Monk saß an der Funkstation auf der Brücke der Titan X . Er war mit einem beigefarbenen Overall bekleidet, als gehörte er mit zur Crew. Captain Stemm stand am Ruder. Die anderen Männer verrichteten wortlos ihre Arbeit.
Alle wurden aufmerksam beobachtet von drei behelmten Soldaten in schwarz-blau gefleckten Kampfanzügen. Sie patrouillierten umher, bewaffnet mit QBZ -Sturmgewehren. Doch im Grunde waren sie alle in einem Netz gefangen – über und unter Wasser.
Monk musterte Meer und Himmel. Vor drei Stunden war ein großes chinesisches Amphibienboot vom Typ 726 LCAC herangefegt – ein Luftkissen-Landungsboot. Sein Spitzname lautete Yema , was Wildpferd bedeutete.
Dieser Hengst trug seinen Namen wirklich zu Recht.
Trotz seiner Länge von dreißig und einer Breite von fünfzehn Metern war das Boot ausgesprochen wendig. Auf seinen aschebedeckten Pontons und dem Luftpolster gleitend, hatte es die Titan X mehrmals umkreist. Die Gasturbine trieb zwei sieben Meter durchmessende Heckpropeller an.
Solche Fahrzeuge konnten am Strand landen und mit dem Luftkissen sogar auf festem Untergrund manövrieren. Ein LCAC hatte eine Tragkraft von sechzig Tonnen und war in der Lage, Hunderte Soldaten mitsamt Ausrüstung abzusetzen. Das aber war nicht die Hauptaufgabe dieses Boots. An Deck stand ein Kampfpanzer vom Typ 96, doch dieser hier war mit einer gepanzerten Kuppel ausgestattet, von der mehrere Antennen aufragten.
Monk vermutete, dass der Panzer fernsteuerbar war wie die übrige Ausrüstung an Bord des LCAC . Normalerweise hatte das Deck zwei parallel angeordnete seitliche Aufbauten mit einer Lücke dazwischen für Panzer, Landedocks und Infanteriefahrzeuge. Davon war nur das vorne links befindliche Steuerhaus geblieben. Den Rest des Decks nahmen Kräne und elektromagnetische Startvorrichtungen ein.
An den Galgen hingen alle möglichen UUV s und AUV s, darunter Meereswale und Versteckte Drachen, die beide in der Lage waren, unter Wasser selbstständig zu operieren. Auf den Startvorrichtungen waren Torpedos wie Klafterholz gestapelt. Außerdem befanden sich noch Starrflügel- und VTOL -Drohnen an Deck.
Irgendjemand hatte das LCAC in ein vollautomatisiertes Kampfboot umgewandelt.
Captain Stemm hatte Monk klargemacht, was sie erwartete. Als ehemaliger Angehöriger der australischen Marine kannte er sich mit der Technologie aus, denn er hatte die Entwicklung der KI -gesteuerten chinesischen Flotte aufmerksam verfolgt.
Während sie von der Brücke aus hilflos zusahen, hatte das LCAC mehrere Flugdrohnen gestartet und weitere Drohnen zu Wasser gelassen. Sie waren in einem Netz aus Überwachungsgeräten und Kampfdrohnen gefangen gewesen. Der Titan X war nichts anderes übrig geblieben, als zu kapitulieren und die bewaffneten Soldaten an Bord zu lassen. Das LCAC hatte mehrere Dutzend Marinesoldaten abgesetzt. Die übrigen fünfzig Kämpfer waren von dem U-Boot gekommen, das kurz nach dem Eintreffen des LCAC aufgetaucht war.
Die Flosse des U-Boots ragte noch immer aus dem Wasser. In 400 Metern Entfernung beschrieb es langsam einen Kreis. Im Moment wurde es nicht gebraucht. Das LCAC mit seiner autonomen Ausrüstung hatte die Jacht fest im Griff. Das KI -gesteuerte Boot hatte vielleicht drei oder vier Mann Besatzung. Die Systeme waren darauf ausgelegt, mit minimaler Überwachung auszukommen.
Captain Stemm setzte sich in Bewegung, was die beiden Soldaten aufmerksam werden ließ, doch sie verloren rasch wieder das Interesse. Sie wussten, dass die unbewaffnete Brückenbesatzung keine Bedrohung darstellte. In den vergangenen Stunden hatten sie sich ein wenig einlullen lassen.
