Ich heiße Alban, und ich war schon immer dick. Manche bezeichnen sich verschämt als füllig, aber ich bin dick, und so nenne ich es auch. Selbst als Kind war ich kugelrund. Ich erinnere mich noch an meine Grundschulklasse – schon witzig, so eine Schulklasse, da findet man immer dieselben Typen. Als müsste jedes der fünfundzwanzig Kinder eine bestimmte Rolle erfüllen. Alle entsprechen einem Klischee. Später beim Militär genau dasselbe: Nehmen Sie eine x-beliebige Kompagnie, und Sie finden die gleichen Visagen wie früher in Ihrer Klasse.

Da gibt es den Klassenprimus. In der Regel ist er blond, blass, redet nicht viel, keiner kann ihn leiden, aber alle respektieren ihn. Dann den Faulpelz, der meistens mit anderen Faulpelzen rumhängt, Mittelmäßigkeit verbindet. Der Faulpelz ist lustig und macht Faxen für die Mädchen, die ihn bemitleiden. Der Klassenprimus ist natürlich nie mit dem Zweit- oder Drittbesten befreundet, weiß der Geier, warum. Dann wäre da noch der Schüchterne, der ist meistens dünn und sagt kein Wort zu niemandem. Und der Schwachkopf, der ist immer hässlich, popelt

Die Mädchen lassen sich noch einfacher unterteilen. Es gibt die Klassenprima mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen, dem Porzellanpuppengesicht und der sicheren Stimme beim Vorlesen. Sie hat immer eine eins, ist eine wahre Intelligenzbestie und der ganze Stolz der Lehrerin, aber allen anderen ein Rätsel; mit dem Klassenprimus pflegt sie keinen Umgang. Der Rest gehört entweder zu den Hübschen oder den Hässlichen. In beiden Kategorien ist die Spanne groß. Eine ist wirklich zum Niederknien, eine eine Beleidigung fürs Auge. Die Wunderhübsche ist eine Art Engel, aber ein Engel mit durchschnittlichen Leistungen, sie ist weder besser noch schlechter als die anderen, sie ist hübsch – einfach nur hübsch. Durch sie begegnen die Jungs zum ersten Mal der weiblichen Schönheit. Und die meisten bleiben wahrscheinlich ihr Leben lang unbewusst auf der Suche nach ihr. Die Grottenhässliche ist wie eine Sechs im Betragen, wie ein Tintenfleck auf

 

Eine typische Gestalt in diesem kleinen Mikrokosmos habe ich noch vergessen: den Dicken.

Das war ich: der Dicke.

Es gibt immer einen Dicken: in der Schulklasse oder im Büro, bei Partys oder beim Militär, im Schwimmbad oder in der Seilbahn, im Zugwaggon oder auf dem Kreuzfahrtschiff, im Restaurant, in der Disko oder bei Freunden, in einer Stadt oder auf einem Kontinent, auf dem Meer oder in der Luft. Wir sind überall, immer da, seit eh und je und bis in alle Zeit. Wir sind das Maskottchen des Menschengeschlechts.

Und zwar nur des Menschengeschlechts. Ich meine, gucken Sie sich eine Herde Kühe an – ist da eine dicker als alle anderen? Nein. Genauso wenig wie bei einem Wolfsrudel, oder haben Sie schon mal einen Wolf gesehen, der dreimal so breit ist wie der Rest? Gleiches gilt für einen Wurf Katzen, eine Horde Büffel, einen Käfig Papageien, einen Bienenstock oder Ameisenhügel. Sie mögen meine Fixierung auf Äußerlichkeiten und Stereotype lustig finden, aber das ist eine Berufskrankheit. Ich bin Comiczeichner. »Comiczeichner/Humorist«, wie mein Agent gerne

M. Martin ist eine Figur aus meiner Feder, er ist selbst kräftiger gebaut und reagiert auf aktuelle Ereignisse: von Steuererhöhungen bis zur letzten Rede des Staatschefs, vom Tod eines Sängers bis zu einer Kriegserklärung. M. Martin wird stets von seinem Dackel begleitet, dem dauernd die Nase läuft. Der Dackel hat keinen Namen. Ich kann gar nicht sagen, warum ich diesen Hund eines Tages gezeichnet habe. Ich hatte noch nie einen Dackel oder irgendein anderes Haustier.

