kapitel12

Das Heer hatte die große Kammer erreicht. Krassnack machte sich sofort auf den Weg zu der Nische, in der er sein Lager aufschlagen wollte. Dank seines inneren Auges fand er den Eingang schnell, doch als er sich näherte, verdüsterte sich sein Gemüt. Russnacks Leute bewachten den Eingang. Der Anführer hatte die Nische als Hauptquartier bezogen.

In seiner Wut rannte Krassnack durch das Lager, zurück zu seinen Leuten. Die hatten einen eigenen Lagerplatz ausgesucht und fingen bereits an, es sich gemütlich zu machen. Das machte ihn umso zorniger. Seine Leute schüttelten nur die Köpfe, als Krassnack seine Sachen in eine Ecke pfefferte und davonrannte. Sie schauten sich gegenseitig fragend an, doch keiner ging ihm nach. Sie kannten Krassnacks Temperament und wollten nicht die Leidtragenden einer seiner Wutausbrüche werden.

Krassnacks Gefühle trieben ihn um. Ziellos irrte er durch das Lager, bis er an dessen Rand kam, wo etliche Gänge in das Reich der Drumkanter führten. Er folgte dem Erstbesten und schon bald hörte er nichts mehr von dem Lärm des Heeres. Er war allein. Immer, wenn sein Zorn so gewaltig war, suchte er die Ruhe. Als junger Mann hatte er im Zorn einen Freund erschlagen. Nicht, dassihm das Gewissensbisse machte. Doch damals hätte man beinahe herausgefunden, dass er der Totschläger gewesen war, und darauf stand die Todesstrafe. Aus zwei Gründen war er in das Heer der Höhlenwockler eingetreten. Erstens wegen der Möglichkeit, ein Held zu werden. Zweitens, um ohne Folgen töten zu können. Er hatte Freude daran, wenn das Leben aus einem Geschöpf wich. Ganz gleich, um welche Art Lebewesen es sich handelte.

Alle wussten mittlerweile um seine Vorliebe, denn sie hatten ihn oft kämpfen sehen. Und alle fürchteten ihn, alle außer Russnack. Doch das würde sich ändern.

Er würde es diesem arroganten Helden noch zeigen. Er würde seinen Platz einnehmen. Und dann, wenn er erst einmal ein Held war, dann hätten alle wirklich einen Grund, sich vor ihm zu fürchten. Helden war es erlaubt, über Leben zu entscheiden. Sie mussten keine Strafe befürchten, denn sie standen über allen Geschöpfen im Reich der Höhlenwockler. Keiner war ihnen gleich, sie hatten nur den Herrscher über sich.

Krassnack beruhigte sich. Von neuer Zuversicht erfüllt, machte er sich auf den Weg zurück ins Lager. Er würde den zweiten Zugang zu Russnacks Rastplatz schon finden und sich zunutze machen. Vielleicht könnte er sich ja sogar über diesen zweiten Weg in die Nische an Russnack heranschleichen und ihn beseitigen, ohne entdeckt zu werden. Neben seinem Bildgedächtnis hatte Krassnack auch einen sehr guten Orientierungssinn. Auf seinem Rückweg zum Lager suchte er nach Gängen, welche in die Nähe von Russnacks Lager führten. Er musste aufpassen, dass er nicht in die Hände von Spähern der Drumkanter fiel, doch das Risiko war es wert.

Krassnack ging gerade durch einen langen Gang, als er einen feinen Lufthauch spürte. Es fühlte sich genauso an wie in der Nische, wo der Rauch seiner Fackel fortgetragen worden war. Doch der Gang war unauffällig, er war lediglich sehr hoch. Vielleicht musste er klettern. Krassnack ging immer wieder auf und ab und achtete dabei auf die kleinste Luftbewegung. Endlich hatte er die Stelle lokalisiert, an der sich der Luftstrom von beiden Seiten nach oben bewegte. Hier musste irgendwo ein Eingang sein. Er war kein guter Kletterer. Um dort hoch zu kommen, brauchte er ein Seil. Deshalb markierte er die Stelle mit einem Feuerzeichen in Bodennähe an der Wand. So tief unten würde niemand sein Zeichen bemerken und Verdacht schöpfen.


Als Krassnack ins Lager zurückkehrte, hatten seine Mitstreiter schon ihren Lagerplatz hergerichtet. Sie bemerkten nicht, wie aufgeregt er war, denn der lange Marsch hatte sie ermüdet. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, legte sich Krassnack auf sein Lager und tat, als schliefe er. Bald verrieten ihm tiefe Atemzüge ringsum den Schlaf der Gefährten. Krassnack machte sich mit einem leichten Seil und ein paar Felshaken auf den Weg.

Dank seiner guten Orientierung fand er den Gang schnell wieder. Oberhalb des Zeichens im Fels fing er an zu klettern und hatte nach kurzer Zeit einen kleinen Absatz in 7 Schritt Höhe erreicht. So wie es aussah, würde er das Seil lediglich für den Abstieg brauchen. Höhlenwockler konnten sehr gut in der Dunkelheit sehen, daher war es für Krassnack kein Problem, die Umgebung zu erkunden. Er spürte noch immer den Luftstrom. Doch hatte er seine Richtung geändert, ging nun waagrecht in die Felsspalte hinein,die hinter dem Absatz im Fels zu sehen war. Krassnack zwängte sich hindurch und blieb fast stecken. Höhlenwockler waren nicht so schlank gebaut wie die Drumkanter. Am Ende der Spalte vernahm er Stimmen. Er befand sich in einem engen, aber sehr hohen Raum. Das Gestein war porös, die Wand an einer Seite löchrig. Durch diese Löcher hörte Krassnack die Stimme von Russnack.

