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24. Januar, 11:55 WITA
Balisee, vier Kilometer vor der Küste von West-Nusa Tenggara

Gray stieg zum Steuerhaus des Patrouillenboots hoch. Yeung stand am Ruder und lenkte das Boot durchs aschebedeckte Meer. Gray hatte Anweisung gegeben, die Luvseite des Tambora anzusteuern, um der Rauchwolke zu entgehen.

Der Vulkan war zwar noch ruhig, dampfte und rauchte jedoch. Aus den Rissen in der abkühlenden Kruste leuchtete Lava hindurch und erinnerte sie daran, dass die Gefahr noch nicht überstanden war.

Als wenn der bereits entstandene Schaden nicht schon groß genug gewesen wäre.

Stirnrunzelnd schaute Gray zu einem Fischerlager auf einem kleinen Atoll hinüber. Es war unter Asche begraben. Tsunamis hatten die Boote weit in die primitive Siedlung geschwemmt. Zwei Ziegen standen auf einem Dach und blökten, ein trauriges, verlorenes Klagen. Sonst gab es auf der kleinen Insel anscheinend kein Leben mehr.

Gray fühlte sich niedergeschlagen.

Die Menschen hatten bereits unsäglich gelitten. Dabei befanden sie sich hier lediglich im Auge des tektonischen Sturms. Gebot man ihm nicht Einhalt, würden die Eruptionen nicht nur weitergehen, sondern sich um ein Vielfaches steigern.

Wir haben uns nur einen kleinen Aufschub verschafft.

Er ging durchs Steuerhaus zum Heck. Xue und Heng hatten die Toten zur Seite gewälzt und sie mit Planen bedeckt. Während sie an Deck tätig waren, hatte Gray Seichan unten in der Kabine geholfen. Seichan hielt an der Koje ihrer Mutter Wache. Kadir befand sich in der angrenzenden Kabine, bereit für den Fall, dass er gebraucht wurde.

Zwar war Guan-yins Fieber gesunken, doch sie schwebte noch immer am Rand des Deliriums. Offenbar versuchte der Körper, die letzten Reste des Giftes auszuschwitzen. Seichan hatte ihr feuchte Tücher auf Stirn und Arme gelegt, was ihr anscheinend ein wenig Linderung verschaffte. Kurz zuvor hatte Guan-yin sich gerührt und die Augen geöffnet. Sie hatte leise vor sich hingemurmelt und suchend umhergeschaut.

Gray und Seichan wussten, wen sie vermisste.

Doch selbst diese kleine Anstrengung war zu viel für Guan-yin gewesen. Die Augen waren ihr wieder zugefallen. Vermutlich wäre das Aufwachen zu schmerzhaft für sie gewesen, und ihr Unterbewusstes zog es vor, sich dem erlittenen Verlust nicht stellen zu müssen.

Draußen an Deck schaute Gray über den Bug hinweg. Es war zwar Mittag, doch die dichte Rauchwolke verdeckte die Sonne. In der Ferne wirkten die Wolken eher grau als schwarz. Hoffentlich würden sie es rechtzeitig dorthin schaf­fen.

Xue blickte in die gleiche Richtung. »Wie sieht Ihr Plan aus, Commander Pierce? Sie sind ziemlich vage geblieben.«

»Tut mir leid. Ich wollte das Boot auf den Weg bringen.«

»Warum?«, fragte Heng. »Wollen Sie an anderer Position erneut den Ruf des Schwirrholzes erschallen lassen?«

Gray stellte sich vor, wie sie umherfuhren und die tektonischen Platten gefügig zu machen versuchten, ein Kampf gegen Windmühlen.

»Nein«, antwortete er. »Wir würden es niemals schaffen. Stamford zufolge gehören die Gewässer um den Tambora zu den dünnen Stellen der Erdkruste, von denen in den Legen­den der Aborigines die Rede ist. Nur dort konnte das Schwirrholz funktionieren. Davon soll es zwar viele geben, doch wir wissen nicht, wo sie sich befinden.«

»Aber wir kennen noch eine weitere«, sagte Xue.

Gray nickte. »Die wichtigste. Die Schwachstelle, wo die Regenbogenschlangen zu Hause sind. Crawfurd glaubte, sie liege vor der Insel, die er gezeichnet hat.«

Xue begriff, was Gray vorhatte. »Wenn wir dort die Prozedur wiederholen würden, könnten wir das Ganze vielleicht stoppen.«

»Aber wo liegt die Insel?«, fragte Heng. »Wie kommen wir dorthin?«

Gray nahm das Tablet in die Hand, das er von unten mitgebracht hatte. »Crawfurds Beschreibung ist vage. Er schreibt, die Insel befinde sich jenseits aller Inseln, in einem Meer, das nur wenige zu Gesicht bekommen . Doch in Anbetracht der Umstände habe ich eine Vermutung, wo sie liegen könnte. Oder jedenfalls eine Ahnung.«

Er weckte das Tablet aus dem Standby-Modus auf und zeigte Crawfurds Zeichnungen vor – die Küstenansichten der Insel und deren Umriss.

