Mit einer kleinen Armee im Gefolge überquerte Gray den Platz vor dem Historischen Museum. Die Luft war glühend heiß, und zum Schutz vor der feinen Asche hatten sie sich wie Banditen vermummt. Trotzdem tränten ihnen die Augen, und die glühenden Flocken brannten auf der Haut.
Vor ihnen ragte die Säulenfassade des Museums auf. Die Flügel im holländischen Kolonialstil fassten den rückwärtigen Hof ein. Das Museum hatte zwei weiß verputzte Stockwerke mit Reihen schmaler Fenster, die mit grünen Läden verschlossen waren. Unmittelbar vor ihnen war in den Giebel ein holländisches Wort eingemeißelt: Gouverneurskantoor.
Gouverneursamt.
Das müssen wir finden.
Während er über den Platz eilte, wunderte sich Gray, dass das Museum nicht bewacht wurde. Andererseits ging es auf der Insel drunter und drüber.
Ständig bebte die Erde. In der vergangenen Stunde waren zwei weitere Vulkane ausgebrochen. Tsunamis überschwemmten die Küste. Die Straßen waren verstopft mit Autos und Fuhrwerken, die meisten Fahrer hatten sich davongemacht. Schwer bepackte Menschen mit Handkarren voller Habseligkeiten schleppten sich dahin. Militär und Polizei waren überfordert. Zumal nicht nur diese Insel in Bedrängnis war. Zum indonesischen Archipel gehörten 17 000 Inseln, 6000 davon waren bewohnt.
Gray musterte die unbeleuchtete Fassade des unbewachten Museums.
Im Moment macht sich niemand Sorgen um die Vergangenheit – alle denken an die Zukunft.
Gray blickte sich zu seiner Truppe um. Seichan marschierte neben ihrer Mutter. Zhuang hatte sich an die Spitze einer zwanzigköpfigen Streitmacht von Triadenkämpfern gesetzt. Gray hatte wiederholt versucht, Painter mit dem Satellitentelefon zu erreichen. Ein paar Mal hatte er kurzzeitig Verbindung bekommen, doch keine hatte länger Bestand gehabt als dreißig Sekunden. Trotzdem war es ihm gelungen, seine Bitte um Unterstützung zu übermitteln, denn er hatte keine Ahnung, wo er mit der Suche nach Gouverneur Raffles Büro anfangen sollte.
Von der Zentrale abgeschnitten und mit spärlichen Informationen ausgestattet, kam er sich vor, als tappe er im Dunkeln. In das Museum einzubrechen, war ein Schuss ins Blaue, doch etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
Seichan kam näher und zeigte zwischen die Säulen. »Sieht so aus, als hätten andere die gleiche Idee gehabt wie wir.«
An einem Fenster neben dem Haupteingang waren die Läden abgerissen. Die Fensterscheibe war geborsten. Gray hob warnend den Arm. Auf einmal hörten sie von innen zornige Rufe und Schüsse.
Gray rückte neben Zhuang. »Wir gehen schnell rein und schalten den Gegner aus.«
Der Lärm klang nach Handfeuerwaffen. Gray musterte die automatischen Waffen seiner Truppe und hoffte, dass sie ausreichen würden. Er packte seine SIG Sauer fester, während Seichan ihre Glock hob. Zhuang hielt in der einen Hand eine Pistole, in der anderen seinen alten Säbel. Gray vermochte nicht zu sagen, welche seiner Waffen im Nahkampf gefährlicher war.
Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Gray deutete nach vorn. »Auf geht’s!«
Im dichten Pulk rückten sie vor und stiegen durch das kaputte Fenster ein, wobei sie sich bemühten, auf den Scherben möglichst kein Geräusch zu machen. Sie eilten durch die dunkle Eingangslobby ins eigentliche Museum. In alle Richtungen gingen Türen ab.
Gray führte seine Truppe nach rechts. Die Rufe und Schüsse kamen von einer Nebengalerie. Bislang waren sie anscheinend noch nicht bemerkt worden. Gray nahm mit Seichan und deren Mutter sowie dem jungen Stellvertreter Yeung, der bis an die Zähne bewaffnet war, links vom Galerieeingang Aufstellung. Yeung war ein Panzer auf Beinen.