Während des ersten Lockdowns ist mein Instagram-Account durch die Decke gegangen, die Leute waren zu Hause eingesperrt und haben mich um Zeichnungen angefleht. Ich habe eine pro Tag gepostet, jeden Abend zur gleichen Zeit. Und die Kommentare und Emojis ploppten auf meinem Smartphone sekündlich zu Hunderten auf.

 

In der Regel reagiert M. Martin auf vier oder fünf Momente des Zeitgeschehens. M. Martin, das sind Sie, das bin ich, das sind wir alle. Den Nachnamen habe ich gewählt, weil es der häufigste in Frankreich ist, weit vor Dupont, Durand und Moreau. Das M. ist ebenfalls nichtssagend, es könnte sowohl die Abkürzung von Monsieur als auch der erste Buchstabe seines Vornamens sein. Die eingefleischten Liebhaber, die sich in Fanforen tummeln, sprechen es »Em Martin« aus. Ich sage schon immer nur Martin, und der

 

Meine kleine Figur ist inzwischen so groß, dass mein Agent mich dazu gedrängt hat, Alben rauszubringen. Das erste war ein Best-of der Kolumne, das zweite der Anfang einer Reihe namens M. Martin morgens, mittags, abends. Eigentlich war ich gar nicht so erpicht darauf, meinen Helden in Alltagssituationen zu stürzen, aber das Ding hat sich so gut verkauft, dass ich mittlerweile bei M. Martin morgens, mittags, abends, Band 4 bin.

 

Mein Verleger sieht die Reihe schon als Nachfolger der legendären Frustrierten von Claire Bretécher oder Philippe Gelucks Katze. Ich wollte die Story nicht unbedingt bis zum Erbrechen durchdeklinieren, aber mein Agent meinte: »Mensch, Alban, Mann, das ist eine Gelddruckmaschine! Dein Männeken und sein Köter sind die Chance unseres Lebens!« Mein Agent heißt Sam und hat ein Mundwerk, an das ich niemals rankommen werde. Damit säuselt er Verlagschefinnen und Zeitungsmagnaten das Ohr ab, er kriegt sie alle klein.

 

Ich lebe zurückgezogen in meiner Wohnung. Meine Frau hat mich vor fünf Jahren verlassen, gerade als

 

Eines Nachmittags Mitte Juli war ich im Jardin du Luxembourg spazieren. Die typisch schwere, feuchte Hitze des Pariser Sommers hing in den Straßen. Ich hatte schon die ersten Panels für meine Kolumne fertig und wollte für den Rest die nächsten Nachrichten auf BFM abwarten. Ich schwankte noch zwischen der Tour de France, der neusten Provokation eines Polemikers im Fernsehen und einem Finanzskandal,

 

Der Kellner brachte mir einen eisgekühlten Get 27, der meinen Körper innerhalb weniger Minuten auf Normaltemperatur zurückbrachte. Ich fühlte mich wie ein Schnellkochtopf. Die Wirkung verflüchtigte sich bald wieder, und ich bestellte einen zweiten. Genau in diesem Moment setzte sie sich: groß, blond, schlank, gebräunt, wunderhübsch. Sie trug einen weißen Zweiteiler, der vorne geknöpft war, und hellblaue Sneaker. Seltsamerweise erinnerte sie mich an jemanden. Wie hieß noch mal die eine letzten Sommer? Jenny, ja, genau, die hatte ich bei Sam in

Vanessa … Vanessa Valière. Genau!

Wir waren zusammen auf dem Gymnasium, in welcher Klasse noch mal? Elfte, zwölfte? Nein, beim Abi war sie nicht mehr da gewesen. Zehnte und elfte. Zwei Jahre, zwei Jahre, in denen ich sie anstarrte, was war sie hinreißend! Damals wie heute: In der Schule machte sie mir schöne Augen, damit ich ihre Aufsätze über Montaigne gegenlas – was ich auch tat. Ich war nicht doof, ich wusste, dass all das Lächeln und Haarewerfen nicht mir galt, sondern der guten Note.

