Irgendwie hatte sich Joldur seine Ankunft in der Welt der Drumkanter anders vorgestellt. Kaum dass er vom Sumpf in die dunkle Höhle hineingeraten war, hatte man ihn gefesselt, geknebelt und seine Augen verbunden. Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, war ihm nicht geblieben, und so hatte er keinen der Leute, die ihn fesselten, erkennen können. Sie hatten ihn einfach auf dem Boden liegen lassen und waren verschwunden. Der Knebel schmerzte und der Boden war gespickt mit kleinen spitzen Steinen, die in seine Haut stachen. Er wusste nicht, wie lange er hier schon im Dreck gelegen hatte, als sich Schritte näherten.
»Das ist er, Kommandantin«, hörte er jemanden sagen.
»Schafft ihn in die Zelle und holt das Protokoll«, antwortete eine dominante tiefe Frauenstimme.
Joldur spürte, wie er hingestellt wurde. Sie zogen ihn an einem Seil durch viele Gänge und er hatte Mühe, nicht hinzufallen. Dann ein kurzes Stehenbleiben. Er wurde in einen Raum gebracht. Man nahm ihm die Fesseln ab, entfernte den Knebel und seine Augenbinde. Noch bevor er sich umdrehen konnte, waren seine Bewacherinnen verschwunden und die Tür verschlossen. Es war sehr hell in diesem Raum. Die Decke war mit leuchtenden Steinenbedeckt. Joldur fragte sich, was es mit dem Protokoll auf sich hatte. In der hinteren Ecke der Zelle war ein Loch im Boden, aus dem es erbärmlich stank, und gegenüber war eine Liegefläche in den Stein gehauen, auf der ein Kissen und eine Decke lagen.
Anscheinend musste er sich auf einen längeren Aufenthalt einstellen. Er setzte sich auf die Liege und lauschte, doch es war absolut still in dieser Zelle. Wahrscheinlich hatten die Drumkanter sie mit sehr dicken Wänden versehen, damit man die Schreie der Gefangenen nicht hörte. Er fühlte sich wieder so allein. Das Licht von den Steinen an der Decke kam ihm unwirklich vor. Es war kühl, es hatte keinerlei wärmende Wirkung, wie er sie vom doppelten Leuchten gewohnt war.
Joldur legte sich hin, starrte die helle Decke an und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Darüber schlief er ein. In seinen Träumen stolperte er hinter einer Eskorte durch lange Gänge. Allesamt waren sie mit diesen sonderbar leuchtenden Steinen besetzt. Die Eskorte bestand aus bizarren Wesen: schlank, mit vier Armen und langen dünnen Beinen. Als sie einen imposanten Raum erreichten und Joldur vor einer riesigen Menge dieser Wesen stand, wachte er vor Schreck auf. Es war immer noch taghell in seiner Zelle. Schlüssel drehten sich im Schloss. Die schwere Tür schwang auf und eine Person trat herein. Es war eine große Frau, schlank und stark. Ungläubig registrierte Joldur, dass sie vier Arme hatte, genauso wie die Wesen in seinem Traum.
»Komm mit.«
Das war ein Befehl. Sie ließ Joldur den Vortritt. Vor der Tür standen sechs weitere Frauen. Alle in einer leichten Rüstung aus einem Material, das Joldur nicht kannte. Sie nahmen ihn zwischensich und setzten sich in Bewegung. Sie waren nicht lange gegangen, als sie vor einer großen verzierten Tür stehen blieben. Die Frau, die ihn aufgefordert hatte mitzukommen, trat vor, klopfte an die Tür und lauschte.
Die tiefe Stimme hatte Joldur schon bei seiner Gefangennahme gehört. Ihm war klar, dass er nun der Kommandantin vorgestellt wurde. Die Tür, die sich öffnete, führte in einen prächtigen Raum. Fein gewebte Teppiche, die detailreiche Bilder zeigten, bedeckten die Wände. Der Boden bestand aus geschliffenen schwarzen Steinen, welche zu einem kunstvollen Muster verlegt waren. Bruchstücke der hellen Steine gleich denen, die die Decke seiner Zelle bildeten, waren eingebettet in ein leuchtend rot schimmerndes Fugenmaterial. Dessen Licht war wesentlich wärmer und tauchte den Raum in einen rötlichen Schimmer.
