Hatte er einen Fehler bei der Anrufung des Armbands begangen? Nichts geschah und Joldur dachte schon, er habe die falsche Schlange ausgewählt. Ihm war spontan der Gedanke gekommen, dass die Drumkanter kein Feuer mochten. Eben deshalb konnte ihm die Schlange mit dem Namen Feuer vielleicht helfen. Er schaute nochmals auf das Band. Es hatte sich doch etwas getan: Die Schrift war verschwunden. Auf einmal wurde das Band heiß und verwandelte sich wieder in eine Schlange. Unbemerkt von seinen Wachen, wand sie sich an Joldurs Bein hinab auf den Boden.
Joldur dachte schon, sie habe ihn verlassen, als sich wenige Schritte vor ihm ein furchterregendes Schauspiel vollzog. Wie aus dem Nichts baute sich vor der Gefangenen-Eskorte eine riesige, von roten Flammen umspielte Schlange auf. Ihre Augen glühten, der kraftvolle Leib spannte sich, und sie züngelte, als wolle sie das Aroma ihrer Gegner kosten. Drohend ließ sie zwei spitze Fangzähne sehen. Ihr Zischen war schon kein Zischen mehr, es war ein Fauchen, zornig und wild, was sie Joldurs Bewacherinnen entgegen blies. Sie schnellte mehrere Male nach vorn und täuschte einen Biss an. Das war zu viel für die Soldatinnen, sie ergriffen schreiend die Flucht.
Joldur stand allein mit der Schlange im Gang, stumm und andächtig, überwältigt von der Macht, die sich auf seine Seite geschlagen hatte. Als von seinen Bewacherinnen nichts mehr zu hören war, schrumpfte die Schlange wieder und legte sich um seinen Hals, damit sie ihm ins Ohr flüstern konnte. Ihre Stimme klang wie zischende Glut eines heißen Feuers.
»Geh zurück zur Bibliothek, ich werde dich führen.«
Joldur eilte durch die Gänge und Feuer leitete ihn. Als er den Eingang durchschritt, war niemand dort. Die Schlange führte ihn in die bunte Abteilung.
»Halte bei Rot.«
Das war die Farbe der Kinderbücher. Feuer glitt von seiner Schulter auf das Regal und schlängelte sich um die Tongefäße. In den hinteren Reihen der roten Regale stoppte die Schlange bei einem sehr kleinen Gefäß und sprach:
»Öffne diesen Krug, die Schriftrolle wird dir den weiteren Weg weisen.«
Joldur nahm das Gefäß, setzte es auf einem der Tische ab, öffnete es, holte die Schriftrolle heraus und las.
Es war kein Gedicht, sondern eine Geschichte. Sie handelte von einem Jungen in einem fremden Land unter der Erde. Der Junge wurde von einem Feuerwurm und sechs weiteren magischen Geschöpfen begleitet. Joldur musste gar nicht die ganze Geschichte lesen, um zu erkennen, dass sie von ihm handelte. Normalerweise hätte er die Rolle kopiert und das Original in der Bibliothek gelassen, doch dafür war jetzt keine Zeit. Er verstaute die Schriftrolle in seinem Rucksack, der nach seiner Gefangennahme neben den Tischen liegengeblieben war, nahm Feuer aufdie Schulter und machte sich auf den Weg zu den Quartieren seiner Gefährten. Die Wiedersehensfreude währte nur kurz, denn sie mussten sich beeilen. Zwar erwies sich die Befreiung von Lexidus, Xolomandi und Jaxala als Kinderspiel – die Wachen waren beim Anblick von Feuer einfach bewusstlos zusammengesackt. Doch sie wollten vermeiden, den Gelehrten zu begegnen.
Was würde die Königin zu der Schriftrolle sagen? Vom Hinweg wusste Joldur, dass die Rückkehr zum Palast eine Weile dauern würde, doch er war sich sicher, mit Feuer an seiner Seite würden sie auch das schaffen. Sie begegneten nicht vielen Drumkantern, und nachdem sie sich weit genug von der Bibliothek entfernt hatten,schwand auch die Gefahr, als flüchtige Gefangene erkannt zu werden.
