Douma
A ls ich wieder zu mir kam, fand ich mich von einigen meiner Vollkommenen-Brüder und -Schwestern umgeben. Sie schienen besorgt zu sein, obwohl sie keinen Grund dazu hatten, da wir extrem schwer zu töten waren. Schließlich hatte sich Dmitris Crew nicht einmal die Mühe gemacht, mir den Kopf abzuschlagen. Meine Schusswunden waren bereits fast vollständig verheilt, obwohl mein Körper noch immer von oben bis unten schmerzte.
Ich knirschte mit den Zähnen und schaffte es, in eine sitzende Position zu kommen.
»Ganz ruhig, Schwester«, sagte Dyona und drückte mir sanft die Schulter. »Du hast ganz schön was abgekriegt.«
»Ich atme noch. Entspann dich«, antwortete ich trocken.
»Die Fremden haben dich verletzt, nicht wahr?«, murmelte Melyana, ihre zarten Brauen waren gerunzelt.
»Vielleicht ist ‚verletztʽ ein zu heftiger Ausdruck«, sagte Nadiel und grinste. »Unsere Douma ist knallhart. Ein paar Kugeln werden nicht ihr Ende bedeuten!«
»Immer schön draufhauen, Nadiel«, erwiderte ich. »Aber halt niemals still, wenn sie die Waffen auf dich richten. Der Zermalmer wird dich töten. Für immer.«
Das Lächeln verschwand aus Nadiels Gesicht, als er sich an die Zerstörungskraft der Fremden erinnerte. Ich streckte eine Hand aus. Er nahm sie und half mir auf. Meine Knie waren noch ziemlich wackelig, aber ich konnte aufstehen. Ich wusste nur zu gut, was diese Kugeln anrichten konnten. Das Schusstrauma hatte sich auf meinen ganzen Körper ausgewirkt, nicht nur auf die Eintrittsstellen.
»Geht es dir gut?«, fragte er mich.
Ich nickte. »Mir geht es gut. Geht zu den anderen. Setzt die Suche fort. Wir müssen sie finden, bevor sie entkommen«, sagte ich. »Das ist das zweite Mal, dass sie in das Kolosseum eingedrungen sind. Vater wird wütend sein.«
»Das ist er bereits«, antwortete Melyana besorgt. »Es heißt, sie hätten Amal entführt.«
Mein Blut stockte. »Dann hört auf, Zeit mit mir zu verschwenden! Geht da raus und macht eure Arbeit!«, schrie ich sie an.
Nadiel schüttelte bestürzt den Kopf und ging dann, begleitet von Melyana und Dyona.
»Schön, dass du wieder da bist, Schwester«, sagte er mit einem extrem sarkastischen Unterton.
Ich konnte nicht anders, als mit den Augen zu rollen. Als ich die Tür hinter ihnen schloss, konnte ich endlich einmal durchatmen. Alle hatten mich behandelt, als wäre ich beschädigte Ware oder so etwas. Als ob die Fremden mich traumatisiert hätten. Ich war lebendig und gesund und bereit, meinen Teil beizutragen. Ich mochte es nicht, mit Samthandschuhen angefasst zu werden.
Als ich meinen Schrank durchstöberte, entfuhr mir ein tiefer Seufzer. Alle meine Kleider sahen gleich aus. Dieselben dunkelblauen Seidentuniken mit silberner Stickerei an den Ärmeln und um den Kragen. Ich zog die aus, die ich trug, und schlüpfte in eine neue. Mein Äußeres musste zu jeder Zeit meinem genetischen Design entsprechen – von Kopf bis Fuß vollkommen.
Ich verließ mein Zimmer und ging direkt in den verbotenen Bereich, wo sich die genetischen Labore befanden. Die meisten meiner Geschwister waren damit beschäftigt, durch die Gänge zu streifen und jeden Raum und Gemeinschaftsbereich zu durchsuchen, wobei sie ihre Nasen und die Thermoscanner benutzten, um Dmitri und die anderen zu finden. Tief im Inneren wusste ich, dass sie längst entkommen waren. Sie waren nicht dumm. Sie wussten, wann es zu brenzlig wurde und Zeit war, zu gehen. Sonst hätten sie sich mehr Mühe gegeben, mich mitzunehmen.
Sie hatten es nicht geschafft, aber trotzdem kannte ich sie gut genug, um genau zu wissen, wie unerbittlich und einfallsreich sie waren. Ich hatte viel von Dmitri gelernt und ich war bereit, es bei meinem nächsten Vorhaben anzuwenden.
