W
ir ließen Raphael und Kallisto den Weg nach Norden führen, nachdem wir die Grenzinseln der Region mit dem verrückten Wetter erreicht hatten. Dmitri, Ridan, Amane, Varga, Nevis und ich folgten in Paaren, sahen uns ständig um und stellten sicher, dass wir nicht entdeckt und von niemandem verfolgt wurden.
Varga war fast eine Stunde lang dafür verantwortlich gewesen, mit seinem Wahren Blick alles zu scannen, bis ich übernahm. Die Inseln wurden größer, je weiter wir kamen. Sogar durch meine rauchige Brille konnte ich die Pracht des Tageslichts erkennen: Die Sonne, die ihre goldenen Strahlen über den Archipel warf und den türkisfarbenen Ozean wie ein wunderschönes, endloses Juwel schimmern ließ.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich begonnen, Strava zu hassen. Es war für mich die Ursache einer Menge Leid und Elend. Doch das war gewesen, als ich nicht gewusst hatte, ob mein Bruder noch am Leben war oder nicht. Jetzt jedoch schien sich Stravas Charme neu zu entfalten. Die Hoffnung ritt auf der Meeresbrise und den frischen Nordwinden, als würde sie uns dazu auffordern, weiterzumachen, niemals aufzugeben, bis die Welt nicht mehr von TaʼZan bedroht war.
»Wir sind den Vollkommenen-Kolosseen gefährlich nahe«, sagte Raphael und blickte nach rechts in die Ferne.
Der Horizont schimmerte hier und da – diamantene Strukturen, die sich von weit entfernten Inseln erhoben. Darüber kreuzten in einem unregelmäßigen Muster Blitze den Himmel. Schallwellen hallten wie Donner wider.
»Wir sind immer noch mindestens fünfzig Meilen von der nächsten Insel entfernt«, antwortete ich. »Das sollte ausreichen, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Ich fühle mich immer noch unwohl. Mein Magen ist ganz aufgewühlt. Ich glaube, ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, murmelte Raphael.
»Wir gehen sowieso weiter nach Norden. Wir bringen mehr Abstand zwischen uns und sie«, sagte Nevis, als wolle er ihn beruhigen. Ich hatte die Veränderung in seinem Verhalten gegenüber Raphael noch nicht einmal richtig ausmachen können, aber ich war bereit, darauf zu wetten, dass es mit unserem Kuss zu tun hatte. Der Kuss hatte alles etwas verschoben und meine Lippen kribbelten noch viele Stunden später.
Dmitri schaute auf die Karte auf seinem Tablet. »Unseren Scans zufolge müsste nicht weit von hier eine ehemalige Draenir-Stadt liegen«, sagte er.
Nevis nahm meine Hand in seine und drückte sie sanft. Ich war von der Wärme seiner körperlichen Gesten überrascht, zumal sie vom Prinzen eines buchstäblich eiskalten Königreichs kamen. Als ich kurz um mich blickte, bemerkte ich Vargas hochgezogene Augenbraue. Oh-oh.
Mein Bruder war mir gegenüber unglaublich beschützerisch – aus gutem Grund. Das letzte Mal, als ich jemandem mein Herz geöffnet hatte, bekam ich es in Fetzen zurück. Aber Karma ist eine tolle Sache. Connor räumte heute Tische ab und erlebte das Elend eines arbeitslosen Schriftstellers, während ich hier draußen war, um das gesamte Universum zu retten (oder es zumindest zu versuchen) und mich in Nevis, eine
höchst außergewöhnliche Kreatur, verliebte. Varga wollte nur nicht, dass ich wieder verletzt wurde.
Ich schenkte ihm ein sanftes Lächeln und ein Augenzwinkern, in der Hoffnung, es würde ausreichen, um ihn davon abzuhalten, in den Angriffshund-Modus zu verfallen. Sobald er einmal zubiss, ließ er nämlich nicht mehr los. Diesmal klappte es jedoch nicht. Varga war immer noch entschlossen, auf mich aufzupassen. Angesichts unserer Umstände war er besonders fürsorglich, und das war irgendwie auch schön.
»Wir können einen Aktionsplan aufstellen, sobald wir da ankommen«, sagte Varga und behielt Nevis und mich ganz genau im Auge. Es fiel mir schwer, nicht zu lachen.
Raphael kicherte. »Vorausgesetzt, es gibt noch ein ‚daʽ, bei dem wir überhaupt ankommen können.«
»Das sollte es. Während des letzten Teleskopscans waren die Gebäude noch deutlich zu erkennen«, antwortete Dmitri.
