

Hinter ihm ruhte die dreizehnstöckige kugelförmige Science City wie eine schwarze Sonne auf dem Achterschiff. Sie wurde von innen beleuchtet, doch die oberen Ebenen waren von einer dicken Ascheschicht bedeckt. Vor ihm im Osten flammten fünf Berge. Sie gehörten zur Vulkankette der Kermadec-Inseln. Die von den rauchenden Schloten genährten Aschewolken hingen tief und drohten die Titan X zu ersticken. Blitze morsten in einem unbekannten Code zu den Göttern.

Das Meer lag dunkel und drohend da. Die Wellen wa­­ren mit Asche bestäubt. Weiter im Osten war wohl die Sonne aufgegangen, doch davon war nichts zu sehen. Hier herrschte ewige Nacht.

Der Kapitän der Titan X , ein untersetzter Australier in beigefarbenem Overall, rief von der Brückensteuerung her: »Wir orten etwas mit dem Radar. Ein großes Schiff. Nähert sich sehr schnell. Siebzig Knoten.«

Monk zuckte zusammen. »Wie weit entfernt?«

»Fünfzehn Kilometer, abnehmend.«

Monk stellte im Kopf ein paar Rechnungen an.

In sechs Minuten werden sie uns erreicht haben.

Er fluchte und stützte sich auf die Funkstation. In der anderen Hand – der Prothese – hielt er ein Funkgerät. Er musste sich beherrschen, um es nicht zu zerquetschen. Er starrte auf den Monitor der Überwachungskameras. Im Moment zeigte er den Blick aus dem Frachtraum am Heck. Männer, die aussahen wie eine Boxenmannschaft beim NASCAR -Rennen, kletterten darauf herum und machten sich an Deck zu schaffen. Das Tauchboot hing noch am Galgen über dem Wasser.

Monk hielt sich das Funkgerät an den Mund. »Bryan, wir bekommen Gesellschaft. Wir müssen sofort starten. Haben Sie verstanden?«

Monk schluckte und wartete auf die Antwort des Piloten. Zunächst war eine Serie von Flüchen zu hören, die einen Marine hätten erröten lassen. Dann erfolgte eine klare Ansage.

»Ich brauche noch mindestens zwanzig Minuten!«

»Sie haben zwei . Ein unbekanntes Schiff nähert sich uns. Vermutlich ist es uns nicht freundlich gesonnen. Wenn es hier eintrifft, wollen Sie bestimmt nicht mehr hier sein.«

Bryans Antwort drückte weder Zustimmung noch Ablehnung aus, sondern puren Ärger. »Scheiße.«

Die Aktivität rund um die Cormorant wurde hektischer.

Monk wandte sich der Steuerung zu. »Captain Stemm?«

»Noch zwölf Kilometer«, meldete der Aussie. Sein Gesicht hatte die gleiche rote Farbe wie der unter der Mütze hervorquellende Haarschopf. »Ich schalte die Maschinen ab.«

»Tun Sie das. Und achten Sie auf mein Zeichen.«

Eine Stunde zuvor hatte Monk die Brückencrew über die im Wasser patrouillierende Gefahr informiert. Er hatte ihnen die Aufnahme des chinesischen U-Boots gezeigt. Captain Henry Stemm hatte zwei Jahrzehnte lang in der australischen Marine gedient, bevor er den Dienst quittiert und bei diesem Projekt angeheuert hatte. Er hatte genug Begegnungen mit chinesischen U-Booten gehabt, um die Heckflosse im Sonar wiedererkennen zu können. Er vermutete, dass es sich um ein U-Boot der Yuan-Klasse mit dieselelektrischem Antrieb handelte – ein Jagdboot der chinesischen U-Boot-Flotte.

