Neunzig Minuten nach Betreten der Oberwasserstation war Kowalski bereit zum Aufbruch.
Er stand auf dem Mitteldeck der Titan und schaute aufs Meer hinaus. Um auf dem schrägen Boden nicht abzurutschen, hielt er sich an einer Strebe fest. Mit der anderen Hand stützte er den Raketenwerfer vom Typ PF -89, den er geschultert hatte. Zuvor hatte er ihn einem der chinesischen Gefangenen abgenommen.
Er qualmte eine Zigarre und blickte aufs brennende Wrack des Z-8-Helikopters hinunter, das auf den aschebedeckten Wellen trieb. Der Vogel war ein leichtes Ziel gewesen. Da er wegen der Aschewolken zum Tiefflug gezwungen war, konnte er sich nicht verstecken. Kowalski vermutete, dass er nicht angreifen wollte, sondern auf der Station Zuflucht gesucht hatte. Als er sie erreichte, vermochte der von Asche verstopfte Antrieb die Maschine kaum mehr in der Luft zu halten. Er hatte gespotzt und gestottert.
Kowalski waren die Luft-Boden-Raketen und Bordgeschütze freilich nicht entgangen. Um sicherzugehen, aber auch aus Wut, hatte er den Heli abgeschossen, bevor er Schaden anrichten konnte. Der Entschluss fiel ihm leicht. Nachdem er und Jarrah die letzten chinesischen Versprengten aufgespürt hatten, entdeckten sie mehrere Dutzend Forscher und Angestellte, die man in den Unterkünften auf dem Mitteldeck eingesperrt hatte. Die Überlebenden machten nur einen Bruchteil derer aus, die sich auf den beiden Stationen aufgehalten hatten – über und unter Wasser.
Deshalb war er nicht besonders nachsichtig gestimmt gewesen. Immerhin hatte er die Soldaten verschont, die sich ergeben hatten oder so stark verletzt waren, dass keine Gefahr von ihnen ausging. Sie hatten sie gefesselt und eingesperrt. Jarrah hatte die Waffen aufgesammelt und an die Überlebenden verteilt.
Währenddessen war Kowalski zum Wasserflugzeug hinübergeschwommen. Mit dieser Twin Otter waren er und Monk zur Station geflogen. Sie hatten sie im Trümmerfeld treiben lassen, doch sie war unbeschädigt. Damit barg er Haru, Byrd und Jazz von der auf den Wellen tanzenden Tethys-Ebene. Auf dem Wasser gleitend, ohne einen Propeller, dessen Kavitationsblasen ein UUV hätten anlocken können, brachte er sie zurück zur Station.
Jetzt war die Otter an der untersten Stationsebene vertäut. Kowalski blickte nach Osten, in die Richtung, in die der chinesische Helikopter geflogen war. Von den Überlebenden hatte er erfahren, dass ein großes Marineschiff in dieselbe Richtung gedampft war.
Kowalski kannte das Ziel.
Die Titan X .
Und Monk.
Trotz des erhöhten Risikos aufgrund der Luftverschmutzung wollte Kowalski nicht tatenlos abwarten. Der Abschuss des Helikopters reichte ihm nicht. Mit klopfendem Herzen sah er auf die Leichen nieder, die inmitten der Trümmer schwammen.
Hinter ihm fiel eine Luke zu.
Er wandte sich um und erblickte Byrd, der einen Rucksack geschultert hatte und ein Gewehr in Händen hielt. Auch der Milliardär hatte noch eine Rechnung offen. Außerdem kannte er die Titan X besser als jeder andere.
Im Unterdeck lud Jarrah Ausrüstung ins Flugzeug. Der Sicherheitschef war entschlossen, seiner Rolle gerecht zu werden. Unter den Überlebenden hatte er einen seiner Kollegen entdeckt, verletzt, aber am Leben. Er würde in ihrer Abwesenheit die Station bewachen.
Byrd gesellte sich zu ihm. »Jazz und Haru ruhen sich in der Krankenabteilung aus. Aber dort gibt es keinen Arzt, nur eine Krankenschwester.«
»Das muss einstweilen reichen. Ich werde versuchen, jemanden zu erreichen und Hilfe anzufordern.«
»Aber vergessen Sie nicht, darauf hinzuweisen, wie gefährlich das Gewässer ist.«
Kowalski nickte. »Nach spätesten einem Tag geht den UUV s der Saft aus. Bis dahin aber sorgen sie für den Schutz der Station.«
An Kowalskis Hals zirpte das Funkgerät.