Ich bewegte mich mit einer guten Portion Selbstvertrauen und hielt meinen Kopf hoch, als ich den Laborbereich betrat. Ich gab einen Code in das erste Zugangsfeld ein. Die Glastüren öffneten sich vor mir und ich ging weiter hinein, vorbei an den Genlaboren und den Probenlagerräumen. Es waren viele Fehlerhafte-Genetiker hier, aber keiner von ihnen schien mich zu bemerken.
Einige waren zu sehr damit beschäftigt, sich um die künstlichen Gebärmütter zu kümmern. Zu meiner Rechten waren die Empfängnissäle mit bald geborenen Vollkommenen gefüllt, von denen jeder sorgfältig von den Fehlerhaften überwacht wurde. Ihre Vitalwerte piepten grün auf den Bildschirmen an der Wand. Nährstoffe wurden in die Gebärmütter injiziert, die sich im Fruchtwasser auflösten, bevor sie durch die Haut aufgenommen wurden. Nach zwei Stunden würde diese spezielle Einheit weitere zehn Dutzend Brüder und Schwestern hervorbringen.
Jedes Kolosseum produzierte täglich etwa sechshundert von ihnen, da sich auf jedem Stockwerk jeder Diamantstruktur Konzeptionslabore befanden. Unsere Armee wuchs in einem alarmierend schnellen Tempo.
Aber damit konnte ich mich jetzt nicht beschäftigen.
Ich gab einen anderen Zugangscode ein und begab mich dann durch die Doppeltüren, die zum Wintergarten für lebende Exemplare führten. Hier lebten nur vier Lebewesen, die paarweise isoliert in Glaskästen untergebracht waren. Den Code hatte ich gestohlen, denn zu diesem Teil des Kolosseums hatte ich eigentlich keinen Zugang. Aber ich musste mit diesen ... Wesen sprechen.
Als ich mich umsah, vergewisserte ich mich, dass mich niemand sah, bevor ich an den Bedienelementen für das Licht und die Diamantwände herumfummelte und die gesamte Kammer beäugte. Von außen konnte mich niemand sehen – TaʼZan besuchte diesen Bereich des Kolosseums sehr oft, sodass keiner der Fehlerhaften Verdacht schöpfte, wenn nur verdunkelte Wände zu sehen waren.
Hier lebten vier Draenir. Zwei Paare. Sie waren schon lange vor der Stasis Gefangene gewesen. Sie waren mit TaʼZan und den Fehlerhaften in der Höhle aufgewacht. Und sie waren in diesen Glaskästen gelandet. Ihre DNA war die Essenz unserer Schöpfung. Wir alle waren tief im Inneren Draenir. Ich hatte von TaʼZan von ihnen erfahren. Ich war eine der wenigen, denen er Einzelheiten darüber preisgegeben hatte, wer diese Geschöpfe waren und was sie vorher gewesen waren. Jetzt erinnerte ich mich.
Kerleise und Ivran Carmaris hatten einst einer kulturellen Vereinigung vorgestanden, die für die Organisation von Theater- und Musikveranstaltungen in allen größeren Draenir-Städten zuständig war. Sie waren einst reich und von allen geliebt gewesen, bewundert wegen ihrer Förderung der darstellenden Künste.
Silene und Kellan Phiseiros hatten die Jagd nach TaʼZan angeführt, nachdem die ersten Draenir-Frauen tot im Fluss vor Mygos, der damaligen Hauptstadt dieser Zivilisation, aufgetaucht waren. Doch alle vier waren nur noch Schatten ihrer selbst, in Glaskästen verkümmert, mit grünen Büscheln, die ihre nackten Füße kitzelten. Ihnen ging es, gelinde gesagt, miserabel. Das konnte ich an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, als sie alle ihren Kopf nach mir umdrehten, um mich anzusehen.
»Hallo«, sagte ich mit gedämpfter Stimme. »Wir sollten reden.«
Einige Sekunden verstrichen schweigend, bis sie merkten, dass ich kein gewöhnlicher Besucher war. Um ehrlich zu sein, hatten nur Amane, Amal und TaʼZan die Erlaubnis, hier hereinzukommen. Ich hatte große Mühen auf mich genommen, um an den Zugangscode zu kommen.
»Du darfst gar nicht hier sein«, murmelte Silene.
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich, hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme.
»Oh, wir wissen es einfach. Wir sind schon lange genug hier, um zu verstehen, wer uns sehen darf und wer nicht«, sagte Kellan. »Du bist nicht TaʼZan. Du bist nicht Amal. Und du bist nicht Amane, obwohl wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Deshalb darfst du hier nicht rein.«
»Und warum stört dich das?«, fragte ich.