»TaʼZan ist, was das anbelangt, total skrupellos«, warf Amane ein. »Er baut einfach seine eigenen Gebäude und reißt die alten ab. Er pflegt zu sagen: ‚Wenn es Geister gibt, dann sehen die Draenir jetzt von ihren Ruinen aus dabei zu, wie ich eine neue Welt auf der ihren errichte‘.«
»Meine Güte, er quält sie bis über das Grab hinaus.« Ridan seufzte und schüttelte bestürzt den Kopf.
»Eins muss man diesem Bastard ja lassen«, antwortete Varga, »er weiß, wie man an seinem Groll festhält.«
Wir rückten durch die Wälder einer der kleineren Inseln vor, die Teil einer nördlichen Kette waren, und nutzten das Blätterdach, um uns frei und ungehindert bewegen zu können. Die Luft war in dieser Gegend frisch und salzig. Das hier war jedoch kein Dschungel, sondern sah eher aus wie ein alter Regenwald, mit riesigen Bäumen und steinigen Hügeln, die hier und da aufragten. Der Boden war mit Moos und hohem Gras bedeckt.
Tiere bewegten sich mit uns, große, bärenähnliche Raubtiere, die uns aus Dutzenden von Metern Entfernung beobachteten. Sie waren klug genug, um zu wissen, dass sie, wenn sie nicht vorsichtig waren, trotz ihrer beeindruckenden Größe leicht zum Abendessen werden konnten. Vögel zwitscherten von oben auf uns herab. Ihr Gesang war jedoch nicht weich und melodiös, sondern erinnerte eher an die Elstern der Erde. Trotzdem war es hier einfach unglaublich. Der perfekte Ort für eine romantische Hütte im Wald.
»Wir werden beim zweiten Mal besonders vorsichtig sein müssen«, sagte Raphael, während wir in Bewegung blieben. »TaʼZan wird seine Sicherheitsvorkehrungen inzwischen bestimmt verschärft haben. Auch wenn wir euren raffinierten Unsichtbarkeitszauber haben, macht er uns nicht unbesiegbar. Sie könnten immer noch einen Weg finden, uns zu offenbaren.«
»Stimmt. Deshalb nehme ich an, dass du uns zum nördlichen Eingang des Kolosseums führst?«, fragte ich ihn. »Damit das Element der Unberechenbarkeit erhalten bleibt?«
»Das könnte man so sagen. Rein theoretisch wissen sie nicht, welchen Weg wir beim ersten Mal genommen haben«, sagte Raphael. »Um ehrlich zu sein, führe ich euch deshalb zur Nordseite, weil ich das Gefühl habe, dass wir Amal von dort aus viel schneller finden werden. Die Privatquartiere von TaʼZan befinden sich im nördlichen Abschnitt und ich weiß, dass Amal in seiner Nähe sein wird.«
»Wie ein treuer kleiner Schoßhund«, murmelte Dmitri.
»Halt ...« Raphael hielt am Waldrand an, gerade als wir den weißen Sandstrand erreichten. »Wow, hier ist es ... wunderschön.«
Jenseits des Strandes und des türkisfarbenen Wasserstreifens lag eine weitere Insel, deutlich breiter als diese. Sie war ähnlich geformt, mit einem breiten Sandstrand, dichtem Wald am Fuße des steinigen Berges und Flüssen, die von oben herabflossen. Nur gab es diesmal keinen Gipfel. Er
war abgeschnitten worden – so sah es jedenfalls aus – und das Innere war ausgehöhlt, um Platz für eine Stadt zu schaffen.
Hier hatten einst die Draenir gelebt. Dank meines Wahren Blicks konnte ich die Größe dieser Siedlung gut einschätzen. Sie hätte leicht etwa fünftausend Draenir beherbergen können, da sie auf mehreren Ebenen entlang der Innenseite der Bergwände erbaut worden war.
Wir mussten jedoch näher heranrücken, damit ich ihre architektonische Pracht vollständig greifen und die Logik hinter ihrer Infrastruktur wirklich verstehen konnte. »Wir sollten hineingehen«, sagte ich. »Die Küste ist frei. Keine Feinde in der Nähe. Der Berg selbst scheint vor hundertfünfzig Jahren von den Draenir verlassen worden zu sein«, murmelte ich.
Nevis nickte, übernahm dann die Führung und ging zum Ufer hinüber. Er zwinkerte mir seitwärts zu, dann sorgte er dafür, dass sich sein Frost ausbreitete und eine schmale, aber stabile Brücke über das Wasser bildete. Sie erstreckte sich den ganzen Weg bis zum ausgehobenen Berg.