Zhuang postierte sich mit dem Rest der Truppe an der anderen Seite des Eingangs.
Gray streckte den Kopf um die Ecke. Der lange Flur der Galerie war gesäumt von hohen Vitrinen und Podesten. In der Dunkelheit glommen ein paar Notleuchten. Eine der Vitrinen war umgestürzt, das Glas geborsten. Wieder wurde auf Indonesisch und Javanesisch gerufen. Vier Mal ertönte der Schuss einer Pistole.
Gray zählte sechs bis sieben schattenhafte Gestalten, die zwischen den Vitrinen standen. Sie waren ebenso vermummt wie seine eigenen Leute. An der anderen Seite waren mehrere Männer und Frauen hinter einem niedrigen Marmorpodest in Deckung gegangen, auf dem eine Hindugottheit ruhte. Alle trugen beigefarbene Hemden. Vermutlich waren dies Museumsangestellte, die sich den Angreifern entgegenstellten.
Das ungepflegte Erscheinungsbild der Angreifer und deren höchst unterschiedliche Bewaffnung deuteten darauf hin, dass sie Plünderer waren, die sich das Chaos zunutze machen wollten.
Gray bedeutete Zhuang, die andere Seite der Galerie zu übernehmen, und führte seinen Trupp an der Wand entlang. Er wartete, bis Zhuang in Position war, dann rückten sie gleichzeitig über den Gang vor und nahmen die Plünderer von zwei Seiten aus unter Feuer.
Der Schusswechsel dauerte nur kurz. Männer brachen zusammen, Glasscheiben zerschellten. Die letzten überlebenden Angreifer flohen über die Mitte der Galerie und verschwanden durch den Ausgang an der anderen Seite. Zhuang schickte ihnen ein paar seiner Leute hinterher, die dafür sorgen sollten, dass sie auch tatsächlich das Gebäude verließen.
Einer der Angestellten rief ihnen aus seinem Versteck heraus zu.
Guan-yin antwortete ihm freundlich in fließendem Indonesisch. Nach einigem Hin und Her kamen auch die anderen aus der Deckung. Gray ging ihnen mit Guan-yin entgegen.
Der Wortführer der Verteidiger trat vor, ein ernst dreinblickender, hoch gewachsener Indonesier. Er war Ende sechzig, machte aber den Eindruck, als könnte er es beim Ringkampf mit einem halb so alten Mann aufnehmen.
»Ich bin Kadir Numberi, der Museumsdirektor«, stellte er sich auf Englisch vor. »Danke, dass Sie uns geholfen haben.«
»Gern geschehen«, sagte Gray.
Kadir musterte die hinter Gray versammelten Bewaffneten. »Weshalb sind Sie hier?«, fragte er misstrauisch.
Gray versuchte, ihr Anliegen, das mit 200 Jahre zurückliegenden Ereignissen zu tun hatte, zu erklären.
Kadirs Argwohn vermochte er damit nicht zu zerstreuen.
»Wir müssen uns Sir Stamford Raffles’ ehemaliges Büro ansehen«, schloss Gray.
»Das aus seiner Zeit als Gouverneur?«
Gray nickte. »Deswegen sind wir hier. Das ist der einzige Grund.«
Kadir redete mit seinen Angestellten, die zustimmend nickten. Dann wandte er sich wieder an Gray. »Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wo sich das Büro befindet, doch es gibt einen Übersichtsplan von 1710, dem Gründungsjahr des Museums.«
»Würden Sie uns den zeigen?«
»Gern.« Kadir wandte sich um und ging den Gang entlang. »Die Dokumente befinden sich dort drüben.«
Bevor sie ihm folgten, befahl Zhuang Yeung, ihnen mit ein paar Männern den Rücken freizuhalten.