Männer sind Feiglinge. Lieber haben sie ein hübsches Püppchen an ihrer Seite, das nur vorgibt, auf sie zu stehen, als allein zu bleiben. Es schmeichelt ihnen, und sie haben Fantasie – wenn sie sich nur ein paar Sekunden lang einreden können, das alles wäre wirklich für sie bestimmt, versüßt es ihnen den ganzen Tag. Mädchen in diesem Alter wiederum testen gerne ihre Reize an Schwächlingen, aus denen sie sich nichts machen. Das ist ungefährlich und stärkt das Selbstbewusstsein. Ich erinnere mich auch noch an den Typen, der Vanessa immer von der Schule abholte. Er

 

Sie scheint nach jemandem zu suchen. Ich will schon aufstehen und ihr hallo sagen. Ich würde ihr erzählen, was aus mir geworden ist, dass ich hinter M. Martin stecke. Sie würde überrascht aufschreien. »Das ist ja mega! Du bist Alban? Ich glaub’s nicht!« Ich weiß, wie das abläuft, ich gebe gerne damit an. Aber jetzt packt mich die Angst, weil ich mir schon denken kann, was gleich passiert, besser gesagt spüre ich es: Ein großer, schlanker Typ erscheint, auf den wartet sie hier nämlich. Allein durch seine Schlankheit, seine Linie, seine Geschmeidigkeit wird er meine zarten Hoffnungen zerschlagen. Genau wie damals mit sechzehn. Ein Alptraum, aus dem ich einfach nicht aufwache.

Da kommt er schon. Sie lächelt. Er ist groß, schlank, blond, sehr elegant, sehr schön. Fast zu schön, fast ein bisschen affektiert. Wie David Bowie in Absolute Beginners … Nein, eher wie in dem Video zu Let’s Dance, wo er als herrischer Chef im Versace-Anzug den kleinen brasilianischen Arbeiter anblafft. Exakt so, eins zu eins. Manche Männer sind wirklich wie

Das macht mich krank. Ich bestelle mir noch einen Get 27.

 

Zurück zu Hause kritzle ich mein Panel über das mit der klimatisierten Stadt. Nicht gerade ein Geniestreich, aber ich habe keine Lust auf Nachrichten und vor allem auch keinen Kopf dafür. Die ganze Nacht über träume ich wirres Zeug, an das ich mich am nächsten Morgen nicht einmal mehr erinnere, und dazu noch diese erstickende Hitze! Ich versuche alles: auf der Decke, ohne Decke, nur mit Laken, ohne Laken, auf dem Boden, mit Ventilator, mit offenem Fenster. Keine Chance. Die Hitze ist überall, sie ist in mir drin. Als hätte sich mein Körper vollgestopft mit Sonne und könnte nun nie wieder abkühlen. Am Morgen mache ich mir erst einmal einen Eiskaffee, ehe ich meine Kolumne einscanne und an die Redaktion schicke.

 

Vanessa Valière. Ich suche den Namen bei Google Images. Nichts. LinkedIn. Facebook. Erst auf Instagram entdecke ich sie, ihr Konto ist öffentlich: Vanessa Valière @Vanouval.

 

Sie in einem Pariser Viertel. Immer wieder ein bestimmtes Bistro. Außerdem Fotos von ihr auf den

»Was treibst du grade? Hast du unser Album noch auf dem Schirm? Wenn’s im September rauskommen soll, musst du pünktlich abgeben.«

Sam grüßt natürlich nie, sondern kommt gleich zum Punkt.

Ich antworte, dass ich die Adresse einer Frau im Internet suche. Aber nicht finde.

»Und wer ist diese Frau?«

»Eine Frau halt.«

»Hat sie auch einen Namen?«

»Na klar hat sie einen Namen. Ich hab auch schon ihren Job, ihren Facebook-Account, Insta, alles, aber ihre Privatadresse, keine Chance.«

»Überlass das mir. Schick mir einfach Namen, Job und Insta.«

 

Eine Viertelstunde später klingelt mein Handy wieder.

»Rue de la Pentille 18 im fünfzehnten Arrondissement«, verkündet Sam.

»Wie hast du das angestellt? Das steht doch nirgendwo im Netz.«

»Ich hab bei ihr auf der Arbeit angerufen und mich als Amazon-Lieferant ausgegeben. Behauptet, dass ich vor ihrer Tür stehe und nicht reinkomme, aber sie geht nicht ans Handy.«

»Und das haben sie dir geglaubt?«

 

Ich sitze schon seit fast zwei Stunden hier im Bistro. Vom Außenbereich aus sehe ich die Eingangstür zu ihrem Wohnhaus. Jetzt nach Büroschluss kommt sie bestimmt bald. Sie hat einen hohen Posten in einer »Agentur für Strategie- und Kommunikationsberatung«. Noch so ein Schnickschnack, um reichen Firmenchefs ein Vermögen abzuknöpfen für zwei, drei Empfehlungen, auf die man mit ein bisschen Hirn selbst kommen könnte.