Xolomandi führte ihre Gemeinschaft an. Da sie immer noch ihre Uniform trug, ließ man sie an den wenigen Kontrollstellen ohne nachzufragen durch. Unter den Soldatinnen war sie bekannt. Jede wusste, dass sie die Kommandantin vom Südeingang war. Daher wunderte es niemanden, dass sie einen Fremden bei sich hatte. Sie brauchten für den Rückweg nur knapp 3 Tage und Joldur war froh, als sie eine der Treppen erreichten, welche auf den Platz vor dem Palast führte.
Obgleich sie unbehelligt geblieben waren, hatte sich ihre Rückkehr offenbar schon herumgesprochen, denn als sie durch das Wasserportal den Palast betraten, erwartete die Königin sie schon. Joldur verneigte sich und gab ihr die Schriftrolle. Doch bevor sie zu lesen anfing, bat er, ihr Feuer vorstellen zu dürfen. Die Schlange bäumte sich zur vollen Größe auf, Flammen zuckten über ihren ganzen Körper. Sie neigte ihr Haupt und säuselte:
»Ich grüße dich, Königin der Drumkanter.«
Dann wurde sie wieder klein und schlang sich abermals um Joldurs Schultern. Die Königin schaute Joldur lange an. Prüfend? Nachdenklich? Befriedigt? Endlich begann sie zu lesen, kam an das Ende der Schriftrolle, schaute auf und sagte:
»Lasst euch eure Quartiere zeigen, nehmt ein Bad, esst und trinkt. Ich werde den Rat einbestellen. Wenn es soweit ist, werde ich euch rufen.«
Sie schwebte davon. Die Gefährten wurden in ihre Unterkunft gebracht. Joldur war nervös. Das Bad entspannte ihn kaum, und das üppige Mahl, das man ihm auftischte, rührte er kaum an. Lexidus, Xolomandi und Jaxala schienen ebenfalls von Unruhe getrieben, als sie in sein Quartier kamen, um gemeinsam zu warten, bis die Königin sie rufen würde. Durch die Außenwand konnte Joldur hören, dass sich immer mehr Drumkanter auf dem Platz vor dem Palast versammelten. Als es plötzlich ganz still wurde, musste die Königin vor ihr Volk getreten sein. Er versuchte zu hören, was sie zu sagen hatte, doch das ehrfürchtige Schweigen, das sich über die Wartenden herabgesenkt hatte, dauerte an. Erst als die Stille kaum noch auszuhalten war, begann die Königin zu lesen. Joldur und seine Freunde lauschten, denn keiner von ihnen hatte die Geschichte bisher ganz gehört und sie waren gespannt, wie sie endete.
»… der Junge und der Feuerwurm scharten die 60 besten Krieger aus allen 6 Landen um sich und machten sich auf den Weg. Auf den Weg ans Licht, nicht wissend, was sie dort erwartete.«
So endete die Geschichte und das Volk verharrte andächtig. Eine Wache trat herein und führte Joldur und seine Freunde vor den Rat. Feuer glitt von Joldurs Schulter und baute sich in vollerGröße neben ihm auf. Es herrschte absolute Stille, bis auf ein paar Kinder, die weinten und sich an ihre Eltern klammerten.
»Geht in eure Gebiete«, sprach die Königin, »und sendet die 60 besten Krieger eures Stammes hierher. Der Junge und der Feuerwurm werden morgen aufbrechen. Sie gehen ans Licht.«
Schweigend löste der Rat sich auf. Joldur folgte der Königin in den Palast. In ihren Gemächern angekommen, schaute die Königin ernst und doch froh.
»Ich wusste, dass du zurückkommen würdest, und es ist höchste Zeit. Bisher habe ich dem Rat verschweigen können, was in Millimant gerade passiert. Doch das wird sich nicht mehr lange verheimlichen lassen. Die Höhlenwockler haben die Grenzen überwunden und sind dabei, den Norden von Millimant einzunehmen. Sollte der Rat davon erfahren, bevor du losziehst, wird er nicht erlauben, dass du unsere besten Krieger mitnimmst, weil die Räte fürchten werden, dass uns das schwächt. Ich glaube an die Prophezeiung und vertraue darauf, auch wenn ich den Sinn nicht erkennen kann. Nutzt die restliche Zeit, um euch auszuruhen und Kräfte zu tanken. Xolomandi, bitte veranlasse, dass deine Truppe den Zugang zum Land der Draufkanter öffnet, damit er von beiden Seiten genutzt werden kann, denn das steht in unseren Gesetzen. Sobald der Auserwählte in Erscheinung tritt, ist es unsere Aufgabe, den Zugang zur Oberfläche frei zu machen und zu beschützen. Du selbst kannst frei entscheiden, ob du Joldur und die Krieger begleiten willst.«
Am nächsten Tag hatten sich aus allen Gebieten Kriegerinnen auf dem Drumplatz versammelt. Es waren genau 360, aus jedemGebiet das volle Kontingent. Sie folgten Joldur und seinen Leuten und traten den Weg zum Ausgang an. Dort gab Xolomandi Anweisungen, den Grenzübertritt zu befestigen und von drinnen und draußen begehbar zu machen. Ihre Truppe war durch Boten schon vorab informiert, so dass alles bereitstand. Kurze Zeit später passierten Joldur und die Kriegerinnen den Durchgang und traten ans Tageslicht.