Kadir blickte den neben ihm hergehenden Gray an. »Ich weiß leider nicht viel über die Zeit, als das hier noch ein Verwaltungsgebäude war. Mein Spezialgebiet ist die Anthropologie.«
»Wenn das so ist, Direktor Numberi, könnten Sie uns helfen. Im Museum läuft derzeit eine Ausstellung zur Geschichte Indonesiens und dessen Beziehung zu den Aborigines.«
»Das ist richtig.« Kadir hob eine Braue. »Es geht um die australischen First Nations und deren nautische Beziehungen zu unserem Land. Ich selbst habe die Ausstellung kuratiert.«
»Tatsächlich?«
»Ich stamme von West-Papua. Aber mein Urgroßvater gehörte dem Volk der Yolngu aus dem Norden Australiens an. Deshalb interessiere ich mich besonders für unsere gemeinsame Geschichte.«
Jetzt verstand Gray, weshalb das Museum diesem Aspekt der indonesischen Geschichte so große Bedeutung beimaß.
Kadir entspannte sich ein wenig. »Weshalb interessieren Sie sich dafür? Das Thema war auch Sir Raffles sehr wichtig, doch ansonsten weiß ich nicht viel über ihn.«
»Raffles hat sich für die Aborigines interessiert?«
»Und für Ethnographie im Allgemeinen. Er war nicht nur Naturforscher, sondern wollte auch das Wissen über die Menschen in der Region fördern.«
Auf einmal fügte sich etwas zusammen. Das Gefühl, im Dunkeln zu tappen, verflüchtigte sich.
Wir sind auf der richtigen Spur.
Als sie die nächste Galerie erreichten, fielen hinter ihnen Schüsse. Zunächst knallte es nur vereinzelt, dann immer öfter. Schreie und das Klirren von Glas hallten durch die Dunkelheit.
Schon wieder Plünderer.
Gray zog Seichan an die Seite und hob die Waffe. Zhuang gab Guan-yin Feuerschutz. Die übrigen Triadenkämpfer gingen beiderseits des Galerieeingangs in Stellung und zielten in den langen Gang hinein, durch den sie soeben gekommen waren.
Yeung und mehrere Männer kamen mit mehreren von Kadirs Angestellten angelaufen. Eine detonierende Granate erhellte den Gang. Salven automatischer Gewehre durchschnitten den Rauch.
Gray und die anderen drückten sich flach an die Wand.
Das waren keine Plünderer.
Zhuang rief Yeung etwas auf Kantonesisch zu. Der Triadenstellvertreter wälzte sich über die Schwelle und feuerte mit einer STK -40-Panzerfaust eine Granate ab. Sie detonierte auf dem Gang. Yeung kam zurück. Er blutete aus einer Schnittwunde am Auge, setzte aber trotzdem gleich eine neue 40-mm-Granate in den Verschluss ein.
Auf dem Gang brannte es.
Das Feuergefecht geriet vorübergehend ins Stocken, da beide Seiten die Lage überdachten.
An der anderen Seite des Gangs wurde gerufen: »Verschwindet aus dem Museum! Lasst die Dokumente zurück! Dann habt ihr freies Geleit.«
Der Mann sprach Englisch mit Akzent, doch er gehörte zweifellos zu den chinesischen Kämpfern, die Valya verjagt hatten.
Frustriert von der Sinnlosigkeit des Kampfes und der allgemeinen Lage holte Gray tief Luft. Das Feuer breitete sich auf der Galerie schnell aus. Das alte Gebäude hatte Holzböden und Deckenbalken.
Es reicht.
Jemand musste den ersten Schritt machen – und zwar ohne Waffe.
Er legte die Hände trichterförmig um den Mund und rief: »Wir sind ebenso gut bewaffnet und entschlossen! Wir können einander töten, bis die Welt untergeht. Oder wir halten alle inne und rufen einen vorübergehenden Waffenstillstand aus!«
Seichan zischte. Guan-yin schaute finster.
Nach einer langen Pause erfolgte die Antwort. »Was schlagen Sie vor?«
»Wir müssen einen Weg finden, die Welt zu retten!«, rief Gray. »Notfalls gemeinsam. Wenn Sie bereit dazu sind. Oder wir kämpfen weiter und schauen zu, wie die Welt verbrennt.«
An der anderen Seite wurde lautstark gestritten.
Zumindest gab es jemanden, bei dem der Vorschlag auf fruchtbaren Boden fiel.