Stemm stellte sich neben Monk. »Das Radar zeigt im Westen einen weit entfernten Schatten an«, murmelte er, während er so tat, als ob er mit vorgehaltener Hand gähnte. »Ich verstehe ein bisschen Mandarin und habe gehört, dass die Kerle ein LHD erwähnt haben.«
Eine Landedock für Helikopter.
Monk unterdrückte ein Aufstöhnen und schaute zum dunklen Himmel im Westen. Blitze durchzuckten die tief hängenden Wolken, doch von der neuen Bedrohung war nichts zu sehen.
Sie war noch zu weit entfernt.
»Wie lange?«, fragte Monk.
»Bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit wird es in einer Stunde hier sein.«
Monk zuckte zusammen. Er dachte an die große V-förmige Drohne, die acht Stunden zuvor die Jacht umschwirrt hatte. Sie musste von dem großen Schiff gekommen sein. Die Chinesen gingen offenbar auf Nummer sicher. Was immer sie in fast zehn Kilometern Tiefe verstecken oder erkunden wollten, es musste äußerst wichtig sein.
Seit der Kaperung der Jacht hatten die Chinesen die Forscher brutal verhört, um möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Vermutlich war dies der einzige Grund, weshalb sie die Jacht noch nicht versenkt hatten.
Monk hatte nur ohnmächtig zusehen können, wie die Chinesen die Kontrolle übernahmen. Mit den Überwachungskameras hatte er das Geschehen in der Science City verfolgt. Auf den Fluren lagen Forscher und Beschäftigte, Tote, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt hatten. Andere waren von den Befragern geschlagen und verstümmelt worden.
Monk war eine Chinesin aufgefallen, die offenbar für die brutalen Befragungsmethoden verantwortlich war. Abgesehen davon, dass es sich um eine Frau handelte, fiel sie auf, weil man ihr unterwürfig begegnete und sie als Einzige keine Tarnuniform trug. Stattdessen trug sie eine Marinejacke mit Epauletten und darunter ein weißes Hemd mit Krawatte.
Auf dem Flur waren Stimmen zu hören.
Mehrere Personen betraten die Brücke, angeführt von ebendieser Frau. Flankiert wurde sie von einem großen Schlägertyp mit Helm und Körperschutz. Seine Fingerknöchel waren blutig, offenbar war er an den Befragungen beteiligt gewesen. Die drei Soldaten nahmen Haltung an.
Monk hielt den Blick gesenkt und hörte, wie sie angesprochen wurde.
»Haijun shang xiao Tse.«
Er knirschte mit den Zähnen. Das war offenbar die Anführerin der Einsatztruppe. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, während sie auf der Brücke die Runde machte. Sie schaute aus dem Vorderfenster und betrachtete ihre Eroberung.
Drohnen umschwirrten wie Mücken das Schiff oder glitten auf Starrflügeln vorbei. Das aschebedeckte Meer wurde von den kleinen Flossen der AUV s und UUV s aufgewühlt. Weitere Unterwasserdrohnen operierten in größerer Tiefe. Die Frau stemmte die Hände in die Hüften, offenbar zufrieden mit dem Anblick.
Dann wandte sie sich um. Obwohl sie von der Mütze beschattet wurden, funkelten ihre Augen unter dem schwarzen Pony. An den Seiten war ihr Haar kurz geschnitten und lag flach an. Ihr Aufzug wirkte ebenso schneidig wie ihr Auftreten. Der einzige Makel war ein Blutfleck auf dem Kragen.
Offenbar ist sie dem Befrager mit den blutigen Knöcheln bei der Arbeit zu nahe gekommen.
Sie besprach sich mit dem Mann, dann näherte sie sich Captain Stemm, der bei ihrem Eintreffen zum Ruder zurückgekehrt war.
Sie wechselte ins Englische. »Captain Stemm, wie ich erfahren habe, wurde kurz vor unserem Eintreffen ein Unterwasserfahrzeug gestartet. Es wurde von unserem U-Boot geortet, und die Personen, die von uns verhört wurden, haben dies bestätigt.«
Stemm schluckte und nickte. »Das war ein geplanter Tauchgang. Das ist alles.«
»Das glaube ich Ihnen nicht«, erwiderte sie kühl und trat noch einen Schritt vor.
Stemm wollte zurückweichen, doch der Schläger verstellte ihm den Weg und drückte ihm eine Pistole in den Rücken.
»Unserem U-Boot-Kommandanten zufolge«, sagte die Frau mit klirrender Stimme, »haben Sie beim Abtauchen ziemlich viel Lärm gemacht, der offenbar der Tarnung diente.«
Stemm kniff die Lippen zusammen und schwieg.
