Sofia
V iele Stunden vergingen in beunruhigender Stille.
Mein Vampirgehör war gut, aber nicht gut genug, um mir ein klares Bild davon zu verschaffen, was da draußen vor sich ging. Ich hatte die eiligen Schritte und die gedämpften Stimmen gehört. Im ganzen Kolosseum herrschte eine deutliche Aufregung, aber ohne dass mir jemand sagte, was wirklich los war, saß ich im Dunkeln. Aber ich freute mich auf den nächsten Besuch von Isda.
Glücklicherweise kam sie gegen Sonnenaufgang wieder vorbei, als das Licht durch die Diamantstruktur brach und in Millionen von farbigen, unberührbaren Flocken schimmerte. Sie gab mir eine Flasche mit frischem Blut durch die selbstschließende Öffnung in meinem Glaskasten.
»Was geht da draußen vor sich?«, fragte ich sie.
»TaʼZans bisher größtes Problem«, antwortete Isda. Ihre Augen waren weit aufgerissen, während sie ein Grinsen unterdrückte. »Eure Leute haben sich wieder ins Kolosseum geschlichen und Amal entführt. Es heißt, sie hätten auch versucht, Douma zu holen, und dass sie im Tierreservat waren, aber wir wissen nicht genau, was sie da wollten.«
Ich konnte nicht anders als zu lächeln und mein Herz machte vor Stolz und Aufregung einen Sprung. Unsere junge Generation war so wütend und unerbittlich, wie ich es erwartet hatte. TaʼZan hatte mit Sicherheit keine Ahnung, wie er mit uns fertig werden sollte. Nicht jetzt, da wir alle so unglaublich entschlossen waren, ihn endlich zu besiegen.
»Jetzt ist er ganz allein, was?«, murmelte ich.
Isda nickte. »Er ist überhaupt nicht glücklich. Ich sehe es als einen Sieg für eure Leute, aber ich fürchte auch schreckliche Konsequenzen. Je mehr man ihn ärgert und provoziert, desto bösartiger wird er.«
»Ich nehme an, er ist es nicht gewohnt, dass sein Urteil und seine Befehle infrage gestellt werden«, sagte ich.
»Ganz gewiss nicht. Wir alle haben uns ihm unterworfen oder sind sogar für ihn gestorben, aber niemals hätten wir es gewagt, uns gegen ihn zu erheben«, antwortete Isda. »Die Draenir zahlten einen hohen Preis, als sie damals seine Doktrin und Herrschaft ablehnten.«
»Es ist an der Zeit, dass er lernt, wie die wirkliche Welt funktioniert«, sagte ich. »Er ist vielleicht früher mit diesem Mist davongekommen, aber jetzt nicht mehr, Isda. Jetzt sind wir dran.«
Zu dieser Aussage stand ich nachdrücklich. TaʼZan hatte genug Schaden angerichtet.
Meine Familie gehörte zusammen und er hatte uns auseinandergebracht. Er hatte offensichtlich Gefallen an unserem Elend gefunden und es war an der Zeit, dass er dasselbe, wenn nicht sogar noch Schlimmeres, erlebte. Rose und Ben hatten diesmal eine ganze Operation geleitet, wenn es ihnen gelungen war, Amal zu entführen. Sie war diejenige, die TaʼZans Flugpläne kannte. Sie war im Besitz wichtiger Informationen, die gegen ihn verwendet werden konnten. Darüber hinaus war sie eines der wertvollsten Elemente in TaʼZans Leben. Das allein war schon ein unglaublicher Schlag gegen ihn.
»Sie sind also alle lebend entkommen?«, fragte ich. »Die Fremden?«
»Ja. Es gibt keine Nachricht von den Einheiten, die losgeschickt wurden, um sie zu finden. Wenn es keine sofortige Antwort von den Vollkommenen gibt, bedeutet es nach dem, was ich bisher mitbekommen habe, dass eure Leute erfolgreich entkommen sind«, antwortete Isda lächelnd.
»Was ist mit Derek?«, fragte ich. »Meinem Vater, unseren Leuten?«
»Es geht ihnen gut. Sie werden regelmäßig gefüttert, sie machen keinen Ärger und sie stehen mit den anderen draußen in Kontakt«, sagte Isda. »Ich habe sogar Neuigkeiten für dich.«
Sie erzählte mir alles, was sie von Derek gehört hatte, von Roses Erfolg bei der Suche nach einem neuen Basislager und ihrer seltsamen Begegnung mit den Pashmiri-Walen, über Bens Abenteuer mit den Hermessi und Elonoras Flucht aus dem Kolosseum bis hin zu der Bitte der Hermessi um genau eintausendundeinen Elfen.
»Eintausendundeinen Elfen«, murmelte ich. »Komische Zahl, wenn du mich fragst.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, antwortete Isda. »Die Hermessi sind die eine Sache, von der ich nichts weiß. Nach dem, was Derek mir erzählt hat, hielten die Draenir ihren Glauben an sie geheim. Elonoras Team fand eine kleine Stadt an der Nordseite unseres Archipels mit einem Hermessi-Schrein. Anscheinend war der Glaube außerhalb der Städte sehr präsent. Es funktionierte nur nicht mit der Magi-Tech, sondern war eher so etwas wie eine Lehre.«
»Das überrascht mich nicht. Alle Geschöpfe neigen dazu, sich vor dem zu fürchten, was sie nicht verstehen, und es gibt nichts Mysteriöseres oder Besorgniserregenderes als die Hermessi, gerade jetzt. Zugegeben, TaʼZan ist die größte Bedrohung, aber die Hermessi gegen ihn einzusetzen, ist, als hätten wir eine potenziell verheerende Atombombe in der Hand.«
»Was ist eine Atombombe?«, fragte Isda mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ah, das habe ich ganz vergessen. Eure Leute haben nichts mit Kernspaltung am Hut«, sagte ich und bereitete mich mental darauf vor, Isda von den nuklearen Entwicklungen der Menschen zu erzählen, wobei sowohl Fortschritte als auch Katastrophen zur Sprache kommen mussten. Es war eine bittersüße Anekdote, aber wenn jemand von der Überheblichkeit der Menschen lernen konnte, dann war es Isda. Sie hatte genug von TaʼZan gesehen und gehört, um die Moral der Geschichte zu verstehen.
Doch dann schoben sich auf einmal mit einem Zischen die Türen auf und TaʼZan kam herein und bereitete unserem Treffen ein jähes Ende. Ich nickte Isda schnell und unauffällig zu und ging dann auf die andere Seite zurück, damit ich etwas mehr Abstand zwischen mich und das Monster bringen konnte.
TaʼZan erreichte meinen Glaskasten und forderte Isda auf, herauszukommen, wobei sein Blick auf mich gerichtet blieb. Das ließ mein Blut gerinnen. In diesen Augen verbarg sich so viel Wut, dass mir fast der Atem wegblieb. Mir tat der Bauch weh und ich zitterte, wenn auch nur ganz leicht. Ich kannte diesen Blick.
Das abartige Funkeln war mir vertraut. Er hatte genauso ausgesehen, bevor er mich von Derek wegholte. Tief im Inneren wusste ich, dass TaʼZan gekommen war, um sich erneut zu rächen. Alles, was Ben und Rose gegen ihn unternommen hatten, schien zu Strafen gegen mich, meinen Mann und die anderen Gefangenen zu führen.
Aber ich hielt meinen Kopf hoch und gab mich ihm gegenüber unbeeindruckt.
Solange wir ihn besiegten, war es egal, was aus uns wurde.