kapitel3

Ximdi wachte auf. Sie hatte schlecht geträumt. Heute war für sie ein großer Tag, denn sie sollte das erste Mal mit ihrer Mutter zu den Fischschlucker Trummeln gehen.

Schon bald war das alljährliche Trummel-Ei-Fest, und da sie vor kurzem ihren 168. Schattenwechsel vollzogen hatte, durfte sie endlich mitmachen beim Sammeln der Eier.

Die Fischschlucker Trummeln waren Vögel aus der Oberwelt, jedoch hatten die Drumkanter, über mehrere Höhlenausgänge ihres Reichs, Zugang zu den Nistplätzen dieser Tiere. Die Nester befanden sich in einer 2500 Schritt hohen Steilwand am Pinken Meer. Seit ihr Volk verflucht worden war, mussten die Drumkanter einmal im Jahr zu den Brutplätzen der Fischschlucker Trummeln gehen und ihnen Eier aus den Nestern stehlen, denn wenn sie nicht regelmäßig von den Eiern aßen, dann litten sie Mangel, wurden schwach und krank und zur leichten Beute der Höhlenwockler.

Ximdis Mutter wartete schon mit dem Frühstück. Wie bei allen Drumkantern bestand es aus Höhlenpilzen mit Stalagmitenkruste. Ximdi schlang ihr Frühstück runter, denn sie konnte es kaum abwarten, sich auf den Weg zu machen. Schnell trank sie,da die Mutter sie dazu anhielt, auch noch ihr Stalaktitenwasser. Nun aber los!

»Wie lange werden wir gehen müssen?«, fragte Ximdi.

»Je nachdem, wie schnell wir vorankommen, wird es 3 bis 4 Schattenwechsel dauern«, antwortete die Mutter. »Wir nehmen unsere Schlafjacken mit, denn je näher wir den Höhlen am Pinken Meer kommen, umso kälter wird es. Außerdem muss dein Vater uns noch den Handkarren ölen, denn wir werden einiges an Ausrüstung mitnehmen, und auf dem Rückweg haben wir dann ja auch noch die Eier dabei.«

Ihre Ausrüstung bestand aus langen starken Seilen, aus Haken und Ösen, Decken, Körben. Dazu die Schlafjacken. Die Kisten waren mit getrockneten Pilzfasern gefüllt. Darin konnte man die Eier sicher transportieren.


Ximdi war aufgeregt, denn es war Brauch, die Jüngsten und Leichtesten als Sammler einzusetzen. Das Mädchen hatte die letzten zwei Schattenwechsel-Zyklen unentwegt an den steilen Wänden und Kanten des Drumgewölbes geübt. Es hatte als einziges die schwersten Routen mehrmals durchklettert und galt als überaus talentiert.

Das Drumgewölbe maß 3399 Schritt im Durchmesser und war 399 Schritt hoch. Es war die größte Höhle des Drumkanter Staates und diente als Treffpunkt, Marktplatz, Gerichtsund Versammlungsort. In der Mitte des Drumgewölbes stand der Drumpalast, in dem die große Königin lebte.

Direkt vor dem Palast, auf dem großen Drumplatz, fand heute die Segnung der Sammlerinnen durch die Königin statt. Das warder Brauch und von nun an fieberten alle dem größten Fest der Drumkanter, dem Trummel-Ei-Fest, entgegen.

Eiersammeln war Frauensache, wie so vieles im Drumkanter Staat. Die Männer waren zwar geschickt mit den Händen, aber schwach und nicht besonders mutig. Hierin unterschieden sich die Drumkanter von den Draufkantern. Früher, als noch Frieden herrschte und die Eingänge zwischen den Reichen offen standen, waren in beiden Völkern die Geschlechter gleichberechtigt. Doch der Fluch, die Spaltung und der ewige Krieg, hatten bewirkt, dass entweder die Frauen, wie bei den Drumkantern, oder die Männer, wie bei den Draufkantern und Höhlenwocklern, die Oberhand bekamen.

Ximdi zog ihren schweren Handkarren mit Leichtigkeit, denn ihr hartes Training an den Wänden des Drumgewölbes hatte sie stark werden lassen. Doch sie war nicht nur stark, sondern auch groß und hübsch, besaß Eleganz und Anmut. Viele der jungen Männer hatten ein Auge auf sie geworfen. Ximdi machte sich noch nichts daraus, sie wollte viel lieber klettern und freute sich seit vielen Zyklen auf den Tag, der nun zum Greifen nah war, sie wollte Eier sammeln.