Monk hatte dem Captain auch seine Befürchtungen bezüglich des Objekts in zehn Kilometern Tiefe mitgeteilt, das möglicherweise mit den sich ausbreitenden Erdbeben und Vulkanausbrüchen in Verbindung stand. Jemand musste in den Graben hinuntertauchen und dort nachsehen. Zunächst aber musste die Cormorant am Stahlhai vorbeikommen. Adam und Phoebe hatten sich freiwillig gemeldet und wollten sich der Gefahr in dem bodenlosen Graben stellen.

Monk hätte sie gern begleitet, doch jemand musste hier oben Wache halten. Wenn der Tauchgang erfolgreich verlief, das Tauchboot aber beim Auftauchen gekapert oder zerstört wurde, wäre niemandem damit geholfen. Monk würde die nächsten Stunden über in Bereitschaft bleiben. Er musterte den Rest seines Teams, zu dem neben dem Captain fünf weitere Crewmitglieder zählten.

Wir gegen die chinesische Marine.

Monk zuckte mit den Schultern. Nicht die besten Chancen, aber wie es so schön hieß: Man zieht mit der Armee in den Krieg, über die man verfügt.

Monk spürte und hörte, wie die Maschinen abschalteten.

Der nächste Teil war riskant.

Zwanzig Minuten zuvor hatte Monk die Titan X angewiesen, langsam zu kreisen und das aschebedeckte Wasser aufzuwühlen. Er hoffte, dass der Lärm die U-Boot-Fahrer eingelullt hatte. Sie sollten nicht mitbekommen, dass man sie geortet hatte.

Als Nächstes stand eine ganz andere Taktik an.

Er wandte sich an Captain Stemm. Der Australier hatte die Lippen zusammengepresst. »Acht Kilometer«, meldete er von der Radarstation aus. »Sind Sie sicher, dass dies Chinesen sind?«

»Da die ganze Region brennt, sind alle militärischen Kräfte vermutlich mit Rettungsaktionen befasst. Auch die amerikanische Pazifikflotte. Das Schiff nähert sich uns nicht zufällig. Das müssen die Chinesen sein.«

Monk hatte mit chinesischer Verstärkung gerechnet. Er hatte darauf gewartet, aber gehofft, dass ihnen mehr als eine Stunde bis zu ihrem Eintreffen bleiben würde. Er setzte Bryan in der neu ausgerüsteten Cormorant nur ungern unter Druck, doch er hatte keine Wahl.

Auf dem Monitor war zu sehen, wie der Pilot Adam und Phoebe beim Einstieg durch die Luke half. Das Tauchboot hing noch an den Ketten.

Monk hielt sich das Funkgerät an den Mund. »Jetzt oder nie, Bryan.«

Der Pilot war zu beschäftigt, um über Funk zu antworten. Er schwenkte den Arm in die Überwachungskamera und zeigte ihm den Mittelfinger, dann kletterte auch er ins Boot und schloss hinter sich die Luke.

Monk wandte sich wieder an Captain Stemm, das Funkgerät am Mund. »Auf mein Zeichen!« Sein Befehl galt nicht nur den Zuhörern auf der Brücke.

»Steuerbord-Bugdüsen!«, rief der Captain. »Backbord-Heckdüsen! Volle Kraft!«

Die Titan X vibrierte heftig, als die Manövrierdüsen an beiden Seiten der Jacht gleichzeitig zu arbeiten begannen. Langsam vollführte das Achtzigtausend-Tonnen-Schiff eine Pirouette.

Die U-Boot-Fahrer registrierten vermutlich einen Höllenlärm.

Dennoch war Monk nicht zufrieden.

Er hatte bereits einen Befehl an den einsamen Techniker an der DriX-Steuerung im Frachtraum erteilt. Der Mann hatte daraufhin das Sonar beider Einheiten auf Dauerping geschaltet.

Auf dem Monitor war zu sehen, wie die Cormorant sich vom Galgen löste und ins Wasser krachte. Für ein sanftes Absenken war keine Zeit. Die Tiefsee-Kapsel tauchte einmal auf, dann verschwand sie.

Gute Reise , dachte Monk.

