kapitel29

Ximdi wurde von einem leisen Fiepen geweckt. Hastig rollte sie zur Seite, um den jungen Vogel in den Tüchern nicht zu zerdrücken. Sie wickelte ihn so weit aus, bis der kleine Kopf zu sehen war. Nun war das Fiepen über die ganze Lichtung zu hören und es dauerte nur einen Moment, bis der erste der kleinen Vögel mit einem Schnabel voller Insekten angeflogen kam. Ximdi fragte sich, ob das Schlüpfen der Trummel der Grund dafür gewesen war, warum sie sich beeilen sollte, hier an die Lichtung zu kommen. Ohne die Hilfe der kleinen Vögel wäre sie wohl kaum in der Lage gewesen, den Jungvogel am Leben zu halten. Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, sagte eine Stimme über ihr:

»Gut, das du noch rechtzeitig angekommen bist, sonst wäre der Kleine verhungert. Hast du ihm schon einen Namen gegeben?«

Ximdi schnellte herum und sah nach oben. Doch dort war niemand. Sie schaute in alle Richtungen, doch sie konnte kein sprechendes Wesen erkennen. Jetzt werde ich auch noch verrückt, dachte sie. Da erklang die Stimme erneut.

»Ich finde es nicht schön, dass du mich ignorierst.«

Ximdi drehte sich abermals um. Etwa der da? Sie weigerte sich,das zu glauben. Auf dem Baum saß ein bunter Vogel mit weißem Schnabel und schwarzen Füßen. Aber ja doch, er sprach. Er sprach einfach mit ihr.

»Hast du immer noch nicht begriffen, dass die Welt um dich herum mehr Geheimnisse hat, als du dir vorstellen kannst? Du denkst, ein sprechender Vogel sei unmöglich, doch andere Dinge wie den Wind, den du nicht sehen, aber fühlen kannst, findest du normal. Komm, lass das Küken kurz allein. Ich werde dir zeigen, womit du ein Nest bauen kannst, damit du es nachts nicht wieder fast erdrückst.«

Noch reichlich verwirrt stolperte Ximdi hinter dem sprechenden Vogel her. An einer Stelle, wo lange, feste Halme wuchsen, forderte er sie auf, eine gehörige Menge abzuschneiden und einen Kranz daraus zu flechten. Den Kranz sollte sie dann auf den Boden legen und mit weichem, feinen Gras polstern. Ximdi schien, das Ganze sei für die kleine Trummel viel zu groß geraten, und sie stopfte ihre weichen Tücher dazu, doch der sprechende Vogel erklärte den Nestbau für gelungen und sah wohlgefällig, wie sie das Küken hineinsetzte. Anschließend führte er Ximdi zu einer hohen Hecke, die so dicht war, dass man nicht einmal hindurchschauen konnte. Dahinter erhob sich ein riesiger bunter Baum. Seine Farben waren dieselben wie die des Vogels.

»Sollte einer versuchen, durch die Hecke zu kommen, dann wird er sterben.«


So sprach der Vogel.

»Außer mir ist doch niemand hier und ich werde schon nicht versuchen, da hindurch zu schlüpfen«, sagte Ximdi.

»Noch bist du allein, doch bald wirst du Mühe haben, hier für Ordnung zu sorgen. Suche dir einen Platz, wo du lagern willst und grenze ihn ab. Du kannst dafür die Seile nehmen. Achte darauf, dass niemand dein Lager ohne deine Erlaubnis betritt.«

Ximdi verbarg ihre Verwunderung. Dieser seltsame Vogel wusste also von ihren Seilen. Nun gut. Wusste er auch von den Jägern und waren sie es, vor denen sie sich abgrenzen sollte? Wozu – es waren doch nur 11. Und selbst wenn sie jemanden mitbringen würden, wäre hier immer noch genug Platz.