Wir eilten schnell zum anderen Ende, dabei war es ein ziemlicher Nervenkitzel, über das rutschfeste Eis zu laufen. Das Wissen, dass Nevis es mit nur einem Wimpernschlag extrem glatt hätte machen können, brachte mich zum Lächeln und ich fragte mich, wie Varga wohl aussähe, wenn er den Halt verlor.
Es machte Spaß, diese Art von schelmischen Gedanken zu haben. Die Welt selbst war nicht mehr dunkel und düster und voller Schmerz. Ob es mit der Rückkehr meines Bruders, mit Nevisʼ Kuss oder mit beidem zu tun hatte, spielte keine Rolle. Es machte mich unbeschwert und es fühlte sich gut an, und das wollte ich ausnutzen.
Als wir den Berg erreicht hatten, suchten Varga und ich auf dem Südkamm nach einem Weg nach drinnen. Das Gebiet war auf natürliche Weise versiegelt und abgesichert. Die hohen Kalksteinmauern, die die Stadt umgaben, schützten sie vor
Eindringlingen und sogar vor extremem Wetter. Wir fanden eine kleine Tür, die mit efeuartigem Grün bedeckt war, das sich nach wahrscheinlich anderthalb Jahrhunderten der Vernachlässigung ausgebreitet hatte.
Raphael öffnete die Tür und brach dabei das Schloss auf der anderen Seite auf. Wir gingen durch den unbeleuchteten Tunnel, dessen Wände mit einer anderen, seltsam riechenden Art von dunklem Moos bedeckt waren. Kallisto hielt sich augenblicklich die Nase zu.
»Beeilt euch und atmet nicht ein«, flüsterte sie und huschte dann schnell vorwärts.
Wir folgten ihr und taten, was uns gesagt wurde. Als wir die Stadt erreichten, atmeten wir alle wieder tief durch und ließen den Tunnel hinter uns.
»Was stimmt mit dem Tunnel nicht?«, fragte ich.
»Das ist Übelkraut, das an den Wänden wächst«, erklärte Kallisto. »Die Sporen sind extrem giftig. Es liebt dunkle und feuchte Räume.«
»Giftig im Sinne von tödlich?«, fragte Ridan.
Amane lächelte. »Eher giftig im Sinne davon, dass es dir eine oder zwei Wochen lang den Magen verkorksen wird.«
Mir wurde schon bei der bloßen Vorstellung daran ganz schwindlig. Doch ich schüttelte das Gefühl ab und konzentrierte mich auf die atemberaubende Aussicht vor uns. Diese Draenir-Stadt muss in ihrer Blütezeit ein ganz besonderer Juwel gewesen sein. Sie wurde auf Mauern erbaut, wobei eine Kombination aus Treppen, schmalen Hängen und massiven Kalksteinplattformen verwendet wurde, um ihre Häuser und öffentlichen Plätze zu tragen. Ihre Struktur ähnelte ironischerweise der eines Kolosseums, und ganz unten, in der Mitte, befand sich ein Becken mit kristallklarem Wasser und großen Rohren, die in vier verschiedene Richtungen abzweigten.
Es war ein Wassersystem, das jenem ähnelte, in dem unsere
Leute Herakles gefunden hatten. Es schien nach dem gleichen natürlichen Prinzip entworfen zu sein. Wasser sprudelte von unten heraus, bildete einen Teich und strömte dann durch die eingelassenen Rohre wieder nach draußen. So bildeten sich die Flüsse, die dann den Berg hinunter in Richtung des Ozeans flossen.
Die Gebäude waren größtenteils intakt, obwohl sie mit allerlei Grün und wilden Blumen bedeckt waren. Die Natur hatte in Abwesenheit der Draenir die Herrschaft übernommen. Pflanzen und Büsche wuchsen an den merkwürdigsten Stellen, drängten sich durch gepflasterte Gassen und den Stadtplatz, ihre Äste ragten in alle Richtungen, krümmten sich und drangen durch die zerbrochenen Fenster in die umliegenden Häuser ein.
Alles war ruhig. Mir war die Gänsehaut, die diese Stadt bei mir hervorrief, nicht entgangen. Wir blickten auf eine Geisterstadt.
»Hier sind sie gestorben«, murmelte Varga und runzelte die Stirn, während er sich umsah.
