Gray stöhnte auf, während Heng seinen Oberschenkel verband. »Ein sauberer Durchschuss«, sagte der Arzt tadelnd. »Aber Sie benötigen dringend medizinische Behandlung.«
»Das kann warten.«
Gray saß im Steuerhaus. Das Gemetzel war vorbei, doch es gab noch viel zu tun. Heng bemühte sich, die anderen Verletzten zu versorgen. Zum Glück war das Patrouillenboot gut ausgerüstet.
An Deck leistete Seichan ihrer Mutter Beistand, die neben dem zugedeckten Leichnam Zhuangs kauerte. Guan-yin drückte ihren Kopf an seine Brust. Ihre Schultern bebten, jedoch nicht vor Schwäche oder weil sie Fieber gehabt hätte. Die Trauer hatte sie im Griff. Zudem hatte sie eine starke Vergiftung erlitten. Die zahlreichen Stiche begannen sich schwarz zu färben, doch Guan-yin achtete nicht darauf. Sie schien bereit, Zhuang in den Tod zu folgen.
Da Gray wusste, dass er ihnen nicht helfen konnte, humpelte er zu Xue hinüber, der am Ruder stand, das Ende der Welt vor Augen.
»Danke«, sagte Gray.
Xue senkte den Blick auf sein Pistolenholster. »Ich habe Sie nicht gerettet.«
Gray blickte sich zu Zhuang um. »Aber Sie haben ihm Zeit verschafft.«
Xue zuckte mit den Schultern und blickte wieder nach vorn. »Aber wie viel Zeit bleibt uns noch? Das Schwirrholz hat nichts gebracht. In dieser Hinsicht hat Kapitän Wen recht behalten.«
Gray wollte dem Mistkerl nicht recht geben. »Wir wurden unterbrochen. Wir hatten keine faire Chance.«
Xue musterte ihn stirnrunzelnd. »Wie meinen Sie das?«
Gray blickte zum Niedergang. Kadir war versorgt worden und hatte sich anschließend in eine Kabine zurückgezogen. »Stamfords Bericht zufolge wurde der Tambora bei seinem letzten Ausbruch von den hier versammelten Aborigines besänftigt. Das war keine kleine Gruppe. Hunderte hatten sich hier zusammengefunden und ließen ihre Schwirrhölzer kreisen. Schon damals, als nur der Tambora ausgebrochen war, hat ein einzelnes Schwirrholz nicht ausgereicht, um den Ausbruch zu stoppen.«
Xue seufzte. »Nicht mal das eine haben wir noch. Es wurde zerstört.«
»Das brauchen wir gar nicht.«
Xue trat zurück und musterte ihn forschend. Offenbar zweifelte er an Grays Geisteszustand.
Gray zeigte auf Xues Tasche. »Ich habe gesehen, dass Sie Kadirs Versuch aufgenommen haben. Das Schwirren ist auf Ihrem Handy gespeichert.«
Xues Augen weiteten sich. Er zog das Handy aus der Tasche und starrte es an.
Gray zeigte aufs Ruder. »Das ist ein Patrouillenboot, dazu gedacht, Piraten und Schmuggler zu stellen. Am Steuerhaus ist eine große Schallkanone montiert.«
Xue begriff, worauf Gray hinauswollte. »Wenn wir das Geräusch damit verstärken …«
»… dann übertrifft die Lautstärke die von hundert Schwirrhölzern. Das würde sich anhören wie Tausende .«
Während die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, führte Seichan ihre Mutter ins Steuerhaus. Guan-yin vermochte sich nicht mehr aus eigener Kraft aufrecht zu halten. Durch die Kleidung hindurch spürte Seichan die von ihr ausgehende Hitze.
Gray ging Seichan entgegen und half ihr, Guan-yin zu einem Sitz zu geleiten. Dann reichte er Seichan einen Kopfhörer. Mehrere davon hatte er neben der Funkkonsole gefunden. Offenbar hatte man sie dort aufbewahrt, um die Besatzung beim Einsatz der Schallkanone zu schützen.
»Setz den deiner Mutter auf«, sagte er. »Es dürfte laut werden.«
Seichan nickte.
