»
I
hr versteht nicht«, raunte Amal, ein Ausdruck des Entsetzens prägte ihr Gesicht. »Ihr ... Ihr Idioten!«
»Was zum Teufel redet sie da?«, fragte Raphael und rollte mit den Augen.
Araquiel beobachtete sie schweigend, die Stirn gerunzelt und die Arme verschränkt. Seiner Aura nach zu urteilen ahnte er etwas.
»Sie hatte einen eigenen Plan«, sagte Araquiel ruhig.
Wir waren jetzt alle um Amal und Amane versammelt. Einige unserer Leute konnten die Augen nicht von ihnen abwenden. Sie waren so identisch, dass es schon fast gruselig war. Eigentlich gab es bei Zwillingen, insbesondere bei Zwillingen desselben Geschlechts, immer kleine Unterschiede. Ein Muttermal hier, ein etwas schrägeres Auge dort oder ein leichter Unterschied in der Haarfarbe – winzige Details, die man feststellen konnte.
Aber bei Amal und Amane gab es nichts dergleichen. Es war, als wären sie Klone und keine biologischen Zwillinge. Mich persönlich faszinierte das. Ridan hingegen machte diese Tatsache eher etwas nervös. Er hatte bereits Gefühle für Amane entwickelt und auch Amal war ihm nicht gleichgültig. Sie war genauso schön und sein Körper reagierte
entsprechend.
Amane schaute ihre Schwester an. »Deine Zeit der Knechtschaft unter TaʼZan ist vorbei, Schwester. Sieh es ein, bevor es zu spät ist.«
»Ach, hör doch auf, von allen bist du die größte Idiotin«, murmelte Amal und schaute dann böse auf ihre Handschellen und Fesseln. »Sobald du von meiner Seite gewichen bist, war dein Gehirn auf zehn Prozent seiner Kapazität reduziert.«
»Eher auf fünfundzwanzig Prozent, aber bitte, fahr fort. Ich bin mir sicher, du bist noch nicht fertig damit, mich zu beleidigen«, antwortete Amane sarkastisch.
»Du warst mir bisher der größte Dorn im Auge.« Amal seufzte, und ließ ihre Schultern hängen.
Amanes Augen wurden groß. Sie warf einen kurzen Blick auf Araquiel, dann wieder auf ihre Schwester.
»Du meinst ...«
»Ja, ich hatte einen Plan!«, unterbrach Amal sie und erhob ihre Stimme. »Meine ‚Knechtschaft unter TaʼZanʽ war in dem Moment vorbei, als die ersten Vollkommenen geschaffen waren! Ich wusste, worauf er damit hinauswollte! Ich kannte die Auswirkungen, genau wie du! Aber im Gegensatz zu dir hatte ich verstanden, dass ich, wenn ich von seiner Seite weichen würde, ihn niemals aufhalten könnte.«
»Und du hast nicht daran gedacht, mir davon zu erzählen?«, rief Amane. Ihre Aura flimmerte rot vor Wut.
»Du bist doch einfach gegangen! Du wolltest meine Meinung gar nicht hören! Ich habe versucht, mit dir darüber zu reden, aber du warst zu sehr damit beschäftigt, wütend zu sein und nach einem Ausweg zu suchen. Ehe ich mich versah, warst du weg!«, antwortete Amal mit zitternder Stimme. »Du hast mich zurückgelassen.«
Amane beruhigte sich und war plötzlich erstaunt über die Klarheit ihrer Schwester. Schuldgefühle begannen sich in ihr Gewissen zu schleichen. Ich konnte sie nahezu spüren.
»Du schienst so loyal. Du hast immer alles getan, was er von dir verlangte. Du ... Du bist für einen Großteil dieses Albtraums verantwortlich.« Amane seufzte. »Wie hätte ich das wissen sollen?«
»Du hättest mit mir reden sollen«, sagte Amal. »Von dem Moment an, als ich erkannte, wie er die Vollkommenen erzog, wusste ich, dass wir nicht viel tun konnten. TaʼZan muss erst ein wenig aufsteigen. Die Vollkommenen müssen sich gegen ihn wenden. Und ich bräuchte nur einen Moment allein mit ihm, ohne seine Deckung, damit ich ihn töten kann. Er wird sehr gut beschützt, Amane. Man kann nicht einfach auf ihn zulaufen und ihm die Kehle aufschlitzen. So funktioniert das nicht.«
»Verdammt. Du hättest mir wenigstens eine Nachricht oder so etwas zukommen lassen können«, antwortete Amane.