Ich folgte seinem Blick und verstand sofort, was er meinte. Die Häuser, die uns am nächsten lagen, waren draußen mit seltsamen Elementen dekoriert. Einige reichten bis an den Rand, vielleicht bis zum Wasser, während andere auf die Türen zusteuerten. Zu unserer Bestürzung handelte es sich bei den vermeintlichen Dekorationen um die Skelette all jener Draenir, die von einem blutdurstigen TaʼZan getötet wurden waren. Dutzende von ihnen waren über die ganze Stadt verstreut, die meisten umrankt von wildem Farn, Sträuchern und bunten Blumen.
Es war traurig und anmutig zugleich.
»Wie schrecklich«, sagte Amane und hielt die Tränen zurück, während sie eine Gasse zu unserer Rechten hinunterging. Sie blieb vor drei Skeletten stehen, von denen eines kleiner war. »Das muss eine Familie gewesen sein. Sie
hatten nicht die geringste Chance.«
Ridan legte schnell einen Arm um ihre Schultern, um sie zu trösten. Sie stieß ihn nicht weg. Stattdessen zitterte sie und fiel in sich zusammen und weinte sich die Seele aus dem Leib. Er hielt sie fest, während sie ihr Gesicht an seiner Brust vergrub.
»TaʼZan ist dafür verantwortlich«, murmelte Kallisto und starrte die gleiche Familie an. »So viel Blut klebt an seinen Händen. Das ist unverzeihlich.«
»Das Traurige daran ist, dass die Draenir nicht darauf aus waren, den Planeten zu überbevölkern«, sagte Raphael, die Hände auf seinen Hüften ruhend. »Während meiner ersten Tage im Kolosseum schlich ich mich herum und las einige der Daten, die TaʼZan über die Draenir gespeichert hatte. Das trug schließlich zu meinem Wunsch bei, mich von ihm zu befreien. Meinen Informationen zufolge waren die meisten Draenir in den großen Städten ziemlich stark von der Bevölkerungskontrolle betroffen. Hier handelt es sich aber eher um eine ländliche Siedlung, eine mittelgroße Stadt. Ich sehe mehr als ein Kind, das hier gestorben ist.«
Varga räusperte sich. »Ich habe allein auf dieser Ebene schon zwanzig gezählt.«
Oben erstreckten sich die riesigen Bäume, die den größten Teil der offenen Fläche bedeckten und uns reichlich Schatten spendeten – genug für Varga und mich, um unsere Masken, Kapuzen und Schutzbrillen abzunehmen. Wir konnten nicht zulassen, dass der Gedanke an tote Draenir-Kinder uns aufhielt. So deprimierend es auch war, wir hatten eine Mission zu erfüllen.
»Okay, konzentrieren wir uns!«, sagte ich und lenkte damit die Aufmerksamkeit aller auf uns, auch die von Amane. Sie war gerade dabei, sich ihre Tränen abzuwischen. »Das hier war doch eine Stadt, nicht wahr?«
Raphael nickte. »Eine ziemlich fortgeschrittene noch dazu«, antwortete er und zeigte dann auf einen Turmbau, der auf der
Steilkante der Bergwand errichtet worden war. Er bestand aus Metall und wurde durch noch glühende Seriumkabel mit Strom versorgt, die aber auch mit Grün bedeckt waren. »Das zum Beispiel ist ein Kommunikationsturm.«
»Oh, ich wette, dass es auch irgendwo einen Stromgenerator gibt«, sagte Kallisto.
»Okay, lasst ihn uns finden!«, rief ich aus, begierig darauf, von den blumigen Skeletten wegzukommen.
Wir suchten zuerst die untere Ebene ab, wo die Draenir eine Reihe von Lagerhäusern errichtet hatten. In den meisten von ihnen befanden sich die verfaulten Überreste von Getreide. Moos und wilde Sträucher wuchsen in mit Erde gefüllten Abschnitten, in denen einst wahrscheinlich Gemüse angebaut wurde. Die Holzböden waren morsch und mit Löchern übersät. Hinter einer großen Metalltür jedoch, die mit einer Reihe verschiedener Symbole gekennzeichnet war, befand sich der Stromgenerator. Dmitri und Raphael fummelten eine Weile an den Schaltkreisen herum, bis sie eine Reihe von Schaltern fanden und umlegen konnten.
Der Generator erwachte zum Leben, brummte und hustete, als ob er durch unsere Einmischung unpässlich sei. Dennoch waren die Auswirkungen seiner Wiederbelebung sofort sichtbar. Um uns herum und in allen Häusern und öffentlichen Gebäuden gingen die Lichter an, während das System allmählich sein früheres Leben wieder aufnahm.