Er umarmte sie kurz und sah besorgt in Guan-yins Richtung, die zur Seite gekippt war. Offenbar hatte sie erneut das Bewusstsein verloren.
»Das muss klappen«, sagte Seichan mit Blick auf ihre Mutter.
Nicht nur um der ganzen Welt willen.
»Wir tun, was wir können.«
Er wandte sich ab, doch sie zog ihn an sich und küsste ihn. Sie wollte seine Lippen spüren, seinen Atem schmecken, sich von ihm erden lassen. Sie war nicht sanft. Sie nahm sich, was sie brauchte. Er wehrte sich nicht.
Als sie genug hatte, stieß sie ihn weg. »An die Arbeit.«
Er ging zu Xue und Kadir.
Sie wollten das akustische Gewitter in der Kabine abwettern, in der Hoffnung, dass der gepanzerte Rumpf und die kugelsicheren Fenster ihnen zusätzlichen Schutz geben würden.
Gray und Xue besprachen sich in ernstem Ton. Sie testeten das Gerät, dann setzte Gray den Kopfhörer auf.
»Los geht’s!«, rief er.
Seichan vergewisserte sich, dass die Ohren ihrer Mutter geschützt waren, dann drückte sie die Muscheln fest an ihren Schädel.
Gray blickte in die Runde und reckte den Daumen. Xue betätigte einen Schalter an der Funkkonsole. Das Handy hatten sie bereits an das Gerät angeschlossen. Als die Aufzeichnung startete, drehte Xue die Lautstärke hoch. Ein dumpfes Dröhnen setzte ein, das vom Weitstreckenlautsprecher auf dem Dach des Steuerhauses übertragen wurde.
Xue blickte Gray an, der ihm bedeutete fortzufahren.
Der Ton schwoll an, wurde immer lauter. Obwohl der Lautsprecher den Schall bündelte, erbebte das Dach. Seichan hatte das Gefühl, ihre Ohren seien gänzlich ungeschützt. Das Dröhnen füllte ihren Schädel aus, ließ sie mit den Zähnen klappern und versetzte ihren Brustkasten in Resonanz.
Gray wartete, bis alle Daumenzeichen gegeben hatten, dann reckte er den Zeigefinger.
Lauter.
Xue drehte die Lautstärke bis zum Anschlag hoch.
Seichan wand sich, versuchte, sich vor dem Lärm zu verstecken, doch das war aussichtslos. Er war in ihren Knochen, ihrem Blut. Ihr wurde übel. Ihr prickelte die Haut. Sie hatte Herzklopfen und verspürte unbeschreibliche Panik. Die Luft vibrierte, sie konnte kaum noch atmen.
Sie wusste, das war Einbildung, doch sie kam nicht dagegen an.
Gray beugte sich zu Xue vor und zeigte zu den Vorderfenstern.
Seichan richtete sich auf. Zunächst konnte sie nichts Ungewöhnliches erkennen – dann bemerkte sie eine Veränderung am Tambora. Die Feuerfontänen waren versiegt. Die unteren Hänge waren dunkler geworden, da der Nachschub an geschmolzenem Gestein ausblieb.
Sie schaute aus den anderen Fenstern. Am Horizont war nur noch ein schwaches Leuchten zu sehen. Gray fing ihren Blick auf, sein Gesichtsausdruck war einfach zu deuten.
Es hat funktioniert.
Doch er meinte nicht nur die Vulkane.
Er schwenkte den Arm. Seichan senkte den Blick aufs Wasser. Es war noch immer dunkel, doch in der Asche leuchtete immer wieder etwas auf.
Die Regenbogenschlangen …
Gray wandte sich an Xue und schwenkte die flache Hand.
Xue schaltete die Schallkanone aus. Tiefe Stille setzte ein, als halte die Welt den Atem an.
Gray schaute zu den flirrenden Lichtern hinaus. »Wir haben sie tatsächlich herbeigerufen.«
»Aber ob das reicht?«, meinte Xue skeptisch.
