Eine Woche später schlug ich die Augen auf und sah eine weiße Decke. Ich war weder im Paradies noch im Fegefeuer noch in der Hölle, sondern in einem Krankenhaus – vermutlich auf der Intensivstation. Die Zeit hatte sich aufgelöst, ich hätte in diesem Moment nicht sagen können, ob ich seit ein paar Stunden oder doch Tagen hier war. In meiner letzten Erinnerung lag ich ausgestreckt auf meiner Couch. Das schien erst ein paar Minuten her zu sein. Dabei war inzwischen offenbar eine ganze Woche vergangen. Für meine Bypassoperation war ich ins künstliche Koma versetzt worden und erst jetzt wieder erwacht. Das erste Gesicht, das sich zu mir beugte, war François, mein Freund und Kardiologe. Er berührte meine Hand.

»Alles ist gut, bist dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen«, sagte er, und ich nickte langsam.

Im Gegensatz zu Nathalias Aktienhändler aus der Geschichte hatte ich weder über meinem Körper geschwebt noch einen Flur aus Licht durchschritten. Keinerlei Nahtoderfahrung zu vermelden.

 

Als meine Frau zurück in mein Büro kam, fand sie mich leblos auf der Couch. Sie wählte sofort den Notruf. Das Sekretariat, das sich um meine Termine kümmert, hat allen Patientinnen und Patienten abgesagt. Ich werde erst in zehn Tagen entlassen. Eine Woche plus zehn Tage … was soll nur aus ihnen werden? Robotti hat mir einen Blumenstrauß nach Hause geschickt, ebenso wie meine junge Magersüchtige – sie hat einen aus orangefarbenen Rosen und Gerbera gefunden und mit einem Bund Karotten verschönert. Robotti hat eine Karte beigefügt: »Kommen Sie schnell wieder.« Meine Magersüchtige nicht, aber ihre Aufmerksamkeit berührt mich sehr.

 

Meine Frau und ich haben nicht noch einmal über Nathalias letzte Geschichte geredet. Sie hat mich nur gefragt: »Warum hast du ihr deine Schlüssel gegeben?«

Ich musste lächeln. Jemandem seine Schlüssel geben – dieser Satz böte so einiges Analysematerial.

»Die Sammlung war abgeschlossen«, murmelte ich, ehe ich so tat, als würde ich einschlafen.

Ich glaube, ich habe meiner Frau wirklich Angst eingejagt; womöglich bringt uns dieser Infarkt einander sogar wieder näher. Meine Tochter hat mich gestern besucht, sie wirkte ehrlich traurig, mich so zu sehen. Nach ein paar recht freundlichen Worten

 

Ich richte mich auf und strecke mich nach meinem Handy, das neben einem Glas Wasser auf dem Nachttisch des Krankenhausbetts liegt. Per Gesichtserkennung entsperre ich es, zögere, suche in meinem Adressbuch nach dem Buchstaben N.

 

»Was machen Sie gerade?«

 

Ich lege das Telefon auf die Matratze. Keine Minute später trifft klingelnd eine Antwort auf meine Nachricht ein.

 

»Ich bin zu Hause. Ich komme gerade von einem Fotoshooting und schenke mir gleich ein Glas Weißwein ein, das ich auf dem Balkon trinke. Die Sonne scheint. Und Sie?«

 

»Ich liege im Krankenhaus. Ich hatte einen Herzinfarkt, nachdem Sie gegangen sind.«

 

»Wo genau sind Sie?«

 

Ich nenne ihr den Namen des Krankenhauses und meine Zimmernummer. Sie schreibt, sie sei auf dem Weg. Eine Stunde später klopft es. Ich sage:

 

»Sie fotografieren wieder?«

Sie lächelt. »Ja. Wie geht es Ihnen?«

»Schon besser. Danke, dass Sie gekommen sind.«

Sie lächelt erneut, und ich lächle ebenfalls, zum ersten Mal, seit ich hier bin, wie mir bewusst wird.

»Die Rollen sind vertauscht«, sage ich.

Sie schaut mich fragend an.

»Ich liege, und Sie sitzen neben mir.«

»Ja«, erwidert sie im gleichen endgültigen Tonfall wie bei unseren Terminen.

»Wie geht es meiner Schlüsselsammlung?«

»Sehr gut, die liegen auf meinem Couchtisch. Wie geht es meinen Negativen?«

»Die habe ich verbrannt.«

Sie senkt zustimmend die Lider, dann steht sie auf und tritt ans Fenster, lässt den Blick über die Häuser der Stadt schweifen. An genau derselben Stelle hat auch Catherine gestern gestanden.

»Auf gewisse Art und Weise haben Sie mich therapiert, Nathalia«, sage ich.

Mit dem Rücken zu mir nickt sie.

»Was ist mit mir?«, fragt sie, ohne sich umzuwenden.

»Was meinen Sie?«

»Ist meine Behandlung abgeschlossen?«

Stille tritt ein, bis ich sie schließlich breche.

»An meinen Balkon. Wo ich eben noch einen Weißwein in der Sonne getrunken und die Westseite beobachtet habe.«

»Sie können auch die Westseite sehen?«

»Ja.«

»Was haben Sie beobachtet?«

»Im dritten Stock hat Hélène Le Garrec zum Mittagessen geladen. Sie ist eine hervorragende Köchin und hat bei sich ein Wohnzimmerrestaurant eingerichtet. Donnerstagmittag und Samstagabend empfängt sie bis zu zwanzig Tische. Man muss von jemandem empfohlen werden, im Internet reservieren und an der Sprechanlage ein Passwort nennen.«

»Was gab es heute?«

»Wachteln in Pommeau mit gebratenen Äpfeln, Pfifferlingen und Morcheln.«

 

»Nathalia?«

»Doktor Faber?«

»Wie viele Stockwerke hat die Westseite?«

»Fünf.«

Lächelnd dreht sie sich zu mir und richtet die hellen Augen fest auf mich. Ich merke, wie ihr Atem sich beschleunigt. Und in diesem Moment weiß ich, dass wir in das Haus zurückkehren werden. Nein, die Eingangstür ist nicht verschlossen, die Therapie nicht vorbei. Die Geschichten gehen weiter, es gibt noch mehr Geheimnisse, die Nathalia mir erneut Stockwerk für Stockwerk offenbaren wird.

»Ja. Wann werden Sie entlassen?«

»In zehn Tagen.«

»Dann komme ich am Donnerstag darauf, um sechzehn Uhr, wie gewohnt?«

»Ja. Donnerstag, sechzehn Uhr. Ich erwarte Sie, Nathalia.«

»Ich werde da sein, Herr Doktor. Und vorher werfe ich meine Geschichte ein?«

»Perfekt. Mit Gewohnheiten sollte man nicht brechen. Niemals.«