Glühbirnen funkelten zwischen den Ästen der Bäume. Einige platzten, aber viele blieben übrig, gaben einen warmen Schein ab und ließen die Blumen irgendwie lebendig aussehen.
»Nun, ich bin beeindruckt«, sagte Raphael. »Das ist Technologie der alten Schule, eine seriumbetriebene Stromversorgung, genug, um die ganze Stadt zu beliefern.«
Dmitri blickte auf die Wand zu seiner Linken, an der mehrere hohe Kanister aufgereiht waren. Dünne Rohre kamen heraus und bewegten sich entlang der Unterkante und
verschwanden in den gegenüberliegenden Wänden. Er berührte eines, dann zog er seine Hand mit einem Zischen schnell wieder zurück.
»Heiß!«, kreischte er.
»Und, was meinst du, ist das eine Zentralheizung?«, fragte ich, leicht amüsiert und ebenso beeindruckt.
Er nickte. »Sie hatten hier ein ziemlich anständiges Leben. Das Coole am Serium ist, soweit ich das beurteilen kann, dass es die Umwelt nicht verschmutzt – ganz im Gegensatz zu den fossilen Brennstoffen, die sie auf der Erde verbrauchen.«
Ich schaute nach unten und benutzte meinen Wahren Blick, um den Untergrund zu scannen. Ich konnte nicht viel erkennen, außer Streifen von blau schimmernden Kristallen. »Unter dem Berg befindet sich ein riesiges Seriumvorkommen. Unbegrenzte Energie für diese Leute.«
Wir kehrten zur ersten Ebene zurück, wo wir vorhin angekommen waren, und staunten über die Aussicht. Von hier aus hatten wir den perfekten Gesamtüberblick und sahen, wie die Draenir-Stadt, im Herzen eines Kalksteinberges, von einem Regenwald überwuchert wurde. Und oben in den Kronen der ältesten Bäume leuchteten Tausende von Glühbirnen – der absolute Traum eines jeden Reisefans. Die Lichter flackerten hier und da, viele spiegelten sich in dem Teich darunter.
»Das wird heute Abend wunderschön aussehen«, schwärmte ich.
»Vorausgesetzt, dass die Vollkommenen uns hier nicht finden, hätte ich nichts dagegen, einen Spaziergang zu machen, um die Stadt weiter zu erkunden«, sagte Nevis, hauptsächlich mir zugewandt.
Mein Herz sprang fast aus meinem Brustkorb. Ich holte tief Luft, um den kleinen pumpenden Dämon zu beruhigen, und lächelte dann kurz. »Ich hätte auch nichts dagegen.«
»Mensch, nehmt euch ein Zimmer, ihr zwei!«, stöhnte Varga.
Nevis warf ihm einen eisigen Blick zu. »Dir ist schon
bewusst, dass es in dieser Stadt Unmengen an Zimmer gibt, oder?«
Meine Lippen pressten sich in einer dünnen Linie zusammen und unterdrückten nur mit Mühe ein Lachen.
Doch Raphael hielt sich nicht zurück. »Meine Güte, Lenny, ich glaube, dein Bruder mag deinen Liebhaber nicht!«
Zu dieser Aussage gaben Varga und ich die gleiche Antwort.
»Er ist nicht ihr—«
»Er ist nicht mein—«
»Mag sein, dass Varga mich nicht leiden kann», schnitt Nevis uns beiden das Wort ab. Mein Gesicht und meine Ohren brannten zu diesem Zeitpunkt. »Aber wir können immer darüber reden.«
Ein peinliches Schweigen überkam uns. Kallisto, Ridan, Amane und Dmitri starrten uns an, ihre Augen sprangen fast wie Eiswürfel aus einer Silikonform hervor. Varga und Nevis blickten sich eine Weile an, während Raphael höchst erfreut dreinschaute, als würde er gerade eine skandalöse Reality-Show im Fernsehen anschauen.
Ich hingegen wäre vor Scham fast erstickt. Und ich hatte jetzt schon genug davon.
Ich legte meinen Arm um den von Nevis und zog ihn dann von der Gruppe weg und zur nächsten Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. »Wir nehmen die Westseite. Ihr überprüft den Rest!«, kündigte ich an.
