kapitel6

Als Joldur aufwachte, roch es wunderbar nach warmem Kräutertee und reifen Früchten. Die Hälften des geteilten Steins waren verschwunden und es stand ein Tisch in der Mitte des Raums. Auf dem Tisch fand er eine Karaffe aus blauem Glas, die mit aromatischem Tee gefüllt war. Neben der Karaffe ein blaues Glas und eine große Obstschale mit allerlei bunten Früchten, von denen Joldur keine einzige kannte. Er hatte Hunger und so setzte er sich an den Tisch und fing an zu essen, ohne sich nach seinem Gastgeber umzusehen. Erst als er fertig war, bemerkte er den Vogel, der ihm zuzwinkerte.

»Na, gut geschlafen? Ich hoffe, du fühlst dich gestärkt, denn so bald wirst du nicht mehr so ein gutes Frühstück bekommen.«

»Obwohl es nur Tee und Früchte waren, habe ich doch überhaupt noch nie so ein gutes Frühstück gehabt«, sagte Joldur.

»Aber was meinst du damit, dass ich so schnell nichts mehr bekomme?«

Der Vogel machte eine lange Pause, dann antwortete er Joldur.

»Du bist der Auserwählte und es ist meine Aufgabe, dich auf deine gefährliche Reise vorzubereiten. Auf dieser Reise werden dir mannigfache Herausforderungen begegnen. Du wirst vieleRätsel lösen müssen, und wenn es dir gelingt, bis zum Schluss zu überleben, dann … Na, das wirst du dann schon sehen.«

Besorgnis überkam Joldur. Wenn er überleben würde, hatte der Vogel gesagt. Joldur wollte schon anfangen, den Vogel mit seinen Sorgen zu löchern, als dieser fortfuhr: »Joldur, ich kann dir keine Fragen beantworten, aber ich werde dich vorbereiten und dich zurück in den Wald begleiten. Lass uns nach draußen gehen, dort wirst du deine Ausrüstung finden. Anschließend machen wir uns auf den Weg.«


Sie verließen den Baum und fanden sich in einem Dickicht aus rankendem Efeu wieder. Joldur war traurig, denn er hätte gerne noch einmal den Baum in der Pracht seiner Farben betrachtet. Doch das Efeu war so dicht, dass man nicht hindurchsehen konnte. Vor ihm auf dem Boden lagen ein Rucksack und ein Stein.

»Ist das alles?«, fragte Joldur.

»Was meinst du?«, fragte der Vogel.

»Na ja, ich dachte, wenn ich schon der Auserwählte bin, vielleicht bekomme ich ja eine Waffe, einen Bogen zum Beispiel.«

Der Vogel schaute ihm ernst in die Augen. »Sieben Waffen hast du schon und auch der Stein hat eine Macht, die keiner Waffe dieser Welt gleicht, vertrau!«

Joldur hatte die Macht der Schlangen sehr wohl wahrgenommen, das stimmte, dass er nicht wehrlos war. Und dieser Stein sah verdächtig nach einer Miniatur des silbernen Steins aus dem Baum aus, worin die Schlangen eingeschlossen gewesen waren. Trotzdem hatte er sich unter Waffen immer etwas anderes vorgestellt.

Er schulterte den Rucksack, fragte dann: »Und jetzt?«

»Jetzt folg dem Weg«, sagte der Vogel.

»Welchem Weg?«

»Es gibt nur einen und noch kannst du ihn nicht verfehlen.« Joldur erkannte eine schmale Lücke im Efeu. Als er hindurchgeschlüpft war, lag ein schmaler Pfad vor ihm und der Vogel sagte:

»Am Ende des Pfades wartet Jeffgur, er wird uns in den Wald führen. Während wir reiten, werde ich dir eine Geschichte erzählen. Merke sie dir gut, denn sie ist alles, was ich dir für deine Reise mitgeben kann.«

Der Pfad endete an einer kleinen Lichtung am Waldrand. Jeffgur lag im Gras und döste. Der Vogel landete auf dem Geweih des Hirsches und fing an, leise zu gurren. Es klang fast wie eine Taube, nur viel melodischer.

Jeffgur öffnete seine Augen und grüßte leise:

»Ahodi, mein Freund. Ist er bereit?« Der Vogel antwortete:

»Ahodi! Bereit, wer ist schon bereit. So, wie ich das sehe, wird er den heutigen Tag wahrscheinlich überleben. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Gut«, sagte Jeffgur, dann wandte er sich an Joldur:

»Steig auf, junger Mann, wir haben einen weiten Weg vor uns.«

Joldur bestieg den riesigen Hirsch und sogleich setzte sich dieser in Bewegung.

»Nun zu meiner Geschichte«, sagte der Vogel.

»Sie handelt von der Zeit vor dem großen Krieg. Damals gab es Gelehrte, die Weissagungen verfassten. Sie ahnten schon, dass es Krieg geben und dass dieser Krieg nicht ohne Folgen bleibenwürde. Im ganzen Land wurden die Gelehrten vom Geist der Magie erfüllt und verfassten poetische Prophezeiungen, die niemand deuten konnte, nicht einmal die Verfasser selbst. Aus Furcht vor Missbrauch versteckten die Gelehrten ihre Weissagungen an vielen verschiedenen Orten.

Kurz darauf brach der Krieg aus und bis auf eine Gelehrten-Familie wurden alle getötet.

Der Krieg endete mit dem Fluch der Zerteilung des Volkes der Drumkanter und dem Verschluss der Zugänge zwischen Oberund Unterwelt. Die einzige Weissagung in der Welt der Draufkanter, welche nicht in Vergessenheit geriet und von Generation zu Generation weiter gereicht wurde, ist folgende:


Jung und schwach

In seinem Leben ein großes Ach

Macht er sich auf den Weg

Den kein andrer geht

Den kein andrer gehen kann

Keiner weiß wann

Sein Weg beginnt

Noch ist er Kind

Aber weise und klug

Kämpft er gegen den Fluch

Er steigt hinab

Öffnet ein Grab

Deutet, was die Alten geschrieben

Bringt für das Land den Segen

Erlöst es

Und macht es frei

Von des Fluches Sklaverei

Sein Zeichen am Himmel steht

Vereint es seinen Weg nun geht

Dass alle es wissen

Dass jeder es sieht Er ist da

Von ihm handelt dies Lied


Seit Hunderten von Zyklen nun warten alle auf den versprochenen Erlöser. Viel Rätselraten hat diese Weissagung ausgelöst. Viele Fragen und Interpretationen. Einigkeit herrscht nur darüber, dass jeder es erkennen wird, wenn der Auserwählte sich auf den Weg macht. Du bist der Auserwählte und das Zeichen am Himmel soll dich erinnern, soll dir Mut machen, weiter zu gehen, nicht zu zögern und zu vertrauen. Es ist eine große Aufgabe. Wenn du vertraust, wirst du nicht scheitern. Befreie dein Volk. Was du tun musst, wirst du in den verschollenen Weissagungen geschrieben finden. Auf deinem Weg werden sie sich dir auf unterschiedlichste Weise zeigen. Sei achtsam. Folge deinem Herzen.«

Kaum hatte der Vogel aufgehört zu sprechen, stieg er auf in die Lüfte und verschwand zwischen den Kronen der Bäume.

Joldur hätte ihn gern noch so vieles gefragt. Verwirrt und eingeschüchtert saß er auf Jeffgurs Rücken.