Gray versuchte, dessen Position zu stärken. »Sie sehen doch, was draußen los ist! Auf der Insel. In der ganzen Region. Wir müssen gemeinsam die Einzelteile eines jahrhundertealten Puzzles zusammenfügen, das entweder unser aller Ende bedeuten oder die Welt retten könnte. Trotzdem kämpfen wir gegeneinander und blicken nicht über den Tellerrand hinaus. Wenn wir so weitermachen, endet das bloß in Zerstörung. Es ist Ihre Entscheidung!«
Das Gezanke legte sich allmählich.
Der Sprecher meldete sich erneut. »Sie glauben, es gibt eine Möglichkeit, die Entwicklung zu stoppen?«
»Stamfords Dokumente – die Papiere, über die wir verfügen – deuten darauf hin.« Gray zitierte aus dem Gedächtnis. »Zu Anfang heißt es: Die Hoffnung der Welt ruht auf diesen Seiten. Und der Text endet mit einem Versprechen: Es gibt einen Weg, die Götter der Unterwelt zu besänftigen, sollten sie uns je wieder zürnen. Doch ich glaube, er hat sein Geheimnis aufgeteilt und einen Teil davon in diesem Museum versteckt.«
»Im alten Büro des Gouverneurs!«, antwortete der Sprecher und stellte damit unter Beweis, dass er sich der historischen Dimension bewusst war. »Werden in dem Bericht versteinerte Tote erwähnt?«
Gray spannte sich an.
Was soll das nun wieder?
Seichan sah ihn an. Inzwischen wirkte sie nicht mehr aufgebracht, sondern eher verwirrt.
»Ja!«, rief Gray. »Da ist die Rede von einer Krankheit, welche die Knochen auflöst und das Gewebe kalzifizieren lässt.«
Gemurmel war zu hören.
Dann meldete sich jemand mit hoher, besorgter Stimme zu Wort: »Gibt es ein Heilmittel?«
Hauptmann Wen zog Heng zurück. Der Soldat krallte die Finger in seinen Arm. Selbst Xue schaute missbilligend drein. Er wurde in die Gruppe der Falken-Kämpfer zurückgestoßen.
Seine vorlaute Frage aber wurde beantwortet.
»Raffles hat ein Elixier erwähnt!«, rief der Amerikaner. »Aber der Text ist verrätselt. Wir brauchen die restlichen Seiten.«
Wen näherte sich Xue. »Ich schicke ein paar Männer zum Hof. Beschäftigen Sie die Amerikaner, bis sie in Stellung gegangen sind.«
»Nein«, sagte Xue. »Sie sollten hierbleiben. Unsere Gegner sind keine Narren. Sie werden die andere Seite im Auge behalten. Womöglich verbrennen sie die Seiten, bevor wir sie überwältigt haben.«
Wen wollte widersprechen und kam näher.
Xue ließ ihn abblitzen. »Wir sollten das Angebot in Betracht ziehen. Vielleicht können wir in Erfahrung bringen, was sie wissen, und sie dazu bringen, ihr Wissen mit uns zu teilen. Dann sehen wir weiter.«
Heng seufzte genervt. Er dachte an Unteroffizier Wong und Unterleutnant Junjie, die in Kambodscha in medizinischer Behandlung waren.
Wenn es ein Heilmittel gibt, müssen wir es finden.
Heng schüttelte Wens Hand ab. »Die Amerikaner haben recht. Entweder wir kooperieren umfassend und teilen unser Wissen – oder wir gehen das Risiko ein, alles zu verlieren. Wenn die geologische Katastrophe weitergeht, ist das unser aller Verderben.«
Während Xue überlegte, spiegelte sich der Feuerschein in seinen Augen wider. Für Heng war dies ein Sinnbild des drohenden Untergangs.
Wir streiten uns, während das Haus brennt.
»Bitte …«, sagte Heng.
Xue nickte langsam. Offenbar war er zu einer Entscheidung gelangt. Er trat vor und rief: »Ich stimme einem Waffenstillstand zu!«
Wen schüttelte finster den Kopf.
Heng hörte zu, während die Einzelheiten ausgehandelt wurden. Die Vertreter beider Seiten sollten sich in der Mitte des langen Flurs treffen. Währenddessen löschten mehrere Museumsangestellte mit Feuerlöschern die Brände.
Rauch stieg zu den Deckenbalken auf.