 

Da ist sie. Eilig biegt sie um die Straßenecke, das Handy am Ohr. Sie lacht. Gleich läuft sie an mir vorbei.

»Heute Abend im Luna’s? Och … Na schön, okay … Hihihi.«

Schon ist sie an ihrer Tür, tippt einen Code ein, drückt sie auf. Das war’s, Game over.

Von wegen, das Spiel fängt gerade erst an.

Anscheinend ist Mit-einem-Getränk-rumsitzen-und-warten heute mein Tagesmotto. Eigentlich kann ich angesagte Diskos und In-Kneipen absolut nicht ab. Ich betrachte den riesigen goldenen Mond, der in der Mitte des Ladens unter der Mezzaninbar prangt. Alle um mich herum lächeln, ihre gute Laune geht mir auf den Keks, die Sorglosigkeit, das Geld, die

Scheiße. Er hat mich entdeckt und winkt mich mit großen Gesten zu sich. Weil ich nicht reagiere, steht er schließlich auf und schlendert lächelnd zu mir. »Na, wie geht’s? Hat Sam dich schon wegen der Sendung gefragt? Ich habe noch keine Rückmeldung, das wäre doch super Werbung für dich.« »Mal sehen«, erwidere ich blasiert. »Wartest du auf wen? Komm doch mit rüber und warte bei uns. Ist sie hübsch?« Er beömmelt sich. Ich sage bloß, dass ich bald los muss. Er wirkt enttäuscht, fängt sich jedoch gleich wieder. »Wie du willst, aber du bist jederzeit willkommen an unserem Tisch, und in meiner Sendung natürlich auch, also dann, ciao ciao, Alban.« Er klopft mir auf die Schulter und verschwindet wieder.

Ich bestelle mir noch einen Get 27 und lasse mich vom hypnotischen Bass des DJs einlullen, bis eine schlanke Blondine mein Sichtfeld betritt: Vanessa. Sie ist in Begleitung von Freunden: zwei Tussen, zwei Typen. David Bowie ist nicht dabei. Die fünf

»Folgen Sie diesem Auto.«

Der Taxifahrer mustert mich belustigt. Der Abend war noch richtig lang, einer der Typen – der Blonde, natürlich – hat heftig an Vanessa rumgegraben, und prompt sitzt sie mit ihm im Auto. Wenn ich mich nach vorn beuge, kann ich im Licht der Scheinwerfer ihre Umrisse erkennen. Sie küsst ihn. Die fahren garantiert zu ihr.

Mein Taxi hält am Ende der Straße. Ich sehe sie aussteigen, höre sie lachen. Sie küsst ihn noch einmal, ihre Umrisse schwanken leicht vor der Eingangstür, dann drückt sie sie auf.

Ich laufe zum Haus, bestimmt geht gleich ein Licht an. Na bitte, zweiter Stock. Sie treiben es wahrscheinlich die ganze Nacht, und ich stehe hier unten auf der Straße. Irgendetwas steigt in mir auf, mäht alles platt wie ein Bulldozer. Nicht Hass, nein, sondern die Ungerechtigkeit.

Das sollte ich sein mit ihr in dieser Wohnung, ich hinter den erhellten Gardinen, ich auf dem Sofa, ich im Bett. Das Leben zieht an mir vorbei. Ich wandere auf dem Standstreifen. Und das schon viel zu lange.

Auf dem Weg durch die Nacht verwandelt die laue Brise meine Selbstmordfantasien in Rachegelüste. Rache. Ich werde Rache üben und mich gleichzeitig umbringen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Da sie auf groß-blond-schlank-elegant steht, bleibt mir nur eine Möglichkeit. Statt mich zu töten, werde ich den anderen töten. Den Dicken in mir, der mir schon von klein auf das Leben vergällt. Und noch während ich laufe, habe ich das Gefühl, dass er nicht mehr da ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich rank und schlank. Der Prozess ist unumkehrbar. Ich werde nicht mehr dick sein.

Ich bin es schon nicht mehr.