»Ximdi, ich habe eine zusätzliche Botschaft für dich. Wenn alle da sind, dann nimm aus jeder Gruppe zwei mit dir und gehe nach Süden. Das Dreieck wird dir den Weg weisen. Du wirst einen alten Mann treffen, er wird deine Fragen beantworten.«

Nach diesen Worten schwang sich der Vogel in die Lüfte und verschwand in den Zweigen des riesigen Baumes. Selbst meinen Namen kannte er, dabei habe ich mich ihm doch gar nicht vorgestellt, dachte Ximdi. Sie drehte sich um und wollte zu ihrem Küken zurückgehen, als einer der 11 Krieger Jolombas aus dem Wald trat, gefolgt von einer großen Menge Draufkanter. Es mussten 300 bis 400 Personen sein, die nach und nach eintrafen. Derweil kramte Ximdi, die zu Nest und Rucksack zurückgekehrt war, hektisch nach den Seilen.

Nun wusste sie, was der Vogel gemeint hatte. Die Seile, zu einem einzigen langen Seil verknotet, legte sie als Kreis um ihr Lager. Kaum, dass sie damit fertig war, näherte sich der Krieger, der zuerst auf die Lichtung getreten war, nahm am Rand ihres Kreises Aufstellung und schaute sie schweigend an. Seine 10 Gefährten taten es ihm gleich, einer nach dem anderen, wie zu einem Appell,sobald ihr Gefolge vollständig aus dem Wald herausgetreten war. Offenbar waren die Jäger, die Ximdi zu den Höhlen von Hoor begleitet hatten, nun zu Anführern weiterer Krieger geworden. Woher hatten sie diese Leute?

Keiner der 11 sprach ein Wort, sie alle starrten die junge Trummel an. Der Vogel war bereits doppelt so groß wie am Tag zuvor, als er geschlüpft war, und er schrie laut, als Ximdi ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Noch waren seine Augen geschlossen, doch er schien sie wahrzunehmen, vielleicht am Geruch. Ximdi hob ihn vorsichtig aus dem Nest und setzte ihn in ihre Armbeuge. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust. Ein tiefes Gurren kam aus seiner Kehle. Über Ximdis Gesicht huschte ein Lächeln. Sie spürte kurz ihrer Freude nach, dann wandte sie sich den Kriegern zu.

»Willkommen, ich bin überwältigt. Ihr habt euren Auftrag erfüllt und es ist gut, euch wiederzusehen.«

Es kam ihr komisch vor, wie sie sprach, es klang hölzern und trotzdem so, als ob sie hier das Sagen hätte. Doch anscheinend war das ihre Aufgabe. Sie versuchte etwas freundlicher und lockerer zu reden.

»Es ist schön, nicht mehr allein zu sein. Meinen kleinen Freund hier habt ihr ja schon bemerkt, bitte sorgt dafür, dass niemand ihn anfasst oder ohne meine Erlaubnis das Innere des Kreises betritt. Wie ihr sicher schon gesehen habt, wird er von einer Schar kleiner Vögel versorgt. Des Weiteren möchte ich euch bitten, 11 voneinander abgegrenzte Lager zu bilden. Alsdann ist es mein Wunsch, dass ihr für einen jeden von euch drei Stellvertreter wählt, die bei eurer Abwesenheit eure Aufgabe übernehmen können.«

Mit diesen Worten entließ sie die Krieger und widmete sich wieder dem Vogel. Sie wiegte ihn in ihren Armen und genoss die Wärme, die das große Leuchten spendete. Ich muss ihm einen Namen geben, dachte sie. Vielleicht Schlucker oder Trum Trum? Nein, das waren keine hübschen Namen, und schlecht zu rufen waren sie auch. Wo hatte sie ihn gefunden? Es war in den Klippen am Pinken Meer gewesen. Diesem wunderschönen, wilden Meer. Jetzt wusste sie, wie sie ihn nennen würde: Pinki.

»Na, Pinki«, sagte sie zärtlich und streichelte seinen nackten Schädel. Beim Namen genannt, öffnete die Trummel zum ersten Mal die Augen. Dieser Augenblick gebar eine Freundschaft, die ein ganzes Leben halten sollte.