Als die Feuer erloschen waren, marschierte Xue mit Hauptmann Wen und zwei weiteren Soldaten los. Heng folgte, in Händen den alten Stahlkasten aus dem Museum in Singapur.
Eine schlanke Eurasierin mit Pistole und ein ernst dreinschauender älterer Mann mit Sturmgewehr begleiteten ihn. Zwei weitere Soldaten folgten ihnen.
Die beiden Trupps an den beiden Seiten der Galerie gaben ihnen Rückendeckung.
Schließlich erreichten beide Gruppen den hüfthohen Marmortisch in der Mitte. Er trennte die beiden Lager. Eine beschädigte Statue lag darauf. Heng verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen wegen der angerichteten Schäden, doch die Angst um sich selbst und die ganze Welt überdeckte ihn sogleich.
Xue trat vor und musterte seinen Gegner.
Abgesehen von der Nationalität waren sie einander ähnlich, was Körpergröße, Entschlossenheit und kühle Intelligenz betraf. Mit diesem Mann war nicht zu spaßen.
Xue stützte sich auf die Tischplatte. »Fangen wir an.«
Die Glock in der Hand, beobachtete Seichan den Kommandeur der Soldaten. Seine Miene war undurchdringlich, beschattet von einem Helm. Er hielt eine QSZ -92-Pistole in der Hand und hatte ein Sturmgewehr umgehängt.
Am Marmortisch begannen Gray und Major Choi Xue, sein chinesischer Gegenspieler, die Verhandlungen. Sie verliefen stockend, da beide Seiten möglichst wenig preisgeben wollten.
Gray beugte sich vor und blickte in den Stahlkasten.
Seichan dachte an die Auseinandersetzung im Museum in Singapur. Sie betrachtete den Kasten aus dem Augenwinkel. Darin befand sich ein Stück schwarzer Koralle. Es entsprach dem, das in Raffles Notizen abgebildet war. Das andere Objekt ergab keinen Sinn – auch Gray kniff skeptisch die Augen zusammen.
»Was ist das?«, fragte er und sah zu dem Chinesen auf.
Seichan kannte diesen Ton und diesen Blick.
Er hat eine Ahnung und stellt sein Gegenüber auf die Probe.
Xue nahm den Gegenstand in die Hand, betrachtete ihn und legte ihn auf den Tisch. »Anscheinend handelt es sich um eine Speerspitze aus Holz. Umwickelt mit einer verdrillten Schnur. Sie ist alt, doch wir haben keine Ahnung, was sie bedeutet.«
Seichan besah sich den Gegenstand genauer und stimmte Xue widerwillig zu.
Das Ding sah tatsächlich aus wie eine alte Speerspitze, bemalt mit zeremoniellen Symbolen.
Gray blickte sich zu seinen Leuten um. »Wären Sie einverstanden, wenn ich jemanden hinzuziehe? Jemanden, der meine Vermutung hinsichtlich des Gegenstands bestätigen könnte.«
»Nur zu.«
Gray bedeutete dem Museumsdirektor, sich zu ihnen zu gesellen. Kadir kam der Aufforderung widerwillig nach. Kopfschüttelnd musterte er den in Trümmern liegenden Raum. Am Tisch angelangt, stellte er sich vor.
Gray deutete auf die Speerspitze. »Direktor Numberi, ich möchte mich vergewissern, ob das tatsächlich ein Schwirrholz der Aborigines ist.«
»Das ist richtig.« Kadir nahm es in die Hand. »Den Symbolen nach zu schließen, stammt es von den Kaurareg, auch Torres-Strait-Insulaner genannt. Sie lebten auf den Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea und waren berühmt für ihre nautischen Fähigkeiten.«
»Was ist ein Schwirrholz?«, fragte Xue perplex, aber voller Interesse.
Kadir wickelte einen Teil der Schnur ab, als wolle er den Gebrauch des Geräts demonstrieren. Wegen des beengten Platzes tat er nur so, als wirbele er das Holzstück an der Schnur durch die Luft.