Amal zuckte die Achseln. »Ich dachte, du wärst für immer weg. Ein Feigling. Ich war kurz davor, mich mit einem Schicksal abzufinden, das ich nicht wollte, bis die Nachricht kam, dass du dich den Fremden angeschlossen hattest. Da wusste ich, dass ich immer noch etwas bewirken konnte, aber ich konnte nicht riskieren, dass TaʼZan mich wegen irgendetwas verdächtigte«, erklärte sie. »Er war deinetwegen schon sehr nervös. Er hatte ein Auge auf mich geworfen. Ich musste loyal sein. Ich durfte ihn nicht glauben lassen, dass ich nicht auf seiner Seite war. Wenn Derek und seine Crew es in dieser Nacht geschafft hätten, zu entkommen, wäre ich als Erste in der Zermalmer-Kammer gelandet.«
»Die Fehlerhaften sind deshalb gestorben«, sagte ich. »Unschuldige Kreaturen.«
»Ja. Und ihr Blut klebt an meinen Händen. Aber das Leben einiger weniger zu opfern ist es wert, wenn ich dafür die ganze Welt retten kann«, antwortete Amal. »Ich weiß, viele von euch werden das nicht verstehen, aber ich stehe zu dem, was ich getan habe, und ich bereue meine Methoden nicht. Ich werde deswegen niemals gut schlafen, aber das wird keine Rolle
spielen, solange wir alle überleben.«
Einige Zeit sagte niemand etwas, während alle auf Amal und Amane starrten. Die meisten von uns waren neugierig oder besorgt, aber andere schienen optimistisch, als ob die Wiedervereinigung der Fehlerhaften-Schwestern das letzte und wertvollste Stück des Puzzles war. Ich brauchte wohl nicht zu sagen, dass ich dem zustimmte. Wenn jemand einen Weg finden konnte, die Vollkommenen aufzuhalten, dann waren es die Zwillinge. Sie hatten schließlich die genetischen Baupläne entworfen, um sie überhaupt zu erschaffen. Sie kannten sie am besten.
»Was geschehen ist, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden«, sagte Ben, als er in der Nähe von Rose stand. »Wir müssen jetzt nach vorn schauen. Und wir haben ziemlich viel vor uns.«
Rose nickte. »Wir haben die Hermessi, die bereit sind zu helfen, aber wir müssen mehr Elfen nach Strava bringen. Eine exakte Anzahl, um genau zu sein. Jetzt haben wir dich und Amane zusammen«, sagte sie zu Amal. »Ihr beide könnt an einem Massenspeicher-Löscher arbeiten, den wir gegen die Vollkommenen einsetzen können.«
Amal hob Amane gegenüber eine Augenbraue. »Hast du mich deshalb entführt?«
»Mm-hm. Mein Gehirn ist mit dir an meiner Seite einfach leistungsfähiger und ich konnte im Kolosseum nicht gerade unsichtbar bleiben, um mit der Denkkapazität zu arbeiten, die ich brauche, um eine solche Technologie zu entwickeln«, antwortete Amane.
»Du bist unverbesserlich«, sagte Amal und schüttelte den Kopf. »Aber wir können auf jeden Fall unsere Köpfe zusammenstecken und etwas unternehmen«, sagte Amane. »Ich muss allerdings wieder ins Kolosseum zurück. Die meisten Sachen, die wir brauchen, befinden sich dort.«
Taeral stöhnte genervt und zwickte sich in den
Nasenrücken. »Meine Güte, ihr Leute liebt es echt, euch gefangen nehmen oder töten zu lassen!«
»Wenn du zu ängstlich bist, kannst du ja hierbleiben«, entgegnete Heron grinsend. Die Wachen kicherten hinter ihm. Das ließ Taeral erröten.
»Du kannst mir Gesellschaft leisten, da du es dir hier offensichtlich schon bequem gemacht hast«, erwiderte Taeral.
Ich hob meine Hände in die Luft und forderte die Aufmerksamkeit aller. »Wir müssen uns richtig organisieren«, sagte ich und schaute Herakles an. »Kannst du uns noch mehr abtrünnige Fehlerhafte besorgen?«
Herakles lächelte. »Ich habe bereits eine Nachricht verschickt. Bis morgen früh müssten schon einige hier sein«, antwortete er. »Was ist mit euren Elfen?«
»Wir werden mit unseren Leuten auf Calliope sprechen. Sie werden einige Elfen-Soldaten zusammentrommeln und sie rüberschicken. Aber wir müssen eine intelligente Lösung finden, sie nach Strava zu bringen, ohne dass Vollkommene sie abfangen können«, sagte Rose.