»Alles klar hier unten«, meldete Jarrah. »Wir können jederzeit starten.«
Kowalski wandte sich an Byrd. »Sollen wir’s ihnen heimzahlen?«
Byrds Miene verdüsterte sich. »Liebend gern.«
Kowalski blickte zur Twin Otter hinunter. Zuvor hatte er die von den Soldaten angebrachten Sprengladungen sowie deren Semtex-Vorräte eingesammelt. In seiner Eigenschaft als Sprengstoffexperte hatte er für die Chinesen ein spezielles Carepaket vorbereitet.
»Dann wollen wir mal Postbote spielen«, sagte Kowalski.
Byrd stieg die Treppe hinunter.
Kowalski folgte ihm, den Blick noch immer nach Osten gerichtet. Sein Plan hatte ein schweres Manko.
Erst mal müssen wir dorthin kommen.
Von Stunde zu Stunde trübte sich die Sicht mehr ein. Der von Vulkanen erhellte Horizont wurde enger. Blitze durchzuckten die dunklen Wolken. In der Ferne grollte Donner, doch er kam nicht vom Himmel, sondern aus der Erde. Und ständig regnete heiße Asche herab.
Trotzdem war er entschlossen, dem Motto der Postboten gerecht zu werden.
Ob es regnet oder schneit, weder Hitze noch Dunkelheit …
Kowalski verzog das Gesicht und komplettierte die Aufzählung.
… nicht mal Vulkanausbrüche halten uns auf.
In Decken eingemummt, bibberte Jazz in der kleinen Krankenstation. Ihr pochte der Schädel. Zusätzlich hatte sie sich mit Kowalskis langem Mantel zugedeckt.
Als Erstes hatte eine schlanke, rothaarige Krankenschwester mit starkem australischem Akzent ihr zwei Tylenol-Tabletten gegeben. Wegen ihrer Gehirnerschütterung kamen stärkere Mittel für Jazz nicht infrage, nicht einmal Aspirin, denn das hätte eventuelle Gehirnblutungen verstärken können.
Am besten ruhen Sie sich aus , hatte die Schwester gemeint.
Sie schaute zum Nachbarbett. Haru hatte eine Spritze mit dem guten Stoff bekommen, und man hatte ihm den Arm geschient. Er dämmerte im drogeninduzierten Halbschlaf und schnarchte mit offenem Mund. Sie war froh, dass er endlich eingeschlafen war.
Im Bett an der anderen Seite lag jemand, über dessen Anwesenheit sie weniger erfreut war.
In Decken eingehüllt, litt Dr. Kim Jong Suk ähnlich wie sie. Er zitterte heftig. Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen blutunterlaufen. Seine Stirn war schweißnass, seine Lippen rissig und blutleer. Er war mit dem ersten Schub Evakuierter eingetroffen. Bereits erkrankt, hatte er den Überfall in der Krankenstation ausgesessen.
Sein linker Arm ruhte auf den Decken. Vom Ellbogen abwärts war er dunkelgrau verfärbt. Seine Finger waren schwarz, als wären sie von Wundbrand befallen. Er stöhnte und schlug hin und wieder um sich. Die Schwester hatte ihn an einen Morphiumtropf angeschlossen, doch er war trotzdem unruhig.
Ihn hatte es schlimmer getroffen als sie. Offenbar war er mehrfach gestochen worden und hatte eine größere Giftmenge aufgenommen.
Sie zog ihre Hand unter den Decken hervor und inspizierte sie. Die Handfläche war zur Hälfte grau. Den Mittelfinger konnte sie nicht mehr bewegen.
»Was für ein Gift ist das?«, flüsterte sie.
Sie wälzte sich auf die Seite und nahm den Laptop vom Nachttisch. Als Kowalski sie mit dem Wasserflugzeug abholen kam, hatte sie ihn mitgenommen. Trotz des Chaos wollte sie ihre Forschungsergebnisse retten. Um sich vom Fieber und den Schmerzen abzulenken, klappte sie den Rechner auf und öffnete ihre Dateien, darunter auch die, welche mit dem Objekt A17 zu tun hatten, dem Korallenast mit den angriffslustigen smaragdgrünen Polypen.