Gray stand an der Reling und musterte den Tambora. Bislang blieb alles ruhig. In den vergangenen zehn Minuten war der Berg stetig dunkler geworden, bis nur noch der rötliche Lichtschein glühender Asche übrig geblieben war. Gray musterte den Horizont. Während die fernen Feuer erloschen, wurde es immer dunkler. An einigen Stellen loderten noch ein paar weit entfernte Vulkane.
Neben ihm stand Xue, der sich ebenfalls einen Überblick verschaffte.
Das ferne Donnern hörte sich nicht mehr an wie Kanonenfeuer, sondern klang eher nach Gewitter. Allerdings deutete es darauf hin, dass die tektonische Instabilität fortbestand.
»Es ist uns gelungen, diese Region zu befrieden«, zog Gray Bilanz. »Mehr aber auch nicht.«
»Bei Weitem nicht«, pflichtete Xue ihm bei. »Das war gerade mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Sollte die Vulkanaktivität im weiteren Umkreis ungebremst zunehmen, könnte es auch hier von Neuem losgehen.«
»Aber wir haben gezeigt, dass es ein wirksames Gegenmittel gibt.«
Gray schaute aufs Wasser. Schwärme biolumineszierender Tiere schwammen in der Asche. Sie flackerten und blinkten in allen Farben. Kein Wunder, dass die Aborigines bei ihrem Anblick an Regenbogen gedacht hatten.
Die Tiere machten sich emsig zu schaffen. Geschmeidige Tentakel wurden gereckt und umhergeschwenkt. Sie packten die Korallenkugeln und sammelten Bruchstücke und Äste ein. Sie reinigten sorgfältig das Gewässer.
Gray fragte sich erneut, ob die Stachelminen ein Mittel der biologischen Verteidigung waren. Schützten die Tiere mit ihrer jungen, aggressiven Form ihr Reich?
Dieser Aspekt war im Moment jedoch zweitrangig.
Am Heck hatten Yeung und Heng einen Hebel entdeckt, mit dem sich eine Tauchplattform zu Wasser lassen ließ – was Gray gern schon eher gewusst hätte, als er Guan-yin und Zhuang vor dem Ertrinken gerettet hatte.
Yeung rief, sie seien fertig.
Gray nickte und ging zu der Bank, die ihnen während des Feuergefechts als Deckung gedient hatte. Jetzt lag die erschlaffte Guan-yin darauf. Sie war bewusstlos und schlug hin und wieder stöhnend um sich. Ihre Haut war leichenblass und mit schwarzen Einstichstellen übersät.
Seichan kam dazu. Gemeinsam hoben sie ihre Mutter hoch. Guan-yin fühlte sich leicht an, als habe der drohende Tod sie bereits ausgehöhlt.
Yeung wollte ihnen helfen, doch Seichan wies ihn mit finsterem Blick ab. Sie wollte ihm ihre Mutter nicht anvertrauen, denn Guan-yin war noch immer der Drachenkopf der Triade. Schwäche zu zeigen, war demütigend. Seichan wollte die Ehre ihrer Mutter schützen.
Eine schmale Tür führte zur kleinen Tauchplattform hinunter, die in Wasserhöhe angehalten hatte. Behutsam trugen sie Guan-yin dorthin. Die anderen blieben an Deck. Sie setzten sie auf die Knie und tauchten sie in die Asche.
Vom Meerwasser umhüllt, fühlte Guan-yin sich gewichtslos an, als habe sie keinen Körper mehr. Das Gewand entfaltete sich wie Schwingen. Sie seufzte, als verschaffe ihr das kalte Wasser Linderung.
Gray und Seichan hielten sie, was kaum Kraft erforderte.
Sie warten auf ein Wunder, hofften darauf, dass das Versprechen alter Rituale eingelöst würde. Doch es tat sich nichts. Die leuchtenden Tiere, die auf den Wellen schwammen und in der Asche wimmelten, kamen nicht näher.
»Wieso helfen sie ihr nicht?«, fragte Seichan.
»Keine Ahnung.«
Gray sprach nicht aus, was ihm durch den Kopf ging.
Vielleicht erachten sie sie als unwürdig.