Ohne auf eine Antwort zu warten und ohne über meine Schulter zu blicken, um den verwirrten Gesichtsausdruck meines Bruders zu sehen, führte ich Nevis die Treppe hinauf. Ein wahrer Adrenalinstoß durchfuhr mich. Ich bemerkte nicht einmal, wie nah mein Körper an seinem war, bis er mich am oberen Ende der Treppe anhielt, seine Arme um mich schlang und mich für einen Moment festhielt.
»Du scheinst es dir sehnlichst zu wünschen, dass dein
Bruder mich akzeptiert«, sagte Nevis. Seine Worte nahmen mir fast jegliche Luft aus den Lungen.
Ich atmete einmal tief aus. »Was genau sollte er eigentlich akzeptierten?«, fragte ich. »Und außerdem, woher willst du das wissen? Ich bin die Wächterin in dieser Beziehung, nicht du.«
»Was die erste Frage betrifft: meinen Platz in deinem Leben. Es ist offensichtlich, dass zwischen uns etwas läuft, ob du es zugeben willst oder nicht«, antwortete er. »Und als Randbemerkung zu deiner zweiten Frage: Du sprichst von einer Beziehung, also bin ich geneigt zu glauben, dass du es zugibst. Ich muss kein Wächter sein, um deine Körpersprache lesen und verstehen zu können, wie wichtig Familie für dich ist. Wenn ich lebende Verwandte hätte, würde ich auch wollen, dass sie dich in meinem Leben akzeptieren.«
Ich blinzelte mehrere Male und versuchte, seine komplizierte, aber verblüffend einfache Antwort zu verarbeiten. Er senkte den Kopf, seine Lippen waren nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Dann blickte er nach rechts und nach unten, wo, sehr zu meiner Verzweiflung, Varga immer noch stand und uns beobachtete, während die anderen sich zerstreut hatten, um den Rest der Stadt zu erkunden.
Nevis tat das mit Absicht. Es schien ihm Spaß zu machen, meinen Bruder zu ärgern.
»Du und er werdet entweder beste Freunde werden oder euch gegenseitig umbringen«, hauchte ich und schaute von Varga weg und zurück zu Nevis, dessen eisblaue Augen nicht aufhörten, mir köstliche kleine Schauer über den Rücken zu jagen.
Er lächelte und drückte dann seine Lippen gegen meine Stirn. Augenblicklich sank ich in ihn hinein und entspannte mich in seinen Armen. Aber es dauerte nicht lange. Er trat höflich zurück, nahm dann meine Hand und zog mich die enge Gasse
hinunter. Zu unserer Rechten befanden sich Häuser mit steingepflasterten Straßen. Zu unserer Linken lagen ein offenes Gebiet und darunter der Teich.
»Ich würde eine Freundschaft vorziehen», antwortete Nevis schließlich. »Ich würde es mir nicht verzeihen, dir Kummer zu bereiten, indem ich deinen Bruder töte.«
Ich kicherte und erkannte mich in diesem Geräusch fast nicht wieder. »Mir gefällt, wie du denkst. Mein Bruder wäre nicht in der Lage, dich zu töten. Er könnte es durchaus, weißt du? Varga ist einer der besten Kämpfer, die ich jemals gesehen habe, und ich sage das nicht, weil er zur Familie gehört. Ich habe ihn in Aktion gesehen, während des Trainings. Dieser Kerl ist definitiv in der Lage, einen dhaxanianischen Prinzen umzubringen.«
»Ich würde es mir auch nicht verzeihen, wenn dein Bruder dir Kummer bereiten würde, indem er mich tötet«, schoss Nevis zurück, wobei sein Mundwinkel zuckte.
»Du nimmst mich auf den Arm«, sagte ich.
»Es war einfach zu leicht«, antwortete er und drückte mir dann sanft die Hand.
Wir liefen eine Weile umher und begaben uns zur Nordseite, wo noch immer ein Rathaus stand, wenn auch mit Unkraut und Wildblumen bedeckt. Es war einfach unheimlich schön hier und ich konnte fast sehen, wie die Draenir hier einst gelebt hatten, wie sie in großen Messingkrügen Wasser aus dem Teich schöpften, Früchte von den Bäumen pflückten, die in ihren Gärten wuchsen, sich auf den öffentlichen Plätzen trafen, miteinander redeten und lachten ...
Ich hörte auf, mich weiter meiner Fantasie hinzugeben, als Gedanken an die Plage hochkamen und mir fast das schöne Bild ruiniert hätten. Ich zog es vor, mir die Draenir so vorzustellen, wie sie gewesen waren, und nicht wie die blumigen Skelette, zu denen sie geworden waren. Die Ironie der Schönheit des Todes entging mir dabei nicht. Ich war
einfach nicht bereit, mich damit auseinanderzusetzen, und entschied mich stattdessen, mich mit Nevisʼ Platz in meinem Leben, wie er es ausgedrückt hatte, zu beschäftigen.
