Kaum dass Pyrosgudus seine Prophezeiung ausgesprochen hatte, verwandelte er sich wieder in die kleine Schlange. Feuer wand sich um Joldurs Arm und sprach:
»Geh nach Hause, du wirst erwartet.«
Als habe sie ihre Aufgabe vollendet, wurde Feuer wieder zu einem einfachen Armband, nun jedoch ohne den Schriftzug. Joldur ging ohne Zögern über die Brücke. Er schaute auch nicht hinter sich, sondern lief einfach gen Osten. Er spürte, dass die anderen ihm folgten. Er wollte jetzt mit niemandem sprechen.
Ximdi steuerte auf die einsame Hütte zu. Ihre Begleiter hielten etwa hundert Schritt Abstand von ihr. Sie mussten geahnt haben, dass dies hier eine besondere Begegnung werden würde. Als Ximdi nur noch wenige Schritte vom Haus entfernt war, drehte der alte Mann sich zu ihr um und sagte:
»Setz dich zu mir, mein Kind. Schön, dass du den Weg zu meiner Hütte gefunden hast.«
»Bist du ein Prophet?«, fragte Ximdi.
»Oh nein, ich bin ein alter Mann, der seinen Enkel vermisst. Er heißt Joldur und ist ein wunderbarer Junge. Wie heißt du?«
»Ich bin Ximdi.«
»Du bist eine Drumkanterin, nicht wahr?«
»Ja, ist wohl nicht zu übersehen.«
»Ich bin gespannt, ob du dich mit Joldur verstehen wirst.«
»Warum, ist er hier?«
»Noch nicht, doch er wird sicher bald kommen, jetzt, wo du da bist.«
»Wie meinst du das?«
»Das ist eine längere Geschichte, soll ich sie dir erzählen?«
»Gern.«
»Mein Name ist Kjelmisch und ich habe einen Enkel namens Joldur. Joldurs Eltern starben bei einem Sturm und ich zog meinen Enkel alleine auf. Wir Draufkanter haben eine Tradition, sie heißt Aufkanten. Nach frühestens 168 Monden kann jeder junge Draufkanter für 7 Tage und Nächte in den Wald des Vergessens gehen, von dort kommst du übrigens gerade, und in einem 14 mal 14 Schritte großen heiligen Quadrat verweilen. Wenn die jungen Draufkanter dann wieder aus dem Wald kommen, sind sie erwachsen und haben eine Aufgabe für ihr Leben bekommen.
Als ich damals aus dem Wald zurückkam, hatte ich neben meiner Bestimmung als Wildhüter und Fallensteller auch eine Vision mitbekommen. Mir wurde gesagt, dass ich den Auserwählten sehen und ihn ein Stück seines Weges begleiten werde. Auch, dass ich ihn mit der Unterwelt bekannt mache. Damals habe ich das nicht verstanden, doch als mein Enkel Joldur aus dem Wald des Vergessens kam und die zwei Leuchten zu einem wurden, da wusste ich, der Auserwählte ist mein Enkel. Es ist noch gar nicht lange her, da ist er aufgebrochen, um durch den Eingang im Südendie Unterwelt zu betreten. Nachdem du nun hier bist, als Vertreterin der Drumkanter, weiß ich, er wird auch kommen und das stimmt mich sehr froh.«
Joldur war ohne Pause vorangeschritten und erst jetzt, wo es Abend wurde, blieb er stehen. Xolomandi, Lexidus und Jaxala traten zu ihm.
»Lasst uns hier das Nachtlager aufschlagen«, bestimmte Joldur. »Sagt den Leuten, sie sollen auf die Felsen aufpassen, die scharfen Kanten sind oft mit dem tödlichen Gift der Klippwusler bestrichen.«
Joldur hatte seinen drei Freunden erst zeigen müssen, wie man aus zwei Seilen und einem Laken Stoff eine Schaukelmatte herstellt. Mittlerweile aber hatten sie Übung darin. Ihre Matten hingen in sicherem Abstand zum Boden und ein kleines Feuer brannte, als sie anfingen, leise über die Geschehnisse des Tages zu reden. Joldur war froh, die Drei als Freunde zu haben und nicht wie auf seinem Hinweg, hier in der Steppe, ganz allein zu sein. Dennoch schlief er schlecht in dieser Nacht. Sehr bald würde er Großvater wiedersehen. Lag es daran? Eine erwartungsvolle Unruhe war in ihm, doch er wusste noch nicht, warum.
Mit den ersten Strahlen der doppelten Kraft des Leuchtens standen sie auf und machten sich auf den Weg. Joldur hatte die Krieger angewiesen, dass sie ihn alleine vorausgehen lassen sollten, sobald er ein Zeichen gab. Nur seine drei Freunde durften dann an seiner Seite bleiben. Sie liefen lange durch karges Steppenland. Gegen Ende des Tages veränderte sich das Bild der Landschaft. Das dürre Gras wurde grün, hier und da wuchsengroße Bäume, und es wurde hügeliger. Kurz bevor die Nacht hereinbrach, schlugen sie ihr Lager auf einem der Hügel auf. Joldur wusste genau, wo sie waren, doch das behielt er für sich. Er wollte den neuen Tag abwarten.