Captain Stemm drehte sich um. »Wir haben ein weiteres unbekanntes Objekt geortet. Am Rand des Erfassungsbereichs des Radars. Es nähert sich mit einer Geschwindigkeit von 800 Stundenkilometern.«

Kaum hatte der Captain seine Warnung ausgesprochen, da schoss etwas so tief über die Jacht hinweg, dass die Asche von der Kuppel der Science City gefegt wurde. Das Flugzeug zog nach oben und verschwand in der Aschewolke.

»Hab es verloren!«, meldete der Captain.

Monk hatte die dreieckige Form und die V-förmigen Flügel wiedererkannt.

Eine Stealth-Drohne.

Wahrscheinlich eine Hongu vom Typ Scharfes Schwert oder Fliegender Drache.

Jedenfalls schwer bewaffnet.

Er blickte nach Westen, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Das sich ihnen nähernde Boot konnte sie nicht gestartet haben. Vermutlich war die Drohne von einem Schiff losgeschickt worden.

Monk senkte den Blick auf den Boden.

Vielleicht wäre ich doch besser mit eingestiegen.

7:43

Adam zog sich auf den hinteren Sitz der Cormorant . Nach dem Aufprall, dem Hochfedern und dem jähen Absinken klopfte ihm das Herz bis zum Hals, und er hatte ein flaues Gefühl.

Doch nicht der Aufprall hatte ihn so erschüttert.

Er blickte nach vorn.

Dr. Datuk Lee klammerte sich mit einer Hand am Sitz fest und stützte sich mit der anderen an der Titandecke ab. Die Brille war ihm von der Nasenspitze gerutscht. Als die Cormorant sich stabilisiert hatte, ließ er sich zurücksinken und rückte die Brille zurecht.

»Was macht er hier?«, rief Adam zu Phoebe und Bryan nach vorn.

»Ich habe ihn gebeten mitzukommen«, antwortete Phoebe.

Bryan nickte. »Ich war einverstanden. Ich habe zusätzlichen Ballast angehängt, doch wir können jedes weitere Pfund gebrauchen. Je schwerer wir sind, desto schneller sin­ken wir.«

Adam schluckte und blickte ins schwarze Wasser hinaus.

Als er hinter Phoebe ins Tauchboot geklettert war, war Datuk bereits an Bord gewesen. Da Adam anderweitig beschäftigt gewesen war, hatte er den malaysischen Biochemiker zunächst übersehen. Und dann war es zu spät gewesen, um zu protestieren. Bryan war nach ihnen eingestiegen, hatte seinen Platz eingenommen und den Abwurf befohlen. Dann waren sie ins Meer gestürzt.

Im Moment checkte Bryan die Systeme der Cormorant . Alle Anzeigen leuchteten grün, mit Ausnahme von zweien, die dunkel geblieben waren. Die Reparaturcrew hatte durchgebrannte Sicherungen ersetzt, volle Sauerstofftanks und Akkus angebracht und den Rest inspiziert. Trotzdem wirkte Bryan verstimmt.

Geht mir genauso.

Phoebe hatte seine Verärgerung anscheinend bemerkt. »Wir wissen nicht, was uns da unten erwartet«, erklärte sie. »Jede Expertise ist uns willkommen. Wir können froh sein, dass Datuk bereit ist, das Risiko einzugehen.«

Adam sah das anders.

Phoebe verdrehte die Augen und blickte Datuk an. Sie wusste, was Adam beschäftigte, und sprach es offen an. »Dr. Lee, sind Sie ein chinesischer Spion?«

Datuk versteifte sich. Er wirkte entsetzt. »Was? Ich? Wieso fragen Sie mich das?«

Phoebe wandte sich an Adam. »Sehen Sie. Kein Grund zur Sorge.«

Sie blickte wieder nach vorn. Für sie war die Angelegenheit damit erledigt.

Adam war nicht überzeugt von Phoebes Befragungsmethoden. Jetzt aber war nichts mehr zu machen.