»Des Weiteren habe ich gehört, Sie hätten dort, wo unser U-Boot gesunken ist, am Grund des Grabens einen Wald riesiger Korallen und fremdartige Lebensformen entdeckt. Und es gibt Gerüchte über einen sich öffnenden Riss, der das U-Boot und einen großen Teil des Waldes verschluckt hat.«
Tses Augen funkelten boshaft. Ihr Befrager hatte anscheinend ganze Arbeit geleistet, und jetzt knöpfte sie sich ein neues Opfer vor. Mit ihrem durchgedrückten Rücken machte sie den Eindruck, als trage sie ein Viertonnengewicht auf den Schultern. Als Frau hatte sie sich in der Volksarmee mühsam nach oben kämpfen müssen, und sie musste willensstärker, kaltschnäuziger und schlauer sein als ihre Widersacher.
Monk forschte in seinem Herzen nach einem Funken Mitgefühl, doch er musste an die Toten auf den Gängen und die blutigen Gesichter der Forscher denken.
Scheiß drauf.
Tse wollte mehr Details hören. »Was hofft Ihr Tauchfahrzeug dort unten zu finden? Inzwischen müsste es den Grund des Grabens erreicht haben. Will die Besatzung die Technologie unseres neuen U-Boots ausspionieren oder die Ursache der Erdbeben erforschen?«
Stemm war sich anscheinend bewusst, dass es sinnlos war, Ausflüchte zu machen. »Uns interessiert allein, in welcher Beziehung das U-Boot zu den Beben steht.« Er deutete auf den flammenden Horizont. »Das muss aufhören. Das sollte Ihnen ebenfalls klar sein.«
»Klar ist mir jedenfalls eines: Bei solchen Operationen sollte es nur einen Kapitän geben.« Sie nickte dem großen Befrager zu.
Der Mann setzte die Pistole auf Stemms Hinterkopf auf.
Monk trat einen Schritt vor.
Der Schuss war ohrenbetäubend laut.
Kapitän Tse war im letzten Moment beiseitegetreten, um nicht mit Blut und Gehirnmasse bespritzt zu werden. Stemm brach vor den Augen der geschockten Crew zusammen.
Monk ballte die Hand so fest zur Faust, dass die Knöchel knackten.
Tse wandte sich ihm zu, als habe sie es gehört. Die Faust ignorierte sie und sah ihm ins Gesicht.
»Dr. Kokkalis«, sagte sie. »Wir sollten uns ebenfalls unterhalten. Mich interessiert die Rolle, welche die DARPA bei alldem spielt.«
Monk erwiderte ihren Blick.
Mich unter den Besatzungsmitgliedern zu verstecken, hat jedenfalls nicht geklappt.
Die Expertise ihres Befragers hatte sich ausgezahlt. Zu viele an Bord wussten über Monks Hintergrund Bescheid – oder kannten zumindest die Geschichte, die man ihnen aufgetischt hatte. Da sie im Moment von der Außenwelt abgeschnitten waren, bezweifelte er, dass die Chinesen über seine Verbindung zu Sigma informiert waren. Er konnte nur hoffen, dass es so bleiben würde.
Tse winkte ihre Soldaten zu sich und blaffte Befehle. Zwei traten vor und bedeuteten Monk mit ihren Gewehren, zur Tür zu gehen.
Bevor er hinausging, machte Kapitän Tse noch eine Ankündigung.
»Wir werden unsere Unterhaltung bald fortsetzen, Dr. Kokkalis.« Sie sah auf ihre Füße nieder. »Zunächst aber muss ich mich um eine andere Angelegenheit kümmern. Und zwar persönlich.«
Während Monk hinauseskortiert wurde, sah er durchs Fenster zum LCAC hinüber. Ein weiteres Unterwasserfahrzeug war noch an Bord des Kampfboots. Es hing über dem Heck. Die kastenförmige Form und die Glaskuppel an der Vorderseite waren gut zu erkennen.
Ein tiefseetaugliches Unterwasserfahrzeug.
Allerdings war es mit dicken Torpedos beladen. Vermutlich waren die Waffen für den Einsatz in extremer Tiefe angepasst worden.
Monk sah sich zu Kapitän Tse um, die von der Brücke ebenfalls zum Tauchboot blickte. Er zuckte zusammen, senkte den Blick und sandte lautlos eine Warnung aus.
Vorsicht, Leute, ein neuer Hai ist unterwegs zu euch.