Die Kommandantin war eine große Frau mit einer strengen Miene und harten Gesichtszügen. Ihre Stimme war dunkel, fast wie die eines Mannes, und zeugte von Autorität. Sie stand vor einem steinernen Tisch, auf dem ein Dokument lag. Joldur meinte, es sei aus demselben Material wie das der Rüstungen der Soldatinnen. Es war mit einer sehr kleinen Schrift beschrieben und man konnte erkennen, dass es sich um eine Aufzählung handelte. Nachdem sie Joldur eingehend betrachtet hatte, ging die Kommandantin um den Tisch herum, setzte sich auf einen durch Verzierungen hervorgehobenen Stuhl und wies Joldur mit schroffer Geste einen Hocker zu. Sie nahm das Dokument in ihr unteres Paar Hände und fixierte ihn.
Es begann mit ganz normal erscheinenden Fragen, solche nach seinem Namen und Alter. Doch mit der Zeit wurden die Fragen immer seltsamer. Es kam ihm so vor, als wüsste die Kommandantin selbst nichts anzufangen mit dem, was sie wissen wollte. Für ihn waren die Antworten kein Problem, doch sah er immer mehr die Irritation im Blick der Kommandantin. Besonders fragend schaute sie, wenn es um Pflanzen oder Tiere ging, die Joldur beschreiben sollte. Auch Landschaften, die er mit allen Facetten ausmalte, warfen Grübelfalten in ihr Gesicht. Sie schien die Welt, aus der er kam, nicht zu kennen. Doch woher hatte sie all die Fragen? Wer hatte sie aufgeschrieben? Und warum wollte sie Auskünfte nicht nur über die Landschaft, die Tiere und die Pflanzen, sondern hakte auch nach bei Themen, die sich um seine Vorlieben und Gewohnheiten drehten?
Joldur war schon ganz konfus, als die Kommandantin das Dokument wieder auf den Tisch legte und den Befehl gab, ihn in seine Zelle zu bringen. Er war erschöpft und stolperte mehrfach auf dem Weg zurück. In seiner Zelle schlief er sofort ein, trotz des Lichtes von der Decke. Wieder träumte er denselben Traum wie zuvor und wachte an derselben Stelle schweißgebadet auf.
Dies geschah so oft, dass Joldur später nicht sagen konnte, wie lange er geschlafen hatte und wie oft er erwacht war. Zu seiner Überraschung wurde er erneut zur Kommandantin geführt und es wiederholte sich das ganze Prozedere. Sie stellte all die Fragen, welche sie ihm schon einmal gestellt hatte. Joldur konnte es sich nur so erklären, dass sie sichergehen wollte, dass er beim zweiten Mal dieselben Antworten gab. Wieder stolperte er danach zurück in seine Zelle und wieder versank er unmittelbar in einen unruhigen Schlaf mit dem beständig zurückkehrenden Traum.
Die Ratlosigkeit – oder war es Misstrauen? – der Kommandantin schien kein Ende zu nehmen. Nochmal und nochmal wurde Joldur ihr vorgeführt, und immer ging es um dasselbe. Langsam konnte die Kommandantin die ihr fremden Wörter zwar richtig aussprechen, doch mittlerweile gerieten Joldur die Antworten durcheinander. Hörte das jemals auf? Ein weiteres Mal brachten sie ihn zur Kommandantin. Doch etwas war anders. Er fühlte sich nicht bewacht, sondern eskortiert. Die Wachen hielten mehr Abstand und ihm war, als nähmen sie auch Rücksicht auf sein Tempo. Joldur ging bewusst etwas langsamer. Tatsächlich, sie passten ihre Schritte den seinen an. Als sie den Raum der Kommandantin erreichten, stand die Tür bereits offen und Joldur wurde mit den Worten empfangen:
»Ich grüße dich, Joldur aus dem Land der Draufkanter. Tritt ein.«
Mit einem Lächeln und einer freundlichen Geste bat sie ihn herein. Joldurs Verwirrung war perfekt. Warum wurde er auf einmal wie ein Gast behandelt?