»Die Hinweise reichen aus, um mit der Suche anzufangen«, erklärte Gray.

»Aber wo?«, fragte Heng.

Xue hatte bereits weitergedacht. »Die Insel muss im Bereich des Tongagrabens liegen. Dort, wo die Erdbeben angefangen haben und wo wir während der Chang’e-Mission das ELF -Signal geortet haben.«

Gray nickte. »Die Kermadec-Inseln liegen entlang des Tongagrabens. Ich habe jede einzelne mit Crawfurds Zeichnung verglichen und das hier gefunden.«

Er wischte über das Display und ließ das Satellitenfoto einer ambossförmigen Insel anzeigen.

Xue betrachtete das Bild, dann sah er auf. »Wie weit ist die Insel vom Zentrum der Eruptionen entfernt?«

Gray hob eine Braue. »Etwa fünfzehn Kilometer.«

»Dann muss sie das sein«, sagte Xue. »Die Heimat der Regenbogenschlangen.«

Gray hoffte, dass sie richtiglagen. »Wenn wir dort das Geräusch des Schwirrholzes aussenden, können wir das Übel vielleicht an der Wurzel packen.«

»Aber wie kommen wir dorthin?«, fragte Heng. »Das sind mehrere tausend Kilometer.«

»Über 6000. Und wegen der vielen Asche in der Luft kommt ein Flugzeug wohl nicht infrage. Wir haben es nur mit Mühe und Not von Jakarta nach Bali geschafft.«

Xue runzelte die Stirn. »Wir müssen irgendetwas unternehmen. Laut unseren Geologen wird in dieser Region binnen zwölf Stunden ein Kipppunkt erreicht, möglicherweise auch schon eher.«

»Also, was machen wir?«, fragte Heng.

Gray schaute hoch. »Wir müssen einen Bereich sauberer Luft erreichen, wo keine Störungen durch die elektrisch aufgeladenen Aschewolken zu erwarten sind. Ich versuche seit einer halben Stunde, das Satellitentelefon zu benutzen, habe aber nur kurzeitig eine Verbindung bekommen, die gleich wieder abgebrochen ist.«

Xue blickte zum Tambora. »Die Störungen sind teilweise wohl auf die elektromagnetischen Effekte der Vulkanausbrüche zurückzuführen. Jetzt, da sie nachgelassen haben, sollte eine Verbindung wieder möglich sein.«

»Aber selbst wenn es klappen sollte«, sagte Heng, »wen wollen Sie anrufen? Wer kann rechtzeitig dort eintreffen?«

Gray hob den Blick. »Es befindet sich ein Forschungsschiff in der Gegend. Wenn wir ihm die Aufzeichnung mit dem Geräusch des Schwirrholzes schicken und die senden es aus, werden die Götter sich vielleicht empfänglich zeigen.«

Xue sah zu Boden.

»Was ist?«, fragte Gray, der spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.

Heng hob den Kopf. »Wir haben ebenfalls Einsatzkräfte vor Ort. Oder jedenfalls waren sie dorthin unterwegs, als die Verbindung abbrach. Sie sollten das Gebiet absperren.«

Es ärgerte Gray, dass Heng ihnen diese Information vorenthalten hatte. Er vergegenwärtigte sich die große Jacht und dachte an die Person, die an Bord war.

Monk.

Er richtete den Zeigefinger auf Xue. »Dann probieren wir es beide . Irgendjemand muss für uns tätig werden, egal wer.«

Xue nickte, wirkte aber noch immer besorgt.

»Was noch?«, fragte Gray.

»Mein Vater«, sagte Xue. »Sobald das Gebiet gesichert ist, will er ein weiteres ELF -Signal aussenden. Um zu bestätigen, dass sich damit tatsächlich Erdbeben auslösen lassen. Er wartet lediglich auf die Freigabe durch seinen Vorgesetzten.«

Gray schloss die Augen. »Wenn er das tut, bedeutet dies das Ende der Welt.«

»Das ist inzwischen klar.«

Gray wandte sich an Xue. »Sie müssen Ihren Vater aufhalten und ihm klarmachen, was auf dem Spiel steht. Oder wir müssen darauf hoffen, dass der Funkspruch des Einsatzleiters ausbleibt.«

Xue schluckte. Anscheinend wusste er, wer die Leitung hatte.

Heng fluchte verhalten; offenbar wusste er es auch.