»Was genau läuft denn zwischen uns?«, platzte es aus mir heraus. Mein Mund hatte einfach die Führung übernommen, ohne dass ich es hätte verhindern können.
Er antwortete nicht sofort und als er es tat, stellte er eine Gegenfrage. »Was möchtest du denn, Elonora?«
»Warum fragst du mich das?«, antwortete ich. »Ich habe dir eine einfache Frage gestellt. Ich würde gern wissen, wie deine Antwort dazu lautet.«
Er lächelte wieder. »Es ist komisch. Wenn es darum geht, Vollkommene zu bekämpfen, bist du so bösartig und unerbittlich, wie es nur irgendwie geht. Doch wenn es darum geht, deine Gefühle gegenüber jemandem zuzugeben, versteckst du dich hinter einer Mauer, als ob deine eigenen Gefühle dich lebendig auffressen könnten.«
»Ich habe eine Vorgeschichte, weißt du ... Warte, warte mal.« Ich blieb auf halbem Weg stehen, denn mein Gedankengang wurde durch einen seltsamen Anblick unterbrochen, ein Objekt, das weniger als zwanzig Meter von uns entfernt war.
Ich ließ seine Hand los, eilte vorwärts und erreichte einen kleinen Altar in der Mitte des Stadtplatzes. Er hatte die Form einer Pyramide, deren Spitze abgeschnitten und durch einen artesischen Brunnen ersetzt worden war. Beides bestand aus hellblauem Kristallglas.
»Ich glaube, das ist reiner Saphir«, sagte ich, streckte dann die Hand aus und berührte die Vorderseite. Sie fühlte sich kühl an meinen Fingerspitzen an, das Wasser tropfte aus dem Brunnen herunter und breitete sich wie ein Laken über alle vier Seiten aus. Darunter befanden sich, in das Kristallglas eingraviert, mehrere stilisierte Symbole. Eines davon erkannte ich teilweise wieder: drei Wellenlinien, eine über der anderen.
»Das kommt mir bekannt vor.«
»Ich glaube, das ist das Symbol für Wasser. Wir haben es schon einmal auf Strava gesehen. Zusammen mit den Symbolen der anderen drei Elemente war es auch in der Höhle, in der sich die Kapseln befunden hatten, in denen TaʼZan und die Fehlerhaften ihre Stasis verbracht haben. Aber ich glaube, es hat hier draußen eine andere Bedeutung«, sagte Nevis langsam und beugte sich vor, um einen besseren Blick zu erhaschen.
»Was meinst du damit?«, fragte ich, leicht verwirrt.
»Ich glaube, wir haben es hier mit einem Hermessi-Altar zu tun«, antwortete er.
»Moment mal, wie bist du denn zu dieser Schlussfolgerung gekommen?«
»Reine Logik. Diese Stadt ist mit natürlichem, sauberem Wasser gesegnet. In der Mitte des Stadtplatzes, ihrem feierlichsten Ort, steht ein Altar«, sagte er und zeigte dann auf die Steinplatten, die den Sockel der Pyramide umgaben. Zwischen den Steinplatten wuchsen Pflanzen. »Sie brachten Opfergaben hierher«, fügte er hinzu.
Er hatte recht. Und es waren nicht nur Nahrungsmittel, die sie dargebracht hatten. Im Schmutz verstreut lagen auch Juwelen, Haushaltsgegenstände und Schmuck. Alles war im Laufe der Zeit beschädigt worden. Ich erkannte einen kleinen Spiegel, ein paar Kämme, mehrere Ringe und ein mit Edelsteinen besetztes Armband. Diese Dinge waren nicht einfach zufällig dort abgelegt worden. Sie waren mit Bedacht und Sorgfalt hierhergebracht worden. In den Stein darunter waren weitere Symbole eingemeißelt worden. Das zeremonielle Ensemble war nicht zu übersehen.
»Die Draenir beteten die Hermessi an?« Ich versuchte, diese Erkenntnis zu verarbeiten.