Guan-yin war eine ehrbare Frau, doch ihr Name – Göttin der Barmherzigkeit – war eher ironisch zu verstehen. Sie hatte ein schweres Leben gehabt und Härte auch anderen erwiesen, besonders ihren Gegnern. Ihre Hände waren mit Blut befleckt, auch mit dem von Unschuldigen.
Andererseits gilt das auch für mich.
Hinter ihm wurde es laut. Xue hatte das Handy gereckt und spielte die Tonaufzeichnung des Schwirrholzes ab. Im Vergleich zu dem Getöse der Schallkanone klang sie verloren und wehmütig.
Gray schaute wieder aufs Wasser.
Die Schlangen hielten inne, als ob sie lauschten. Eine nach der anderen versank im Meer. Die Ascheschicht schloss sich wieder.
Gray runzelte die Stirn.
Haben wir sie unabsichtlich verscheucht?
Seichan spannte sich an.
Rund um ihre Mutter tauchten Tentakel auf, die umherschwenkten wie Schlangen. Ihre Biolumineszenz synchronisierte sich allmählich, die leuchtenden Farben wanderten von einem Tentakel zum nächsten, ein Strudel schimmernder Schönheit – als hätte sich ein Regenbogen aufs Wasser niedergelassen.
Die Bewegungen der Tentakel wurden langsamer, sie tasteten über Guan-yins bleiche Haut. Bei jeder Berührung bildete sich eine Quaddel. Sie schlängelten sich unter ihre Kleidung, über ihr Gesicht. Dabei schienen sie sich auf die schwarz verfärbten Einstichstellen der giftigen Korallen zu konzentrieren.
Guan-yin stöhnte vor Schmerzen, die Augen hatte sie zusammengekniffen.
Die Schlangen aber machten ungerührt weiter.
Heng vermochte seine Ungeduld nicht mehr zu bezähmen und trat auf die Plattform. Unter Entschuldigungen und Verneigungen griff er ein. »Wenn das ein Heilmittel ist, brauchen wir mehr davon.«
Sie versuchten, ihn zu beruhigen. Gray wusste, dass der Arzt in Kambodscha Patienten hatte, doch er machte sich nicht nur um sie Sorgen. Guan-yin war nicht die Einzige, die in diesen Gewässern vergiftet worden war. Die ganze Region war auf das Heilmittel ebenso angewiesen wie Hengs Patienten.
Der Arzt kniete nieder, in der Hand eine Petrischale für die Probennahme. Offenbar hatte er sie in weiser Voraussicht eingepackt, denn er hatte vor allem deshalb an der Reise teilgenommen, weil er gehofft hatte, ein Heilmittel zu finden. Mehrere Tentakel betasteten das Glas und ließen ihre Absonderungen darauf zurück. Heng wartete, bis die Schale befeuchtet war. Währenddessen wurde er mehrmals gestochen, doch das machte ihm nichts aus. Als er genug Sekret gesammelt hatte, zog er die Hand zurück und verschloss die Schale. Diesen Vorgang wiederholte er mit einem zweiten Probengefäß. Dann stellte er die Petrischalen neben Gray ab.
»Ich werde Ihnen meine Analyseergebnisse mitteilen«, sagte Heng. »Ich hoffe, Sie werden das Gleiche tun.«
»Selbstverständlich«, sagte Gray.
Mit einer angedeuteten Verneigung zog Heng sich daraufhin zurück.
Guan-yins Feuertaufe währte noch ein paar Minuten, Beleg für die Aufmerksamkeit und Gründlichkeit der Wesen. Schließlich zogen sich die Tentakel wie auf ein geheimes Signal hin zurück.
Als sie verschwunden waren, half Gray, Guan-yin auf die Plattform zu ziehen. Seichan hockte sich neben ihre Mutter. Gray richtete sich auf und schaute aufs dunkle Meer hinaus.
Die Wesen tauchten nicht wieder auf; offenbar hatten sie ihre Aufgabe erfüllt.
Leider galt das nur für den engen Umkreis.
In der Ferne waren noch immer Detonationen zu hören, und der Horizont stand in Flammen.
Es hat nicht gereicht.