Nach und nach kamen die Krieger zurück, nachdem sie Ximdis Anweisungen gefolgt waren. Sie lud sie ein, sich zu ihr in den Kreis zu setzen. Sie wollte hören, wie es ihnen ergangen war.

Die Krieger waren sehr zurückhaltend, nur konnten sie ihre Augen gar nicht von Pinki lassen. Als dann der Erste seine Geschichte erzählte und alle anderen nahezu das Gleiche berichteten, staunte Ximdi nicht schlecht. Alle hatten sie an den Höhlen von Hoor gewusst, wohin sie gehen mussten, alle hatten ihr Ziel erreicht und wurden dort herzlich in Empfang genommen, und alle hatte man so freudig begrüßt, als erfülle sich mit ihnen ein Teil einer Prophezeiung. Diese Prophezeiung war immer dieselbe: Ein Bote würde eintreffen, der vom Kommen einer Frau aus der Unterwelt der Drumkanter erzählen würde, einer Frau mit 4 Armen und einem Vogel.

Von einer Frau aus der Unterwelt konnten Ximdis ehemalige Begleiter natürlich berichten – insofern passte die Prophezeiungauf sie: Sie waren anscheinend die Boten, von denen die Weissagung sprach. Sie wussten jedoch nichts von einem Vogel. Das sorgte für Irritation an allen Orten, wohin Ximdis Krieger gegangen waren. Überall beschloss man, unabhängig voneinander, eine größere Truppe zu bilden und sich Ximdis Kriegern anzuschließen, um zu sehen, wer diese Drumkanterin sei.

Ximdi war erstaunt über das, was die Krieger berichteten. Sie hatte ja selbst schon Prophezeiungen erhalten, doch eine über das ganze Land verteilte, die überall bewirkte, dass Leute sich auf den Weg zu ihr machten, das überstieg ihre Vorstellungskraft. Doch die Leute waren hier und es waren viele, sehr viele. Ximdi dachte an den Auftrag, den ihr der sprechende Vogel erteilt hatte, und bat die Krieger, am nächsten Tag mit ihr loszuziehen. Jeder sollte einen weiteren Mann mitbringen, am besten einen seiner Stellvertreter. Die zwei anderen sollten im Lager für Ordnung sorgen, wenn sie sich auf den Weg nach Süden machten. Pinki übergab sie der Obhut von 11 jungen Kriegern. Die würden den Jungvogel bewachen und die kleinen Vögel würden ihn versorgen.

Der Trupp nach Süden ging anderntags früh los, das Oval auf Ximdis Handrücken hatte sich wieder zum Dreieck verwandelt und wies ihr den Weg. Sie hatte viele Fragen an die Krieger, die ihr bereitwillig die Welt der Draufkanter erklärten. Ximdi lernte eine Menge über Tiere, Pflanzen, das Wetter unter freiem Himmel, und ihr Bild von diesem Land wurde immer vollständiger. Auch über die Bewohner lernte sie sehr viel und erfasste die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihrem Volk und dem der Draufkanter. Gemeinsam war beiden der starke Familienverbund, das verstand Ximdi rasch. Umso mehr jedoch rätselte sie, wie es seinkonnte, dass im Gegensatz zu ihrem Volk bei den Draufkantern die Männer das Sagen hatten. Und wieso hatten die Angehörigen des einen Volks zwei Arme und die anderen vier Arme, wo doch ihre Körper im Übrigen ganz und gar ähnlich waren?

Ximdi hatte von dem Gerücht gehört, dass es einst kaum Unterschiede gegeben haben sollte. Sie konnte sich nur nicht vorstellen, wie die Draufkanter zwei ihrer Arme verloren hatten. Die Reisenden brauchten fast drei Tage, um an den südlichen Rand des Waldes zu gelangen. Am Horizont sahen sie Rauch aufsteigen und als sie sich näherten, erkannten sie eine einzelne Hütte, vor der ein alter Mann saß.