Sie machte sich daran, die makro- und mikroskopischen Daten und Aufnahmen noch einmal durchzugehen. Sie suchte nach einer Erklärung für ihren und Kims Zustand. Im Nachhinein bedauerte sie, die giftigen Nesselkapseln der Zellen nicht eingehender untersucht zu haben. Charakterisieren konnte man sie mit zwei Worten.
Verdammt groß.
Während ihre Kopfschmerzen schlimmer wurden, klickte sie die DNA -Daten an. Die wenigen, über die sie verfügte. Sie erinnerte sich an den Hergang des Unfalls. Sie hatte eine zweite Probe genommen, um die DNA -Analyse zu wiederholen, bei der es zu einer Fehlermeldung gekommen war.
Ein paar Informationen aber hatte auch der erste Durchlauf erbracht. Normalerweise wurde bei einer solchen Analyse eine kontinuierliche Abfolge von Daten angezeigt, doch bei A17 gab es überall große Lücken. Kein Wunder, dass der NovaSeq-Sequenzierer gestreikt hatte. Sie studierte die fehlenden Abschnitte und fragte sich, weshalb der Sequenzierer versagt hatte. Wenn der zweite Scan die gleichen Lücken aufwies, wäre dies ein Beleg dafür, dass der Fehler nicht bei dem Gerät oder ihr selbst lag – Gott bewahre –, sondern dass sie es mit anomaler DNA zu tun hatte.
Jazz leckte sich die trockenen Lippen und klickte den zweiten Scan an.
Daran hatte sie gearbeitet, als Kowalski mit den anderen nach unten gekommen war. Da sie die zweite Probe bereits genommen hatte und der NovaSeq während der Evakuierung nicht belegt war, hatte sie rasch eine zweite Sequenzierung durchgeführt.
In dem Durcheinander hatte sie jedoch keine Zeit gehabt, sich das Ergebnis anzusehen.
Jetzt habe ich Zeit im Überfluss.
Sie öffnete ein zweites Fenster mit den Daten und verglich die beiden Scans. Sie stieß einen kleinen Jauchzer aus, Ausdruck von Überraschung, Freude und tiefer Genugtuung.
Ich hab gewusst, dass es kein Benutzerfehler war.
Die Daten waren vollkommen identisch. Beide Male war der Sequenzierer bei bestimmten genetischen Abschnitten auf Probleme gestoßen.
Sie starrte die Lücken an.
»Was versteckst du?«, flüsterte sie.
Ehe sie darüber nachdenken konnte, schlug Kim Jong Suk im Nachbarbett um sich. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und Schaum vor dem Mund. Der Überwachungsmonitor zeigte einen Puls von zweihundert an. Die Körpertemperatur war auf über vierzig Grad gestiegen.
Die Schwester kam mit einer Spritze herbeigeeilt.
Kims Temperatur kletterte auf über einundvierzig und näherte sich bedrohlich der zweiundvierzig. Ein Pfleger kam hinzu und hielt ihn fest.
Die Schwester sicherte den Infusionsschlauch und injizierte das Medikament. »Ich gebe ihm Diazepam.«
Kims Krämpfe mündeten in ein Zittern, dann sackte er zusammen. Sein Herzschlag beruhigte sich. Ein Messwert aber stieg weiter an.
Seine Körpertemperatur betrug jetzt dreiundvierzig Komma drei Grad.
»Wir brauchen ein Eisbad«, sagte die Schwester.
»Ich kümmere mich drum.« Der Pfleger eilte davon.
Kopfschüttelnd beobachtete Jazz, wie Kims Temperatur auf vierundvierzig Komma vier stieg. Es war, als verbrenne er von innen. Sie legte sich die Hand auf die feuchte Stirn und schaute Kims Arm an. Inzwischen hatte sich seine ganze Hand schwarz verfärbt.
Jazz ballte die befallene Hand zur Faust – zwei weitere Finger ließen sich nicht mehr bewegen.
Sie senkte den Arm.
Was zum Teufel passiert da?