Ivran zuckte die Achseln. Er hatte nicht die Kraft, irgendetwas zu tun, aber das bedeutete nicht, dass er bereit war, mit jemandem zu sprechen – besonders nicht mit mir, einer Vollkommenen, einer der vielen Gründe, warum sie immer noch hier waren und vor sich hin vegetierten.
»Wir haben nicht gesagt, dass es uns stört. Aber, trotzdem, was machst du hier?«, fragte er.
»Moment mal. Du bist eine seiner neueren Kreationen, nicht wahr?«, fragte Kerleise nach.
Ich nickte kurz. »Seit wann fungiert ihr schon als seine Genbank? Seit zweihundert Jahren?«
»Mehr oder weniger«, sagte Kellan und zuckte die Achseln.
»Wie ich schon sagte, wir müssen reden«, murmelte ich und trat dann vor.
Sie wichen alle zurück, fast instinktiv, als ob sie Angst vor mir hätten. Sie waren blass, fast leblos, ihre Muskeln waren schwach und ihre Gliedmaßen zitterten. Sie konnten kaum noch stehen. Alles, was sie bekamen, war Nahrung, Wasser, Medikamente und gelegentlich eine Art Muskelstimulation durch gepolsterte Drähte. Nach ihren fast weißen Augen zu urteilen, hatten sie seit fast zwei Jahrhunderten kein Tageslicht mehr erblickt. Es war ein Wunder, dass sie mich überhaupt noch sehen konnten.
»Worüber möchtest du denn mit uns reden?«, wollte Ivran wissen.
»Über TaʼZan. Ihr kanntet ihn schon vor den Fehlerhaften. Ihr könnt mir alles sagen, was ich wissen muss, um ihn zu Fall zu bringen, für immer«, sagte ich zähneknirschend.
Die Draenir waren verwirrt. Und das aus gutem Grund. TaʼZans Geschöpfe waren ihm blindlings treu ergeben. Sie konnten sich daher beim besten Willen nicht vorstellen, was ich im Schilde führte.
»Wie kommst du darauf, dass wir das wissen?«, fragte Kellan.
»Und warum sollten wir es dir sagen? Ist das ein Trick? Versucht er, sich mit uns anzulegen?«, fügte Silene hinzu und schürzte die Lippen.
Ich schüttelte den Kopf und machte dann einen weiteren Schritt auf sie zu. Ein Abstand von wenigen Zentimetern blieb zwischen uns bestehen, zusammen mit einer undurchdringlichen Glasscheibe. Ich konnte nichts für diese Kreaturen tun, aber ich konnte dafür sorgen, dass sie später eine Chance auf Freiheit hätten.
»Lasst mich euch eine kurze Geschichte erzählen«, sagte ich. »Vor nicht allzu langer Zeit kam ich aus einer künstlichen Gebärmutter. Mein Vater nahm mich unter seine Fittiche und brachte mir alles bei, was ich heute weiß. Ich war überlegen und niemand, der mir unterlegen ist, sollte länger leben, es sei denn in demütiger Knechtschaft. Und selbst dann bräuchte es nicht viele. Wir waren die ranghöchsten Wesen, diejenigen, die das Universum von allem Minderwertigen säubern und die Natur selbst neu definieren würden.«
Ich atmete einmal kräftig aus, lehnte mich gegen das Glas und hielt meinen Blick auf Kerleise gerichtet. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor, als hätte ich sie schon einmal gesehen, irgendwo anders. Vielleicht in einem Spiegel. Wir hatten einige Gemeinsamkeiten – die Form unserer Augen, die Länge unserer Nasen, die Wangenknochen.
»Eine Zeit lang kämpfte ich für meinen Vater. Ich jagte die Fremden für ihn. Ich hielt seine Gesetze und Vorschriften ein. Dann erwischten mich die Fremden durch eine Laune des Schicksals. Ich war gezwungen, mit ihnen zu gehen und mich im Dschungel, in Höhlen und in Unterwasserblasen zu verstecken«, fügte ich hinzu. »Aber während dieser ganzen Zeit blieb ich meinem Vater treu. Ich wusste, dass er sie früher oder später schnappen würde und ich meinen Platz an seiner Seite wieder einnehmen würde.«
Die Draenir waren offensichtlich interessiert, denn ihre Augen glänzten vor Neugierde. Ich hatte ihre volle Aufmerksamkeit, wodurch der zweite Teil meiner Geschichte leichter zu erzählen war. Nicht nur, weil es sich um die Wahrheit handelte, sondern auch, weil sie mich definierte.