»Dabei entsteht ein lautes, sehr spezifisches Schwirrgeräusch«, erläuterte er. »Daher auch die Bezeichnung. Bei den First Nations hat es verschiedene Namen, doch alle bedeuten geheim-heilig .«
Xue straffte sich. »Wozu wurden sie verwendet?«
»Hauptsächlich bei Zeremonien. Manchmal auch als Mittel der Verständigung über größere Entfernungen hinweg. In einer stillen Nacht oder auf dem Wasser trägt das Geräusch kilometerweit. Die Lautstärke erreicht bis zu hundert Dezibel. Das entspricht dem Lärm einer Kettensäge. Außerdem lassen sich Geschwindigkeit und Ausrichtung variieren, was eine Art Morsecode ergibt.«
Xue kniff die Augen zusammen, als wäre dies die Bestätigung für etwas, das er nicht preisgeben wollte.
Gray wollte mehr wissen. »Bei welchen Zeremonien wurde es eingesetzt?«
»Meistens dienten sie dazu, böse Geister oder Hiobsbotschaften abzuwehren.«
Gray blickte zu den hohen verschlossenen Fenstern und stellte sich den flammenden Himmel rund um Jakarta vor. Seichan dachte das Gleiche wie er.
Hiobsbotschaften trifft es jedenfalls.
»Der Gebrauch des Schwirrholzes ist mit vielen Tabus behaftet«, fuhr Kadir fort. »Unbefugter Gebrauch konnte mit dem Tod bestraft werden. Besonders, weil die First Nations glaubten, das Geräusch des Schwirrholzes sei die Stimme der Regenbogenschlange, der Gottheit der Schöpfung.«
Gray legte die Stirn in Falten und musterte den Gegenstand noch eingehender.
Xue legte den Kopf schief, als er Grays Reaktion bemerkte.
Bislang war keine der beiden Seiten bereit, die Karten auf den Tisch zu legen.
Gray war sich dessen bewusst und blickte Xue herausfordernd an. Er zeigte auf den Kasten und dessen Inhalt. »Ein Stück Koralle. Ein altes Schwirrholz. Sie wissen vermutlich mehr darüber. Sie haben bereits versteinerte Körper erwähnt. Was nichts mit dem Inhalt des Kastens zu tun hat, den Sie uns gezeigt haben. Sie sind nicht aufrichtig.«
Xue zuckte nicht mit der Wimper. »Das Gleiche könnte man auch von Ihnen sagen, Commander Pierce. Sie haben sich geweigert, uns Raffles’ Dokumente zu zeigen, und bewachen sie mit der hinter Ihnen versammelten Armee. Sie erzählen uns einen Teil der Geschichte, aber nicht alles . Offenbar gehen Sie von einer Verbindung zu den Aborigines aus – aber Sie verraten uns nicht den Grund.«
Sie fixierten einander sekundenlang.
Der Stillste in der Runde brach das Schweigen. »Weshalb sind Sie hier?«, fragte Dr. Luo Heng in schneidendem Ton und richtete den Zeigefinger auf Gray. »Sagen Sie uns … zeigen Sie uns, was Sie herausgefunden haben und was Sie vermuten.«
Xue nickte und verschränkte die Arme.
Heng aber war noch nicht fertig. Er richtete den Zeigefinger auf den Major. »Und Sie, Xue, sollten von unseren U-Boot-Fahrern berichten, von der ELF -Übertragung, dem Mondgestein und den seltsamen Kristallen.«
Xue lief rot an im Gesicht; er wirkte gleichzeitig erbost und geschockt.
»Oder schießen Sie mich nieder«, sagte Heng achselzuckend. »Ist mir egal. Die Zeit läuft uns davon, und Sie beide spielen noch immer Spielchen. Machen Sie so weiter, und wir werden alle sterben.«
Hauptmann Wen schien geneigt, dem Vorschlag zu folgen und den Mann zu erschießen. Er richtete die Pistole auf Heng, doch Xue schob sie beiseite.
»Dr. Luo hat recht«, sagte Xue nach tiefem Luftholen. »Lassen Sie uns offener miteinander umgehen. Um die Welt zu retten, wie Sie sagten.«
Xue streckte die Hand aus.
Gray sah darauf nieder – dann nickte er, ergriff und schüttelte sie.
»Ich habe eine wilde Geschichte zu erzählen«, sagte Gray.
Xue lächelte zum ersten Mal. »Ich glaube, die kann ich toppen.«