»Das ist das Einzige, was Sinn macht. Die einzige Möglichkeit, die diesem Altar irgendeinen Sinn gibt«, erwiderte Nevis. »Ich bezweifle jedoch, dass sich dieser
Glaube in den größeren Städten verbreitet hat, sonst hätte Rakkhan davon gewusst. Vielleicht gab es ihn nur in den Kleinstädten wie dieser hier. Sollen wir ihn einfach mal fragen?«
Ich nickte und drückte dann einen Knopf an meinem Ohrhörer. »Rose, bist du da? Kannst du sprechen?«
Eine Sekunde später kam ihre Stimme durch. »Hey, Lenny. Ja, ich kann sprechen. Was ist denn los? Wo bist du?«
»Wir haben die Draenir-Stadt gefunden, über die wir geredet haben«, sagte ich. »Ich schicke dir später einen vollständigen Bericht, wenn wir mit der Erkundung fertig sind, aber für den Moment sind wir hier auf einen echten Juwel gestoßen. Anscheinend gibt es hier einen Hermessi-Altar, mitten auf dem Stadtplatz. Ich meine, wir glauben jedenfalls, dass es ein Hermessi-Altar ist. Es sieht aus wie ein Altar und ich glaube, wir haben das Draenir-Symbol für Wasser gefunden, das auf ihm eingraviert ist.«
»Oh, wow«, murmelte Rose. »Gibt es sonst noch etwas, das deine Vermutung bestätigt?«
»Bis jetzt nur die verfallenden Opfergaben, die zurückgelassen wurden«, antwortete ich. »Glaubst du, Rakkhan weiß etwas darüber?«
»Nein. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er weiß nichts von Tempeln oder irgendeiner Art von Hermessi-Anbetung«, antwortete Rose. »Es kam zur Sprache, als Kailani und ihr Team versuchten, sich mit den Hermessi in Verbindung zu setzen.«
Nevis sah mich einen Moment lang an und seine Lippen öffneten sich langsam. Er konnte nicht hören, was Rose sagte, da ich sie über unsere private Leitung kontaktiert hatte, aber er beobachtete, wie sich mein Gesichtsausdruck veränderte. In seinen Augen lag jedoch eine seltsame Intensität.
Die Zeit unterbrach ihren linearen Fluss und erlaubte uns, eine Weile so zu verweilen. Ich verlor mich in seinem Blick,
fragte mich, ob er mich noch einmal küssen würde, und hoffte, dass er es dieses Mal auf die Lippen tun würde. Ich war zu feige, ihn selbst zu küssen. Aber wie lange soll das noch so weitergehen, du kleiner Angsthase?
Ich vergaß sogar, dass ich Rose an der Strippe hatte. Sie hatte geredet, aber ich hatte kein einziges Wort gehört.
»Lenny, ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja, ja. Entschuldigung. Was hast du gesagt?«, murmelte ich. Hitze breitete sich über meine Wangen aus, als ich mich von dem dhaxanianischen Prinzen entfernte, aus Angst, ich würde in eine weitere Trance verfallen.
»Es lohnt sich, ihre Aufzeichnungen zu überprüfen. Vielleicht haben sie etwas dazu«, antwortete Rose.
»Okay. Ich gebe euch Bescheid. Danke«, sagte ich und beendete das Gespräch.
»Es gibt eine Möglichkeit, wie wir sicherstellen können, dass wir hier die richtigen Vermutungen anstellen«, sagte Nevis, sobald ich den zweiten kleinen Knopf an meinem Ohrhörer gedrückt hatte. »Wir sollten in ihren Archiven nachsehen. Sie müssen irgendwo Aufzeichnungen aufbewahrt haben.«
Ich lächelte. »Genau das meinte Rose auch.»
Bevor ich noch etwas anderes sagen konnte, ergriff Nevis meine Hand und führte uns zum Rathaus, einem dem römischen Pantheon ähnlichen Gebäude mit Blick auf das Objekt, von dem wir annahmen, dass es sich um einen Hermessi-Altar handelte.
Ich musste zugeben, dass die Kultur der Draenir faszinierend war, zumal wir sehr wenig über sie wussten. Aber herauszufinden, dass einige von ihnen an die Hermessi glaubten, hätte kein allzu großer Schock sein dürfen – die natürlichen Elemente waren hier auf Strava eindeutig mächtig. Irgendwo musste das ja herkommen.
Sonst hätten sie niemals mit Ben, Vesta oder Kailani
Kontakt aufnehmen können. Wenn die Aufzeichnungen einen Glauben an die Hermessi bestätigten, dann waren wir definitiv an etwas dran. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Draenir ihre Archive auf magisch-technischen Laufwerken aufbewahrten, standen die Chancen gut, dass wir auch einige Videos finden würden.
Ich drückte uns die Daumen.