»Irgendwann verlor ich buchstäblich meinen Kopf«, fuhr ich fort. »Ich bin mir sicher, ihr wisst inzwischen alle, wie widerstandsfähig wir Vollkommenen sind.«
Sie nickten zustimmend.
»Als ich wieder aufwachte, waren alle meine Erinnerungen verschwunden«, sagte ich. »Ich fing ganz von vorn an, ohne zu wissen, wer ich war oder warum ich mit diesen seltsamen Leuten zusammen war. Sie nahmen sich Zeit, mir alles beizubringen, was sie wussten, auch alles, was sie über meinen Schöpfer und meine Vollkommenen-Geschwister wussten. Sie beantworteten alle meine Fragen und verheimlichten nichts. Sie gaben mir die Freiheit, meinen Weg zu wählen, mein eigenes Leben zu gestalten und mir Gehör zu verschaffen. Es versteht sich von selbst, dass ich zunächst einmal begriff, wie falsch mein Schöpfer liegt. Meine Existenz muss nicht automatisch die Existenz anderer ausschließen. Das sollte sie niemals. Wie auch immer, ich schweife vom Thema ab. Lange Rede, kurzer Sinn, ich schloss mich den Fremden in ihrem Kampf gegen meinen Schöpfer an. Und es fühlte sich richtig an. Es fühlte sich besser an als all die Male, in denen ich im Namen meines Schöpfers gehandelt hatte.«
Eine Minute verging, während sie die Informationen verarbeiteten und dann eine erwartete Frage auftauchte.
»Also, was machst du dann jetzt hier?«, fragte Kellan. »Bist du doch wieder auf TaʼZans Seite?«
»Ich wurde gefangen genommen und hierher zurückgebracht. Amal wurde befohlen, mein Gedächtnis zu löschen und mir mein altes Wissen und einen neuen Speicherchip zu implantieren. Ich musste kontrolliert werden. Meine Ansichten mussten auf die Pläne meines Schöpfers zugeschnitten werden. Aber Amal überraschte mich. Sie ließ meine Erinnerungen mit den Fremden unberührt. Sie implantierte den Speicherchip, mit allem, was ich zuvor getan hatte, und stellte mich vor die Wahl, die alte Douma, die neue Douma ... oder eine ganz und gar bessere Douma zu sein. Und hier bin ich nun, die Letztere.«
Kerleise runzelte die Stirn. »Und was für eine Douma ist die Letztere genau?«
Das brachte mich zum Lächeln. »Die Art von Douma, die nicht offen Krieg gegen ihren Schöpfer führt, aber trotzdem dafür sorgt, dass er in Flammen untergehen wird. Er hat zu viel Kontrolle über mein Volk. Er hat uns angelogen. Er hat uns manipuliert. Das Blut von Millionen klebt bereits an seinen Händen und er ist wild entschlossen, noch mehr Blut zu vergießen. Das kann ich nicht zulassen«, sagte ich.
Ich streckte meinen Rücken und stemmte meine Hände in die Hüften, wodurch ich eine äußerst sichere Haltung einnahm. Die Draenir waren in dieser Sache ganz auf meiner Seite. »Ich musste alle anlügen und mich verstellen. Ich habe meine Freunde verletzt, ich habe sie weggestoßen, nur um sicherzugehen, dass sie beim Versuch, mich zu retten, nicht erwischt wurden. Sie können mir bei dem, was als Nächstes kommt, nicht helfen. Ich habe mir meinen Platz in TaʼZans Vertrauenskreis gesichert. Das ist meine einzige Chance, ihn als den Betrüger zu entlarven, der er wirklich ist, und mein Volk ohne unnötiges Blutvergießen gegen ihn aufzubringen. Und ihr, meine vier dürren Freunde, werdet mir dabei helfen.«
Ihre Körper schienen sich auf einmal mit Leben zu füllen. Ihre Gesichter leuchteten auf, während sie mich anstarrten. Das war es. Das war meine Chance, etwas Unglaubliches zu tun. Dmitris Großeltern und Brüder zu retten. Elonoras Familie zu retten. All diese Leute, die es nicht verdient hatten, den Rest ihres Lebens in Elend und Verzweiflung zu verbringen. All die Welten, die Freiheit und das Recht auf Glück verdienten.
Das war meine Chance, auch mein Volk vor dem Verderben zu retten. Die Vollkommenen könnten viel besser sein. Sie könnten Großes vollbringen, wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gab. Sie hatten es nicht verdient, so belogen und ausgebeutet und als gehirngewaschene Tötungsmaschinen benutzt zu werden. Nein, sie und wir alle hatten etwas Besseres verdient.