Nachdem Ximdi erkannt hatte, was geschehen war, unternahm sie eine schmerzhafte Anstrengung, sich aus dem Felsspalt zu befreien. Ihr Leib tat ihr schrecklich weh und jede Bewegung ließ sie zusammenzucken. Blieb sie aber an Ort und Stelle, würde sie sterben. Sie stieß das auf ihr lastende Seil fort. Als das gelang, fand sie auch die Kraft, sich aus der Enge heraus zu zwängen. Das Licht des beginnenden Tages zeigte ihr, wo sie sich befand. Sie stand genau in der Mitte des Plateaus, auf dem sie die Nester mit den vielen Eiern gesehen hatte. Zu ihrer Überraschung wurden die Gelege weder bebrütet noch bewacht.
Ximdi nahm ihren Sammelsack, er war glücklicherweise noch an ihrem Gürtel befestigt, und legte alle Eier vorsichtig hinein, über 20 an der Zahl. Anschließend wickelte sie das restliche Seil auf, machte einen Knoten in das ausgefranste Ende und begab sich unter starken Schmerzen auf den Weg zurück.
Direkt nach oben war der Weg durch einen großen Überhang versperrt. Ximdi wich nach rechts aus und kletterte einen langen Sims entlang. Der war im Vergleich zu den anderen Felsen ziemlich glatt und sah aus, als ob man ihn künstlich angelegt hätte. Quadratische Löcher waren in ihn im Abstand von einem Schrittgeschlagen worden. Ximdi folgte dem Sims etwa 300 Schritt; sie hatte völlig vergessen, dass sie ja wieder nach oben wollte. Am Ende öffnete sich eine Höhle, mannshoch und ganz sicher vor langer Zeit ebenfalls künstlich angelegt, denn der Boden war glatt und überzogen mit alten Flechten. Ein Tunnel.
Ohne Zögern ging sie hinein und kam nach wenigen Schritten an eine Treppe. Ximdi konnte sehen, dass entlang der Treppe kleine Scharten in den Fels eingelassen waren, um Licht hereinzulassen. Getrieben von Neugierde stieg sie die Stufen hinab. Zumindest fing sie damit an, denn die Treppe schien kein Ende zu haben und Ximdi folgte ihr geduldig. Nach einigen hundert Stufen wurden die Scharten tiefer und kurz darauf kam Ximdi zu einem kleinen Raum, der sie zwang, eine Kehre zu vollziehen. Sie musste um eine Ecke herum und dann führte die Treppe weiter nach unten, nun allerdings in entgegengesetzter Richtung.
Hier waren die Scharten auch wieder kürzer und es trennte sie nur eine dünne Wand von der Außenwelt. Auf ihrem Weg abwärts kam sie noch etliche Male an solchen Räumen vorbei. Ximdi hatte vor lauter Wissbegier die Zeit völlig vergessen und so war sie recht überrascht, als es immer dunkler im Gang der Treppe wurde, weil die Dämmerung eingesetzt hatte. Sie beschloss, bis zum nächsten Umkehrraum zu gehen und dort zu rasten. Proviant hatte sie keinen, da sie ja beim Sammeln keinen gebraucht hätte. Das einzig Essbare waren die Eier, doch Ximdi wagte es nicht, sie anzurühren, waren sie doch lebensnotwendig für ihr Volk. Die Eier waren ihr heilig.
Sie setzte die kostbare Last vorsichtig ab, nahm das Seil und legte es sich als halbwegs bequeme Unterlage zurecht. Sie musste rasch eingeschlafen sein und lange geruht haben, denn als sie aufwachte, war es schon hell draußen. Sie fühlte sich gut, hatte keine Alpträume gehabt, und der tiefe, feste Schlaf hatte Schmerz und Erschöpfung vertrieben. Jedoch ärgerte sie sich, dass es schon so spät war, da sie sich vorgenommen hatte, an diesem Tag bis ganz nach unten zu kommen. Bei ihrem Abstieg war ihr bewusst geworden, wohin dieser Gang führte.