Joldur war froh, wieder auf der Oberfläche von Kant zu sein, doch die Drumkanter mussten sich erst mühsam an das helle Licht gewöhnen. In der Geschichte des Jungen und des Feuerwurms hatte es geheißen, dass der Wurm dem Jungen den Weg weisen würde. Also fragte Joldur Feuer, die noch immer auf seinen Schultern lag, wie es nun weiterginge.
»Folgt dem alten Pfad nach Süden zur Ignis Dulpur, der Brücke der Flammen. Dort setzt über in die Steppe.«
Der alte Pfad war nicht schwer zu finden, denn eine Allee alter Tachen Bäume säumte ihn. Sie verloren keine Zeit und machten sich auf den Weg. Am Himmel stand immer noch das einzelne Leuchten, eine Bestätigung seines Auserwähltseins, die Joldur gut gebrauchen konnte. So viel Wundersames war passiert, seit er den Wald betreten hatte. Jetzt folgte ihm gar eine Armee Kriegerinnen der Drumkanter aus der Unterwelt in eine ungewisse Zukunft.
Gegen Ende des Tages erreichten sie Ignis Dulpur, ein imposantes Bauwerk, welches eine Schlucht von über 200 Schritt Breite und 500 Schritt Tiefe überspannte. Zur Mitte hin wurde es immer schmaler, so dass dort gerade mal zwei Personen aneinander vorbeigehen konnten. Früher musste hier einiges an Leben geherrscht haben, denn es gab auf beiden Seiten der Brücke einigeGebäude und für Fuhrwerke einen Weg, der in Serpentinen in die Tiefe führte, dort über eine bequeme breite Brücke ging und sich anschließend den steilen Hang gegenüber hinaufwand.
Einige der Truppe hatten Bedenken, Ignis Dulpur zu überqueren und wollten den Pfad ins Tal benutzen, doch Joldur spürte, dass ihnen die Zeit davonlief. Er konnte das nicht erklären, er wusste es einfach tief in seinem Innern.
Während die Kriegerinnen noch diskutierten, sprach Feuer ihm leise ins Ohr:
»Folge mir. Allein. Ich werde dir den Weg weisen und sie werden nachkommen.«
Kaum dass Feuer ausgesprochen hatte, war sie verschwunden. Joldur blickte zur Brücke. Dort wand sich Feuer, immer größer werdend, in Richtung Mitte des Bauwerks. Joldur stand auf und folgte ihr. Alles wurde still, der leichte Wind legte sich, die Vögel hörten auf zu zwitschern und auch die Kriegerinnen schauten stumm und gespannt. Feuer verwandelte sich zu einer riesigen Flamme, als sie die Brückenmitte erreicht hatte. Die Flamme züngelte wild hin und her, und als Joldur bei ihr ankam, sprach aus ihr eine tiefe Stimme:
»Mein Name ist Pyrosgudus, ich bin der Hüter der Brücke. Hör meine Worte der Prophetie und folge deiner Bestimmung.
Weit bist du gekommen
Schlangenträger
Zweiarmer
Kind und doch Mann
Kriegerinnen in deinem Bann
Wirst sie vereinen
Mit den Deinen
Und dich auf den Weg machen
Um zu beenden das Weinen
Dein Weg ist lang
Und Gefahr überall
Tu es nicht aus Zwang
Doch tu es schnell
Denn der Feind ist nahe
Er ist unten
Hat einen neuen Weg gefunden
Wird kommen ans Licht
Und du musst verhindern
Dass der Bund zerbricht
Sei weise und klug
Denn überall lauert Betrug.«