 

Doktor Sirup war um die sechzig, schmächtig, weißer Bürstenschnitt, kleine Stahlbrille. Sein Äußeres stand im krassen Gegensatz zu seinem Namen, der eher an Marshmallows und puderzuckriges Lokum erinnerte. Durch seine beruhigende, trockene Art und sein dichtes Haar wirkte er selbst schon wie ein Heilmittel. Nach eineinhalb Stunden Untersuchung verließ ich die Praxis mit einem Rezept, das so lang war wie ein Kassenzettel nach dem Monatseinkauf bei Monoprix. Einen Klinikaufenthalt hatte ich ausgeschlossen, beim Gedanken daran, neben anderen Dicken in einem Krankenhausbett zu liegen, wurde mir schlecht, und außerdem hat mein Job sehr spezifische Anforderungen.

 

»Ein schwedisches Modell, sehr genau und ergonomisch, geht bis dreihundert Kilo«, erklärte der Verkäufer wohlmeinend. Erst nach mehreren Monaten sollte ich meine Wohnung wieder verlassen oder meine Freunde sehen.

 

Freitag, 11. August

Ich mache meine Diät mittlerweile seit vier Wochen und einem Tag. Doktor Sirups Therapie trägt Früchte. Ich habe schon elf Kilo abgenommen. Jetzt soll bald die Beschleunigungsphase kommen. Sam und mein Verleger haben angerufen und mich zu

 

Samstag, 16. September

Die Beschleunigungsphase, wie Sirup sie nennt, ist eingetreten. Ich war inzwischen sechs Mal bei ihm. Er ist zufrieden. Laut ihm kann ich bald mit dem Muskelaufbau beginnen. Es ist unglaublich, wie viel Gewicht ich verloren habe! Ich ertrinke in meinen Klamotten, ich musste schon eine neue Jeans von Levi’s bestellen. Wenn ich mir meine alten Sachen anschaue, die ich teilweise seit über fünfzehn Jahren habe, kommt es mir vor, als würde ich vor einem fremden Kleiderschrank stehen.

 

Dienstag, 10. Oktober

Seit zehn Tagen gehe ich nun zum Muskelaufbau in ein Fitnessstudio. Es ist anstrengend, aber auch sehr beeindruckend. Mein Körper verändert sich radikal. Ein Trainer kümmert sich speziell um Leute wie mich, die anderen dort trainieren nur zum Vergnügen.

 

Donnerstag, 9. November

Sirup freut sich sehr über das Ergebnis. »Nicht so sehr wie ich«, habe ich erwidert. Die Lust auf Gehaltvolles ist mir komplett vergangen. Ich esse inzwischen ein bisschen mehr als am Anfang und

 

Montag, 18. Dezember

Heute hat die Waage angezeigt, dass ich zweiundvierzig Kilo abgenommen habe; sie hat einen eingebauten Speicher. Noch zehn Kilo plus ein bisschen mehr Muskeln, dann bin ich perfekt.

Ich habe Stéphane auf ein Bier eingeladen. Da ich im Moment sonst niemanden sehe, war das eine schöne Abwechslung. Er ist echt nett. Und er liest M. Martins Woche und war hellauf begeistert, mich kennenzulernen. Ich habe ihm eine Originalzeichnung geschenkt, mit Widmung. Sam hinterlässt jede Menge Nachrichten, er macht sich Sorgen, weil er mich nicht mehr zu Gesicht bekommt, aber ich habe ihn beruhigt. Solange meine Kolumne rechtzeitig in der Redaktion eintrifft und lustig ist, kann es mir ja nicht so schlecht gehen, oder?

 

Dienstag, 2. Januar

Geschafft. Sirup will mich in den kommenden Monaten noch zur Nachsorge einbestellen. Er hat mir einen komplizierten Bericht über meine Blut- und Herzuntersuchungen vorgelesen, Zusammenfassung: Alles gut. Danach bin ich zurück nach Hause. Stéphane kommt nicht mehr ins Studio, und wir haben keine Nummern ausgetauscht. Vielleicht sehe ich ihn nie wieder. Dieses Tagebuch werde ich

 

Ich betrachte mich im Badezimmerspiegel.

Groß – ich wusste gar nicht, dass ich so groß bin –, schlank, drahtig, erstaunlich muskulös. Jetzt kann ich endlich die Sache mit Vanessa angehen. Dafür muss ich nur noch ein letztes Detail ändern: mein Erscheinungsbild.

Hellgraues Jackett: 2500 Euro.

Levi’s 501: 130 Euro.

Schwarze Schnürschuhe: 400 Euro.