Diesmal nötigte ihn die Kommandantin nicht auf den Hocker, der jetzt in einer Ecke des Raums stand, sondern bot ihm einen Stuhl an, der genauso reich verziert war wie der ihre. Man reichte ihm etwas zu trinken und zu essen und während Joldur gierig zugriff, fing die Kommandantin an zu erzählen.
»Joldur, du bist sicher irritiert über unser aller Verhalten. Ich möchte mich als Erstes bei dir für unsere Schroffheit entschuldigen. Wir haben uns alle verpflichtet, nach einem bestimmten Protokoll vorzugehen, wenn ein Außenweltler durch die Pforte kommt. Dies dient der Sicherheit unseres Volkes. Dir ist bestimmt aufgefallen, dass wir selbst mit vielen der Fragen nichts anfangenkönnen, die das Protokoll verlangt. Nach jeder Befragung müssen wir die Antworten mit einem weiteren Schriftstück abgleichen.
So steht es in unseren Gesetzen, die vor über 1000 Zyklen durch die Prophezeiungen festgelegt wurden. Dies wird so lange wiederholt, bis sich herausstellt, ob die Übereinstimmung der Angaben, die der Befragte macht, mit den Vorgaben des zweiten Dokuments groß genug ist. Scheitert der Kandidat, dann wird er in das Reich der Höhlenwockler verbannt, was seinen sicheren Tod bedeutet. Seit Bestehen des Gesetzes gab es bei keinem Eindringling eine hinreichende Übereinstimmung.«
»Und wie ist es bei mir?«, fragte Joldur.
»Du bist der Erste, bei dem alles zusammenpasst. Und zwar von Anfang bis Ende. Die Vorschrift besagt, dass bei einer Übereinstimmung mit dem Vergleichsdokument erneut geprüft wird. Drei mal sieben Wiederholungen müssen dem ersten Durchgang folgen. Nur wenn die Übereinstimmungen sich nicht verändern, darf dem Eindringling der Zugang zur Welt der Drumkanter gewährt werden.«
Sie blickte ihn freundlich an.
»Wir werden dir jetzt ein Bad einlassen, damit du dich reinigen kannst, und du bekommst auch neue Kleider von uns.«
»Ich möchte gern meine Kleider behalten, könnt ihr sie nicht für mich waschen, damit ich sie anschließend wieder tragen kann?«
»Das können wir veranlassen, doch für deinen Besuch im Drumgewölbe wirst du die von uns vorgesehene Kleidung tragen müssen.«
Joldur genoss das heiße Bad. Es war gut, sich den Schmutz der langen Reise vom Leib zu waschen. Nach seinem Besuch bei der Kommandantin hatte man ihm ein zweites Essen serviert. Es bestand aus Stalagmiten, so wie Großvater es ihm bestätigt hatte – und was auch immer das Wunder ihrer Zubereitung ausmachte, sie schmeckten fantastisch. Auch das Wasser der Stalaktiten war besonders, leicht süßlich, mit dem Geschmack einer duftenden Blumenwiese. Die Mahlzeit hatte wieder Leben in Joldurs Körper gebracht und das Bad tat sein Übriges. Die Kleidung, die sie ihm hingelegt hatten, bestand aus demselben fremdartigen Material wie das der Rüstungen. Als er nach der Machart gefragt hatte, hatte man ihm Pilze mit sehr langen Stielen gezeigt. Sie hatten ihm erklärt, dass man die Hüte essen konnte und aus den Stielen sehr dünne lange Fasern gewann. Aus denen stellte dann der Stamm der Weber den weichen und sehr widerstandsfähigen Stoff her.
Nach seinem Bad zog er sich an und wurde anschließend zurück zur Kommandantin gebracht. Gemeinsam gingen sie durch viele lange Tunnel. Insgesamt übernachteten sie siebenmal, bis sie ihr Ziel erreichten.