Bryan erinnerte sie an die unmittelbare Gefahr. »Vielleicht sollten wir besser eine Weile still sein, anstatt herumzuquaken.«

Alle Augen richteten sich aufs Fenster. Phoebe setzte Kopfhörer auf. Was sie hörte, ließ sie zusammenzucken.

Adam blickte nach oben. Monk hatte erfolgreich für akustische Ablenkung gesorgt. Die Schubdüsen, das aufgewühlte Wasser und das Sonar würden ihren Abstieg hoffentlich übertönen und das Kriegsschiff ablenken.

Aber reichte das?

Sie mussten eine Tiefe von 600 Metern erreichen. Tiefer kamen Torpedos nicht.

Jedenfalls hoffe ich das.

Der Marinegeheimdienst war notorisch zurückhaltend, wenn es um die maximale Tauchtiefe von U-Booten und deren Bewaffnung ging.

Datuk behielt die Tiefenanzeige im Auge.

300 Meter  …

Phoebe sah auf den kleinen Monitor, der eine Schemakarte anzeigte. Ihre Position wurde durch die drei Sonden am Meeresgrund fixiert: Tick , Trick und Track . Die Darstellung war verschwommen und flackerte. Die Cormorant wurde als geflügelter Punkt dargestellt, der entlang eines Gradienten in die Tiefe sank. Der Meeresgrund wurde vom Echolot in bunten Farben dargestellt. Der Graben zeichnete sich als schwarze Narbe ab.

Adam beobachtete, wie der geflügelte Punkt nach unten sank.

400 Meter …

Phoebe schreckte auf ihrem Sitz zusammen.

Adam beugte sich vor. »Was ist?«

Sie wandte den Kopf. »Ein starker Ping hat uns getroffen. Viel lauter als die Pings der DriX. Hat in den Ohren wehgetan.«

Datuks Augen weiteten sich. »Sie haben uns entdeckt.«

500 Meter …

Adam deutete auf den Kopfhörer. Phoebe reichte ihn nach hinten. Er setzte ihn auf und schloss die Augen. Lärm füllte seinen Kopf aus – eine Kakofonie unterschiedlicher Frequenzen, für die Monk verantwortlich war.

Adam versuchte, alles auszublenden, und lauschte angestrengt.

Auf einmal wurde die Cormorant von einem Ping getroffen, so ohrenbetäubend laut, dass ihm die Zähne wehtaten. Er zuckte zusammen und wartete – dann kam ein neues Geräusch durch. Ein dumpfes Grollen, das stetig lauter wurde. Ein etwas lauterer Knall bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.

Es war das Geräusch einer Torpedoluke.

Er öffnete die Augen und sah Datuk über die Schulter.

600 Meter …

Das Grollen schwoll rapide an.

Phoebe erwiderte seinen Blick. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, denn er wollte niemanden in Panik versetzen. Trotzdem kniff sie die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander.

Sie weiß, was ich gehört habe.

Er hielt die Luft an.

Das Grollen übertönte alles – dann hörte es plötzlich auf. Er wappnete sich für die Explosion, doch nichts geschah. Der Torpedo hatte offenbar seine maximale Tauchtiefe unterschritten und war vom Wasserdruck außer ­Gefecht gesetzt worden. Er stellte sich vor, wie er in die Tiefe taumelte.

Er beugte sich vor und checkte die Position.

700 Meter …

Mit einem Seufzer der Erleichterung nahm er den Kopfhörer ab. Monks Plan hatte funktioniert. Die Ablenkung hatte ihnen Zeit erkauft, um in eine sichere Tiefe abzutauchen – auch wenn es am Ende knapp gewesen war.

»Ich glaube, wir sind außer Gefahr«, sagte er.

Datuk wandte den Kopf. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Das klang so bedrohlich, dass es Adam nicht gewundert hätte, wenn er eine Pistole gezückt und auf Phoebes Kopf gerichtet hätte. Stattdessen deutete Datuk auf den Monitor.

»Die Sensoren registrieren Strahlung.«