Weißes Hemd: 220 Euro.

Venezianische Manschettenknöpfe: 140 Euro.

Frisör, Waschen + Schneiden + blonde Tönung + Föhnen: 180 Euro.

Rolex Oyster Perpetual Stahl anstelle meiner grünen Swatch: 5700 Euro.

Noch nie habe ich an einem einzigen Nachmittag so viel Kohle verpulvert. Erst dadurch ist mir aufgefallen, wie selten ich mir bisher etwas gegönnt habe. Faszinierend, wie viel Höflichkeit und Respekt meine neue Schlankheit hervorruft. Als ich mit meinem grauen Jackett, meinem schicken neuen Haarschnitt und meiner sportlichen Figur den Rolex-Laden betreten habe, wurde mir sofort Achtung gezollt. Wäre ich dort vor sechs Monaten rein, mit meiner abgewetzten Jeans, meinem T-Shirt und meiner Heißluftballonbundweite, hätte man mich

 

Jetzt habe ich die Seiten gewechselt.

 

Ich sitze auf der Bistroterrasse. Es ist kalt, und ein beißend trockener Wind bläst mir ins Gesicht. Bei meinem letzten Besuch hier war ich dick, und der Teer schmolz vor Hitze. Sechs Monate. Ich bestelle ein Wasser. Bald dürfte Vanessa um die Straßenecke biegen. Ich werde sie ansprechen: »Hallo, entschuldigen Sie bitte, sind Sie nicht Vanessa? Vanessa Valière? Alban Charvier, wir waren früher in einer Klasse …« »Alban … Aber … Unmöglich …« Sie ist garantiert völlig perplex, erkennt mich nicht wieder, ich ziehe die Nummer mit der Erfolgsstory ab, mit der wöchentlichen Comic-Kolumne, die gerade Kult wird. M. Martin morgens, mittags, abends, Band 5 kommt bald raus, Sam bombardiert mich mit Nachrichten, er will mich morgen unbedingt treffen. Der wird staunen.

 

Vielleicht ist sie schon kurz vor meiner Ankunft im Bistro nach Hause gekommen. Dieser Gedanke geistert mir seit einer guten halben Stunde durch den Kopf. Sie ist in ihrer Wohnung, und ich sitze wie ein Idiot hier draußen rum. Vielleicht geht sie heute Abend auch gar nicht aus. Ich könnte morgen wiederkommen, aber so lange halte ich es nicht aus, ich klingle einfach bei ihr. Ich werde ihr erzählen,

Der Zahlencode allerdings zwingt mich in die Knie. Diesen Teil habe ich ganz vergessen. Zum Glück rettet mich ein Knopf mit der Aufschrift Pförtnerloge. Ein Dämchen mit grauen Haaren öffnet mir.

»Ja bitte?«

Ich setze mein charmantestes Lächeln auf. »Ich wollte zu Mademoiselle Valière, nur … dummerweise habe ich den Türcode vergessen.«

»Aber … Mademoiselle Valière wohnt doch gar nicht mehr hier«, erwidert die Frau.

Ich starre sie ein paar Sekunden lang sprachlos an, höre meinen Atem und das Pochen des Bluts in meinen Schläfen.

»Wie bitte?«, hauche ich.

»Sie ist weggezogen … Vor fünf Monaten, nach Brasilien, sie hat dort geheiratet. Eigentlich wollte sie mir ihre neue Adresse schicken, aber ich habe nichts bekommen.«

»Das kann nicht sein, das kann nicht sein … Das kann nicht sein …«, wiederhole ich wie ein Schwachkopf, wie ein Gehirnamputierter, wie eine Schallplatte mit Sprung.

»Doch, doch, Monsieur«, beteuert die Frau. »Sie ist nicht mehr da …«

Ich schlage mit der flachen Hand gegen die Hauswand und fange wild an zu schluchzen.

»Nicht doch, Monsieur, beruhigen Sie sich! Ja,

Ich hebe den tränenverschleierten Blick. Die kleine Dame mit den grauen Haaren mustert mich milde.

 

Einen Monat später habe ich Patricia kennengelernt, am Set des berühmten Moderators, dessen Sendung ganz Frankreich schaut und zu der ich mich am Ende doch habe breitschlagen lassen. Sie ist Visagistin. Und weder sonderlich schlank noch blond noch groß. Dafür sanft und lustig, und ich vergöttere sie. Wir sind sehr verliebt.