Am großen Drumplatz angekommen zählte Ximdi nur 15 Sammelgemeinschaften. Im letzten Zyklus waren es 35 gewesen. Sechs waren abgestürzt und einige hatten wohl aus Furcht diesmal auf eine Teilnahme verzichtet. Ximdi konnte gar nicht verstehen, dass man sich eine solche Chance entgehen ließ. Allerdings konnte sie nachvollziehen, dass manche Familien Angst hatten, ihre Töchter zum Sammeln zu melden. Viele hatten schon Töchter verloren, oft sogar mehrere. Das Sammeln war gefährlich. So weitXimdi zurückdenken konnte – immer waren weniger Sammlerinnen zurückgekommen, als ausgezogen waren. Ob sie selbst wohl zurückkommen würde?, fragte sie sich insgeheim.

Der große Gong wurde geschlagen und alle Anwesenden, sogar die Händler, wurden still. Ximdi schaute hoch zum Palast und sah die Königin auf den Balkon kommen.

Eine Eskorte aus 6 Kriegerinnen begleitete die Herrscherin. Jede dieser Kriegerinnen stand für eine Region des Königreichs. Sie waren groß und stark, schwer bewaffnet und blickten finster. Wie alle Drumkanterinnen hatten sie vier Arme und ein Paar starke Beine.

Die Königin war doppelt so groß wie eine Kriegerin und sah eher plump und gedrungen aus, bis auf ihr Gesicht, das sehr feine und gütige Züge hatte. Ihre Augen bestanden aus grünen und weißen Ringen mit hellblauem Hintergrund.

Auch wenn sie plump aussah, so schien sie doch zu schweben, als sie den Balkon des Palastes betrat. Rechts und links von ihr postierten sich jeweils drei Kriegerinnen und reihten sich am Geländer des Balkons auf.

»Hört die Worte der Königin!«, riefen die Kriegerinnen wie aus einem Mund und so laut, dass man es bis in den hintersten Winkel des Drumgewölbes hören konnte.

Wie ein sanfter warmer Luftzug erfüllte die Stimme der Königin das Gewölbe.

»Mein Volk!

Ich freue mich sehr, auch diesen Zyklus viele mutige Drumkanterinnen vor mir zu sehen, welche bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um die Eier für unser Fest zu sammeln. Wie ihr allewisst, kann unser Volk nur überleben, wenn wir regelmäßig eine Speise aus den Eiern der Fischschlucker Trummeln zu uns nehmen. Und nur einmal pro Zyklus brüten diese großen, erhabenen Vögel. Jeden Zyklus aufs Neue machen sich mutig junge Frauen auf den Weg, um diese kostbaren Eier zu sammeln.

Ihr Sammlerinnen, hört mich an: Unser Leben, mein Leben, liegt in eurer Hand. Ich möchte euch danken und den Segen für euer Tun erbeten. Ich gebe mein Leben in eure Hände und vertraue euch.

Jede von euch ist eine Heldin!«

Das ganze Volk stimmte ein in den Jubel.

Heldin!

Heldin!

Heldin!


Ximdi bekam eine Gänsehaut, als alle anfingen zu jubeln. Gleichzeitig wurde ihr mulmig bei dem Gedanken, dass sie womöglich wirklich ihr Leben riskierte. Beim Klettern im Drumgewölbe war ihr nie der Gedanke an Gefahr gekommen und auch jetzt war ihr nicht klar, worin die Gefahr bestand. Sie wusste nur, dass einige von ihnen ihr Leben lassen würden, damit ihr Volk weiter existieren konnte. Dieser Gedanke machte sie innerlich sehr unruhig und trotzdem stolz.

Direkt nach der Zusammenkunft auf dem Drumplatz brach ihre kleine Gruppe auf und machte sich auf den Weg zu den Klippen.

»Was ist so gefährlich an unserer Aufgabe«?«, fragte Ximdi ihre Mutter. »Sind es die Vögel?«

»Oh ja, die Vögel sind sehr gefährlich. Sie verteidigen ihre Eier und werden versuchen, dich die Felsen hinab zu stürzen. Doch die größere Gefahr sind die scharfen Felsen selbst und der Wind. Du wirst ständig herumgeworfen und musst dich sehr gut festhalten, damit dein Seil durch die vielen Bewegungen nicht durchgescheuert wird.

»Was ist Wind?«, wollte Ximdi wissen.

»Wind nennen die Draufkanter Luft, die sich sehr schnell bewegt. Man kann es schwer erklären, wenn man es nicht am eigenen Körper gespürt hat.«

Ximdi konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Luft in der Lage war, ihren Körper zu bewegen, vor allem nicht, wenn sie sich wie eine Spinne im Mauerwerk verankerte. Zufrieden und ohne Sorge, wie sie sich fühlte, hörte Ximdi auf, ihrer Mutter Fragen zu stellen. Sie war sich sicher, dass ihr diese Gefahren nichts anhaben konnten.