kapitel4

Joldur lenkte Jeffgur durch einen Wald mit immer größer werdenden Bäumen. Das Unterholz wurde durchlässiger und die Landschaft leicht hügelig.

Immer wieder unterbrachen Lichtungen den Wald. Ein Meer bunter Blumen bedeckte den Boden und gelegentlich gab es große runde Stellen, wo sie mannshoch wuchsen. Dort waren die Blüten groß wie Wagenräder und ihre silberne Farbe glänzte im Licht der zwei Sonnen. Feine pinke Linien durchzogen das Silber. Noch nie in seinem Leben hatte Joldur so etwas Schönes gesehen.

Gegen Ende des Tages erreichten sie den Rand des Waldes, der sich wie ein Ring um einen großen Hügel legte. Zumindest vermutete Joldur, dass es so war, denn von seinem Ort aus konnte er nur erahnen, dass sich der Hügel im Zentrum einer riesigen Lichtung erhob. In der Ferne war auf dem Gipfel des Hügels ein großer Felsen zu sehen, auf dessen Spitze ein gewaltiger Baum stand.

»Weiter kann ich dich nicht tragen«, sagte Jeffgur. »Wenn du diesen Hügel betreten willst, musst du das alleine tun. Ich werde hier auf dich warten.«

Joldur wurde magisch von dem Baum auf dem Hügel angezogen, und so stieg er von Jeffgurs Rücken herab und machte sichan den Aufstieg. Tat er das Richtige? Je länger er voranschritt, umso mehr regte sich Widerstand in seinen Gedanken. Ich muss vor Ende des Tages meinen heiligen Ort errichtet haben, dachte er. Ich darf keine Zeit verlieren. Bei Einbruch der Nacht muss ich fertig sein. Doch etwas trieb ihn weiter an, unaufhaltsam. Als Joldur nur noch wenige Schritte von seinem Ziel entfernt war, hob er den Kopf und hielt beeindruckt inne.

Der Fels, auf dem der Baum stand, war überzogen mit gigantischen Wurzeln, welche der Baum seit Urzeiten um ihn hatte wachsen lassen. Der felsige Untergrund lag nur noch an wenigen Stellen frei. Der Baum selbst war so dick und massiv, dass die Einwohner seines kleinen Dorfes nicht ausgereicht hätten, um ihn gemeinsam zu umringen.

Seine Blätter waren von einem blendenden Pink und seine Blüten von einem strahlenden Gelb. Insekten, so groß wie kleine Hunde, flogen von Blüte zu Blüte, um diese zu bestäuben und sich an dem herabtropfenden Nektar gütlich zu tun. Die Früchte des Baums waren riesig, rosa mit gelben Punkten, und wenn man sie ansah, verschwamm einem der Blick wegen ihrer seltsam schimmernden Haut.


Joldur war fasziniert. Während er noch ganz gebannt den Baum bewunderte, ertönte eine Stimme.


»Gegrüßt seist du, Joldur, ich habe dich schon erwartet.«

»Wer bist du?«, fragte Joldur.

»Ich bin der Wächter des Baumes der Farben.«

»Des Baumes der Farben?«

»Ja, dies ist der Baum der Farben. Schon morgen, am Ende der Nacht, wird er ganz anders aussehen. Halte, was du siehst, in Erinnerung, denn so wird er nie wieder aussehen.«

Nach diesen Worten kam ein großer Vogel aus dem Baum herab geflogen. Sein Federkleid trug dieselben Farben wie der Baum, er hatte einen großen, völlig weißen Schnabel und rabenschwarze Füße.

»Woher wusstest du, dass ich komme?«

»Das ist nicht wichtig«, sagte der Vogel. »Komm, ich zeige dir deinen heiligen Ort.«

»Aber Großvater hat mir gesagt, dass ich diesen selbst aussuchen und im Wald errichten soll.«

»Ja, das hat er gesagt, aber er wusste ja nicht, das du auserwählt bist.«

»Ich bin was?«

»Komm, wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Der Vogel führte Joldur um den Baum herum und blieb in einer Öffnung zwischen den Wurzeln sitzen.

»Hier ist es, komm herein«, sagte der Vogel und schon war er im Loch verschwunden.

Joldur sah mit Schrecken, dass das doppelte Leuchten bereits dabei war, hinter dem Horizont zu verschwinden, und so stieg er mit einigem Unbehagen in die Öffnung, worin der Vogel verschwunden war.

Die Helligkeit im Inneren des Baumes überraschte ihn. Die Wände leuchteten in tausend Farben, welche ständig wechselten. Auch die Muster auf den Wänden wechselten ständig ihre Form, so dass Joldur ganz schwindlig wurde. Der Vogel saß auf einemgroßen silbernen Stein in der Mitte des Raums. Er pickte mit seinem großen weißen Schnabel dagegen und der Stein bekam einen Riss, der immer größer wurde.

»Warum machst du das?«, fragte Joldur.

Der Vogel antwortete nicht, sondern pickte beharrlich weiter, bis der Stein in zwei Teile zerfiel.

Joldur erschrak, als er sah, was sich in dem Stein befand. Es waren 7 Schlangen. Eine war rot, eine schwarz, eine hellblau, eine apfelgrün, eine mittelblau, eine dunkelblau und die letzte war lila.

Der Vogel sagte:

»Stell dich zwischen die zwei Steinhälften, strecke deine Arme aus und warte auf die Botschaft der Schlangen. Wage es nicht, dich zu bewegen, denn das würde böse für dich enden.«

Joldur hatte große Angst, sahen die Schlangen doch den giftigen Vipern sehr ähnlich, die er aus dem Sumpf in der Nähe von Großvaters Hütte kannte. Er zitterte am ganzen Körper, als die rote Schlange an seinem Bein emporkroch und sich auf sein Gesicht zubewegte. Schweiß trat ihm auf die Stirn und es durchfuhr ihn ein Schauer, als sich ein großer Tropfen löste und der Schlange direkt ins Gesicht fiel. Joldur war sich sicher, gleich den Schmerz eines Bisses zu spüren. Doch die Schlange glitt einfach weiter an seinem Körper nach oben, schlang sich einmal um seinen Hals und glitt dann in Richtung seines rechten Handgelenks.

Sie wand sich um seinen Arm, schaute ihn an und sagte:

»Ich bin Feuer, wenn du mich brauchst, rufe mich bei meinem Namen.«

Kaum hatte Feuer ausgesprochen, kroch die nächste Schlange an Joldurs Bein hoch. Er war immer noch angespannt, doch langsam keimte Neugier in ihm, was es mit den Schlangen wohl auf sich hätte.

Die schwarze Schlange stellte sich ihm als Tod vor und auch sie bot ihm ihre Hilfe an.

Auf Tod folgte Wind, die hellblaue Schlange.

Friede war Apfelgrün, Geduld mittelblau, Tiefe dunkelblau und Versuchung lila.

Nachdem sich alle Schlangen vorgestellt hatten, verwandelten sie sich in leuchtende farbige Armbänder, auf denen spiralförmig ihre Namen in goldener Schrift geschrieben waren. Joldur atmete tief ein und entspannte sich zusehends. Der Vogel flog auf seine Schulter und fragte ihn sanft:

»Bist du müde?«

Joldur nickte. Ein mit frischem Heu ausstaffiertes Lager erwartete ihn. Der Vogel setzte sich auf eine Hälfte des zersprungenen Steins und forderte ihn auf, sich schlafen zu legen. Joldur gehorchte. Der herrliche Duft des Heus umfing seine Sinne und er schlief sofort ein.