Sie hatte das Pinke Meer von oben gesehen. Sie hatte die Wellen gesehen. Wasser, das sich wild bewegte und bis zum Horizont ausbreitete. Sie wollte es unbedingt aus nächster Nähe betrachten und so fing sie an zu rennen. Stufe für Stufe ging es bergab und der Wind, der durch die Scharten blies, wurde immer stärker und lauter, bis er auf einmal verstummte und Ximdi das Rauschen des Meeres hörte.
Es war ein neues Geräusch für Ximdi und sie liebte es sofort. Es ließ sie ruhig werden. Ihre Schritte verlangsamten sich. Sie wollte diesem Meer in Würde und Respekt begegnen und nicht aus der Wand stolpernd vor es treten. Kurz bevor Ximdi aus dem Gang nach draußen trat, bemerkte sie auch den Geruch des Meeres. Es roch, wie Tränen schmecken, fein und zart. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Wasser riechen kann. Die klaren Bäche und Seen im Land der Drumkanter hatten keinen Geruch. Endlich trat sie ins Freie, sah die anrollenden Wellen, hörte das Gleichmaß der Brandung, diesen urzeitlichen Rhythmus, spürte die Gischt im Gesicht und ließ die Augen über die riesige Wasserfläche zum Horizont wandern. Diese unmittelbare Begegnung mit der Majestät des Meeres überwältigte sie.
Lange stand sie staunend, bevor sie den Weg nahm, der entlang der Küste ging. Soweit Ximdi sehen konnte, endete der Weg an einem Tor in einer großen Mauer. Die Mauer umschloss große kistenähnliche Gebilde. Das mussten Häuser sein, zumindest hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass die Draufkanter in solchen Kisten lebten und dass sie es Dorf nannten, wenn mehrere zusammenstanden. Ximdi hätte nie gedacht, dass die Welt außerhalb ihrer Höhlen so interessant sein könnte. Langsam ging sie Richtung Dorf, das Tor stand leicht auf und hatte schon bessere Zeiten gesehen.
Ximdi öffnete es und trat hindurch. Die Kisten waren viel größer, als Ximdi von weitem vermutet hatte. Erst jetzt entdeckte sie, dass diese Bauten nicht aus Holz, sondern aus Stein waren. Es waren quasi selbstgemachte Höhlen, dachte sie. Das Dorf war leer. Sie betrat mehrere der Häuser, doch sie traf keinen Draufkanter. Die Einrichtung war anders als die ihrer Wohnhöhlen und doch irgendwie ähnlich. Ximdi identifizierte Trinkgefäße und Essgeschirr, und sie war sich ziemlich sicher, welche Plätze zum Schlafen und welche zum Sitzen dienten. Auch Schneidwerkzeuge meinte sie zu erkennen, obwohl die Klingen und Griffe ganz anders gearbeitet waren als die, die sie von zuhause gewohnt war. Ximdi erreichte das Zentrum des Dorfs. Dort auf einem großen Platz, inmitten einer kleinen runden Mauer, erhob sich eine Säule, ganz ähnlich den Stalagmiten aus ihren Höhlen. Auf der Säule stand eine Figur aus Stein. Welch seltsame Darstellung! Die Figur war den Drumkantern durchaus ähnlich, nur hatte sie statt vier lediglich zwei Arme.
»Das ist unser Held Raldor«, sagte eine Stimme.
Ximdi blieb fast das Herz stehen.
Sie drehte sich um und sah sich einem alten Mann mit nur zwei Armen gegenüber. Er lächelte sie an.
»Ich habe lange auf dich gewartet, sei willkommen.«
Ximdi brachte kein Wort heraus. Wie konnte er auf sie gewartet haben, wo sie selbst gar nicht geplant hatte, hierher zu kommen.