»Ein Ablenkungsmanöver«, fügte Kallisto hinzu. »Wir müssen etwas tun, das laut und auffällig genug ist, um sie so weit wie möglich vom atmosphärischen Eintrittspunkt wegzulocken.«
»Wir könnten die Elfen auf die Winter-Sommer-Region zusteuern lassen, genau wie die Crew von Draven und Serena«, schlug Ben vor. »Nach dem, was ich auf den Karten gesehen habe, ist das Gebiet noch nicht besiedelt.«
»Das ist alles schön und gut, aber nachdem wir angekommen sind und die Draenir und die Zermalmer-Waffen entdeckt haben, kannst du dir sicher sein, dass TaʼZan wegen der neuen Eindringlinge alle in höchster Alarmbereitschaft versetzen wird«, antwortete Draven.
Genau in diesem Moment erklang Harpers Stimme in meinem Ohrhörer. »Hey, Leute! Können mich alle hören?
Lenny? Rose? Ben?«
Roses Gesicht leuchtete auf. »Harper, Schatz!«, rief sie aus. »Ich wollte mich auch gerade melden!«
»Wir haben die vier Vollkommenen, die wir von Strava mitgebracht haben, zurückgesetzt«, antwortete Harper. »Wir schicken sie zurück nach Strava, um euch zu helfen. Sie haben alle Informationen, die sie brauchen, um als Doppelagenten zu agieren.«
»Wir brauchen auch siebenhunderteinundvierzig Elfen«, ergänzte ich.
Natürlich folgte daraufhin erst einmal eine Pause.
»Wie bitte?«, fragte Harper.
Nachdem Rose und Ben sie über die seltsame Bitte der Hermessi aufgeklärt hatten, hatte Harper eine bessere Vorstellung davon, womit wir es zu tun hatten. Sie willigte ein, mit Sherus und Nuriya darüber zu sprechen. Wir erwarteten keinen Widerstand von ihrer Seite. Das war unsere einzige Chance, etwas zu unternehmen, um TaʼZan ein für alle Mal davon abzuhalten, in unsere Welten einzudringen.
»Was könnt ihr uns über die vier Vollkommenen sagen, die ihr herschicken wollt?«, fragte Varga durch seinen Ohrstöpsel.
»Sie wollen uns helfen. Wir haben mit ihnen gesprochen und ihnen alles beigebracht, was wir wissen. Wie Douma und Araquiel wollen sie nicht in den Krieg ziehen und Milliarden unschuldiger Kreaturen töten«, erklärte Harper. »Sie werden alles tun, was nötig ist, um TaʼZan aufzuhalten.«
»Dann bleibe nur noch ich als Anomalie übrig«, murmelte Raphael. »Es fiel mir nicht sonderlich schwer, selbst zu erkennen, wie falsch TaʼZan liegt.«
»Dein Wille und dein Charakter sind durchaus etwas anders«, erklärte Amal lächelnd. »Daran bin ich wohl nicht ganz unschuldig.«
Raphael runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Nun ja, vielleicht habe ich deine Lernmaterialien ein wenig
angepasst. Vielleicht habe ich auch ein spezielles Protein zu deinen Entwicklungsmedikamenten hinzugefügt, um zu verhindern, dass sich die unterschwelligen Botschaften von TaʼZan wirklich bei dir einnisten«, antwortete Amal.
Amane kicherte. »Du hinterhältige kleine Schlange.«
»Es war dein Protein, das ich verwendet habe«, sagte Amal zu ihr. »HP34, um genau zu sein«, fügte sie hinzu und schaute uns dann an. »Meine Schwester und ich haben eine Reihe genetisch veränderter Proteine und Enzyme entwickelt, um die kognitive und emotionale Entwicklung eines Lebewesens zu fördern oder einzuschränken. Die meisten davon wurden für die Vollkommenen verwendet, aber einige haben wir auf Eis gelegt.«
»TaʼZan wusste nichts davon«, sagte Amane.
Rakkhan trat vor und kratzte sich an seinen weißen Bartstoppeln. Wallah blieb wie ein Schatten an seiner Seite. Der Älteste der Draenir hatte in den vergangenen Tagen viel durchgemacht und auch er hatte dramatische Verluste erlitten. Sein Stamm war um ein paar Dutzend geschrumpft und das forderte einen Tribut von seinem alternden Herzen und seinem Körper. Deshalb wollte Wallah nicht mehr von seiner Seite weichen. Manchmal brauchte der Älteste körperliche Unterstützung.
»Eine Sache macht mich wirklich neugierig«, sagte Rakkhan mit Blick auf Lumi und Kailani. »Eure Sumpfhexenmagie ist ein Wunder und trotz des Todes von vier meiner Jungen ist es euch gelungen, auch Vollkommene dauerhaft zu töten, mit der Kraft des ... Wortes. Können wir uns nicht wieder darauf verlassen?«
Sowohl Lumi als auch Kailani schüttelten den Kopf.