Großvater Kjelmisch hatte Ximdis Begleiter herangewunken. Da sie alle Draufkanter waren, durften sie ihr Lager direkt neben seiner Hütte aufschlagen, und er widmete sich Ximdi. Auch Kjelmisch hatte viele Fragen, denn er wollte wissen, ob die Geschichten stimmten, die über die Drumkanter kursierten. Intensiv lauschte er, als Ximdi ihre eigenen Erlebnisse erzählte. Ihr Absturz am Pinken Meer entlockte ihm ein sorgenvolles Stöhnen; er lächelte teilnehmend über ihre Begeisterung für die Schönheit der Oberwelt, das Licht und die Weite; er zitterte mit, als sich ihr Floß durch tobende Wellen kämpfte und sie beinahe ertrunken wäre. Sie redeten bis tief in die Nacht und als sie zu Bett gingen, lag Ximdi noch lange wach. Sie war gespannt, ob dieser Joldur genauso nett war wie sein Großvater. Der nächste Morgen begann mit großer Unruhe. Ximdis Begleiter hatten auf einem am Horizont gelegen Hügel eine große Menge von Personen ausgemacht und beratschlagten aufgeregt. Als Kjelmisch, durch den Lärm geweckt, aus der Hütte trat, lachte er bloß.
»Macht euch keine Sorgen«, sagte er, »das wird Joldur sein und er kommt, genau wie ihr, nicht allein.«
Ximdi und Kjelmisch beobachteten, wie sich eine kleine Gruppe vom Rest der Schar löste und langsam auf die Hütte zukam. Es dauerte nicht lange, und Kjelmisch konnte seinen Enkel erkennen. Sein Puls ging heftiger, seine Augen glänzten vor Freude,und als Joldur über den letzten Hügel kam, rannte er auf ihn zu und sie fielen sich in die Arme.
»Ahodi, mein Junge, wie schön, dass es dir gut geht.«
»Ahodi, Großvater, ich habe dir so viel zu erzählen. Hast du Besuch?«
»Oh ja, komm mit. Du wirst dich wundern.«
Joldur und Großvater Kjelmisch gingen zur Hütte und Joldur staunte nicht schlecht, als er eine junge Drumkanterin dort sitzen sah. Ximdi beachtete ihn jedoch gar nicht, sondern rief laut:
»Tante Xolomandi, was machst du denn hier?«
Sie rannte an Joldur vorbei und umarmte ihre Tante. Als sich der erste Freudentaumel gelegt und alle sich gegenseitig begrüßt hatten, hob das große Geschichtenerzählen an. Joldur berichtete seinem Großvater, Ximdi ihrer Tante und umgekehrt. Auch in dieser Nacht gab es wenig Schlaf, denn es gab so viele Fragen. Am nächsten Morgen waren es Ximdi und Joldur, die als Erste wach waren und sich durch Zufall draußen vor der Hütte trafen.
»Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte Joldur. »Ich kann dir zeigen, wo ich aufgewachsen bin.«
»Gut«, antwortete Ximdi und so schlenderten sie über die Wiesen und Felder. Joldur wusste genau, wo er hinwollte. Es gab da einen Platz an einem kleinen Teich, wo er immer geangelt und den er stets aufgesucht hatte, wenn er nachdenken wollte. Diesmal war es sein Ziel, ungestört mit Ximdi zu reden. Am Abend zuvor war das nicht möglich gewesen, da sie sich nicht den Fragen der anderen entziehen konnten.
»Wie es scheint«, begann er, »haben die Prophezeiungen uns zusammengeführt. Hast du irgendeine Vorstellung, wie es nun weitergehen soll?«
Ximdi nahm sich Zeit für eine Antwort. Sie dachte nach und sagte dann:
»Wir ziehen gemeinsam in den Krieg. Wenn wir alle bisherigen Prophezeiungen zusammenfassen, ist klar, was dein Auftrag ist. Du sollst alle vier Eingänge in unsere Welt wieder öffnen und die Höhlenwockler vertreiben. Der Eingang im Süden ist jetzt offen. Entscheide also, welcher als nächstes drankommt. Mein Auftrag ist, dich mit meinen Leuten zu unterstützen. Wenn ich dich richtig verstanden habe, sind die Höhlenwockler bereits in Millimant eingedrungen. Dadurch sind sie dem Eingang im Süden schon sehr nahe. Was willst du tun?«
Joldur war sich unsicher, er fühlte sich überfordert, er fühlte sich viel zu jung. Ximdi ist auch jung, dachte er, und zusammen sollen wir in den Krieg ziehen. Zwei Heranwachsende, kaum übers Kindesalter hinaus, als Befreier des Landes Kant. Das machte ihm Angst. Doch er war der Auserwählte. All das, was seit seiner Rückkehr vom Baum der Farben passiert war, konnte er nicht ignorieren. Plötzlich hörte er sich sagen:
»Wir gehen nach Norden und suchen den Eingang im Gebirge Kratzer.«
Ximdi schluckte. Sie hatte zwar den Namen Kratzer noch nicht gehört. Doch sie wusste, was sich in ihrer Welt im Norden befand. Dort waren die Priesterinnen zu Hause, am Rande des Eishöhlenlabyrinths, wo gefährliche Ungeheuer ihr Unwesen trieben. Um diese zu besänftigen, opferten die Priesterinnen Fellrutteln. Die Schreie, die sie aus den Gängen hörten, wenn die Opfertiereim Labyrinth verschwunden waren, waren markerschütternd. Alle Drumkanter, außer den Priesterinnen, mieden diese Gegend.
Ximdi nickte nur kurz, um Joldur zu signalisieren, dass sie verstanden hatte, dann gingen sie zurück zu Großvaters Hütte.