»Du fragst dich sicher, wieso ich von dir wusste.«
Ximdi konnte immer noch nicht antworten und nickte nur.
»Dein Kommen steht seit über 1000 Zyklen in der Prophezeiung. Und seit es prophezeit ist, warte ich hier auf dich. Schön, dass du da bist.«
Nun war Ximdis Verwirrung perfekt, wie konnte jemand über 1000 Zyklen auf sie warten, wo sie doch erst 12 Zyklen alt war.
»Komm mit«, sagte der alte Mann und ging Richtung des großen Hauses am Ende des Platzes. Ximdi folgte ihm nur widerwillig, doch was sollte sie sonst tun.
Der alte Mann öffnete die Tür und sie kamen in einen großen Raum, mit Bildern an den Wänden. Die Bilder waren seltsam, das meiste, was auf ihnen zu sehen war, kannte Ximdi nicht und doch sah es so aus, als gäbe es die dargestellten Dinge wirklich. Am Ende der Halle standen zwei prunkvolle Stühle. Der Mann setzte sich und bot auch Ximdi einen Platz an.
»Du musst ziemlich verwirrt sein, bei alldem, was du heute erlebt hast. Doch ich werde dir alles erklären und dich erst dann auf deinen Weg schicken.«
»Auf meinen Weg?«, fragte Ximdi.
»Ja, auf deinen Weg, aber fangen wir von vorne an. Du weißtvon dem Fluch, der seit über 1000 Zyklen auf dem Land Kant liegt, da die Bewohner ständig Krieg miteinander führten. Und du hast wahrscheinlich auch schon von den Weissagungen aus jener Zeit gehört, die verschollen sind und darum vergessen wurden bis auf eine, welche den Auserwählten ankündigt. Vergessen aber waren die übrigen nur im Volk. Sieben Männer hatte man ausgewählt, um über die Prophezeiungen durch alle Wirren hindurch zu wachen.
Einer davon bin ich. Mein Name ist Volkor, was bedeutet: Hüter an der Küste. Ich wache über die Prophezeiung, welche für die Begleiterin des Auserwählten bestimmt ist. Wenn du die Prophezeiung hörst, wirst du erkennen, dass es sich dabei um dich handelt. Präge sie dir gut ein, denn sie wird dir den Weg weisen. Geh nicht zurück, sondern mache dich auf, deiner Bestimmung zu folgen. Das wird nicht leicht, es lauern viele Gefahren. Solltest du scheitern, ist es das Ende dieser Welt, doch solltest du den Auserwählten finden, dann werdet ihr diese Welt befreien. So sagen es die Prophezeiungen. Es ist ein langer, ein sehr langer Weg. Bist du bereit, ihn auf dich zu nehmen?«
Ximdi überkam eine seltsame Ruhe, sie wusste schon die Antwort. Ihr ganzes Leben hatte sie gespürt, dass etwas Besonderes auf sie wartete. Ihre Mutter und ihr Vater hatten sie immer ausgelacht, wenn sie davon sprach. Doch nun war es soweit, ihre Ahnung wurde zur Wirklichkeit und sie antwortete dem alten Mann mit strahlenden Augen und fester Stimme:
»Ja, ich bin bereit, den Weg zu gehen.«
»Dann höre die Worte der Prophetie. Präg sie dir ein, mach sie weder groß noch klein! Grabe sie tief in dein Herz, wo verborgensind Liebe und Schmerz. Die Worte werden nur einmal gegeben, lass sie in deinen Gedanken leben!
Zarte Gestalt
Jung und nicht alt
Andere Gestalt
Vier Arme statt zwei
Einen Sack voller Ei
Hat sie dabei
Kommt von den Stufen
Staunt über des MeeresRufen
Sie folgt ihm auf ihre Art
Am Wasser entlang
Durch es hindurch
Salzig und süß
Das grün sie begrüßt
Kommt sie dort an
Bei dem alten Mann.«