»Nein. Unter keinen Umständen. Ich will das nie wieder durchmachen. Niemals«, antwortete Kailani.
»Ich kann es nicht tun. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Kailani es geschafft hat«, erklärte Lumi. »Das Wort
funktioniert manchmal auf mysteriöse Weise. Es kann durch seine Kanäle – also durch uns – sogar seine eigenen Grenzen testen. Was Kailani getan hat, war untypisch und ist vollkommen außer Kontrolle geraten. Es könnte zu riskant sein und verheerende Auswirkungen haben, wenn wir es wieder freisetzen.«
»Ich verstehe.« Rakkhan nickte langsam, dann schenkte er Kailani ein trauriges Lächeln. »Mach dir keine Vorwürfe, meine Liebe. Wir wissen, dass du nicht du selbst warst, als es geschah. Ich verstehe, dass es in Zeiten von Krieg zu Verlusten kommen kann. Es bricht einem das Herz, aber du darfst dich davon nicht quälen oder bestimmen lassen. Sei versichert, dass die Draenir dich nicht für diese Verluste verantwortlich machen.«
Die Worte des Ältesten schienen auf Kailani einen großen Eindruck zu machen. Sie ließ ihre Schultern hängen und atmete einmal tief aus. Erleichterung machte sich in ihr breit wie eine Süßwasserquelle, die den Kalkstein des Berges durchbricht. Solchen Zuspruch hatte sie dringend hören müssen.
Rose klatschte einmal in die Hände und ihre Augen funkelten. »Okay! Wie wäre es, wenn wir einen Plan für das ausarbeiten, was als Nächstes kommt. Dann kann ich mir etwas Zeit für mich nehmen und mit meinem Mann sprechen.«
Wir mussten alle kichern, und Ben legte einen Arm um ihre Schulter. »Finde ich gut. Meine Frau wartet ebenfalls auf ein Update«, sagte er.
»Ich glaube, der Erinnerungslöscher und die Elfen haben Priorität«, antwortete Zeriel. »Obwohl ich ehrlich gesagt nicht gerade begeistert davon bin, dass die Hermessi auf diese Weise von den Elfen Besitz ergreifen.«
»Es gibt eine Menge, was die Hermessi im Moment nicht richtig machen.« Rose seufzte. »Aber zu ihrer Verteidigung, sie sind schwach und schlafen, zumindest größtenteils. Sie werden Probleme haben, zumindest bis sie vollständig aufgeweckt
sind.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Vesta.
»Irgendwie fühle ich es. Alles ist irgendwie ganz ... deutlich seit meiner Begegnung mit den Pashmiri«, antwortete Rose. »Ich weiß nicht, wie das funktioniert, aber ich bin ziemlich sicher, dass die Hermessi die Verbindung zwischen den Walen und mir ermöglicht haben. Wahrscheinlich können sie nicht so leicht auf Nicht-Elfen zugehen und nutzten die seltsamen telepathischen Fähigkeiten der Pashmiri, um mit mir Kontakt aufzunehmen, um mir zu zeigen, was die Vollkommenen mit Strava machen.«
»Rose?« Dereks Stimme erklang auf dem gemeinsamen Kanal in unseren Ohrstöpseln. »Ben? Seid ihr alle da?«
»Dad! Ja, Ben und ich sind hier. Wir haben uns alle in unserem neuen Basislager versammelt«, sagte Rose lächelnd. »Wir haben unsere Missionen erfolgreich über die Bühne gebracht. Douma ist auch wieder bei uns. Und Amal auch. Wir sind kurz davor, dich und Mom und alle anderen da rauszuholen, Dad!«
»Rose, ich ... Wir haben ein Problem«, antwortete Derek.
Seine Stimme klang seltsam und angestrengt. Er bemühte sich sehr, sich zusammenzureißen. Mein Instinkt sagte mir schnell, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
»Dad, was ist los?«, fragte Ben.
»TaʼZan hat es gar nicht gut aufgenommen, dass ihr Amal entführt habt«, sagte Derek. »Er befahl Cassiel, einen unserer Elfen zu nehmen und ihn umzubringen – vor unseren Augen.«
Unserer gesamten Gruppe entfuhr ein kollektives Raunen. Kailani und Vesta pressten sich die Hände auf ihre offenstehenden Münder. Avril und Serena waren etwas zurückhaltender. Sie hatten schon viel Schlimmeres gesehen und gehört, aber es tat immer noch weh. Der Tod erschütterte einen immer bis ins Mark.