Sehen konnte er ihn nicht, denn Russnack bevorzugte es, in einer Kuppel aus Stoffbahnen zu kampieren. Der Anführer hatte Besuch und Krassnack konnte einige Wortfetzen des Gesprächs aufschnappen. Um alles zu verstehen, hätte er noch etwas weiterkriechen müssen, und das schien ihm vorerst nicht nötig. Zum Spionieren war der Ort perfekt.

Krassnacks Gedanken kreisten. Von hier konnte er seinen alten Feind Russnack beseitigen, ohne dass der Verdacht auf ihn fiel. Die letzten Worte, die er aufschnappte, waren: »… seine Wut ausnutzen und …«

Er seilte sich ab und nahm zielstrebig den Weg ins Lager zurück. Zufrieden legte er sich nieder und schlief über seinen Plänen ein.


Am nächsten Morgen wunderten sich Krassnacks Leute über seine gute Laune, doch sie hatten nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Sie waren von den Signalen der Herolde geweckt worden und nun packten sie in Windeseile ihre Sachen zusammen. Es war das Signal, auf das alle gewartet hatten. Endlich war es soweit: Es ging in die Schlacht.Krassnacks Männer wurden von einer Wildheit erfasst, dass ihnen alle anderen Höhlenwockler aus dem Weg gingen, so furchterregend wirkten sie in ihrem Todesrausch. Sie wollten endlich Blut vergießen. Allen voran stürmte Krassnack an die Spitze der Armee, um sich in die Schlacht zu werfen. Späher hatten am Vorabend eine große Höhle entdeckt, wo die Drumkanter eines ihrer Wachbataillone stationiert hatten. Von dort aus patrouillierten Gruppen von jeweils sieben Soldatinnen die in Richtung Grenze führenden Gänge. Die Höhle lag strategisch gut, denn nahezu alle Grenzgänge mündeten in sie. Es waren fast hundert, so dass über 2000 Soldatinnen hier versammelt waren. Etwa 700 waren auf Patrouille, 700 weitere schliefen und ruhten sich aus und die übrigen pflegten ihre Waffen, aßen und sorgten für Ordnung im Lager. Die Drumkanter waren sehr organisiert. Jede Soldatin setzte sich bedingungslos für ihr Volk ein, ohne auf sich selbst zu achten.

Krassnack wählte den größten Gang zur großen Höhle, da dieser von vier Patrouillen gleichzeitig bewacht wurde. Die Chance, Blut zu vergießen, war hier einfach größer. Nur das zählte für ihn. Als er die Soldatinnen erreichte, waren den Wachpatrouillen schon weitere Soldatinnen gefolgt, was Krassnack lächeln ließ. Jetzt konnte er endlich kämpfen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie in den Gängen die ersten Soldatinnen zurückwichen, als er längst mitten in der großen Höhle am Rande des Lagers der Drumkanter stand. Er und seine Leute waren durch die anstürmenden Soldatinnen einfach hindurchgefegt, hatten eine Schneise der Verwüstung geschlagen und ein Echo aus Schmerz zurückgelassen. Nun befand er sich mitten unter ihnen, umringt von mindestens 40 kampfbereitenDrumkanter Soldatinnen. Es wunderte ihn, dass er alleine war. Eben noch waren seine Leute um ihn herum gewesen. Wieso stand er nun ganz allein mitten in der Armee der Feinde? Er war ein furchtloser Kämpfer, doch irgendetwas stimmte nicht an dieser Situation. Das ließ ihn zögern und nicht angreifen.

In seinem Blutrausch hatte er nicht bemerkt, dass sich seine Leute zurückgezogen hatten. Ja, nicht nur seine Leute, das ganze Heer der Höhlenwockler schien sich zurückzuziehen. Er sah, wie die Soldatinnen der Drumkanter wieder in die Gänge vorrückten. Das konnte einfach nicht sein. Wie war das möglich? Sie hatten doch ganz andere Befehle bekommen. Eine verrückte Möglichkeit kam ihm im den Sinn und wurde immer wahrscheinlicher, je mehr er sie bedachte: Klar, er hatte einen Befehl bekommen. Doch er wusste nicht, ob es derselbe war, den alle anderen auch bekommen hatten. Sie waren so hektisch aufgebrochen und er hatte sich beeilen müssen, um an die Spitze des Heeres zu kommen. Jemand hatte ihn verraten. Das war es: Russnack hatte seine Gier nach dem Töten ausgenutzt und ihn in eine Falle gelockt.

Krassnack legte seine Waffen nieder und streckte seine Arme zur Seite als Zeichen, dass er sich ergab. Er würde nicht sterben, nicht hier, ohne Hoffnung, siegen zu können. Er würde die Schande der Gefangenschaft in Kauf nehmen und eines Tages zurückkehren, um die zu töten, die ihn verraten hatten.