Sie setzt sich auf die Couch, legt sich vorsichtig hin. Sie dürfte um die dreißig sein. Ihre blasse Haut betont das tiefe Schwarz ihrer Haare, die ihr bis über die Schultern reichen. Ihre Augen sind blau, meine ich. Für Augenfarben hatte ich noch nie einen Blick. Erst kürzlich hat meine Frau mich darauf hingewiesen, dass mein bester Freund dunkelblaue Augen hat, was ziemlich selten sei. Ich kenne ihn seit dreiunddreißig Jahren, aber hätte mich jemand nach seiner Augenfarbe gefragt, hätte ich geantwortet: »Braun?«
Äußerliche Details dieser Art entgehen mir oft. Ich betrachte jeden Menschen als Ganzes. Nathalia Guitry würde ich so beschreiben: junge Frau um die dreißig, hübsch, brünett, helle Augen. Fertig.
Sie schweigt schon seit ungefähr einer Minute. Ich warte für gewöhnlich, bis mein Gegenüber zu sprechen beginnt, aber diesmal passiert das nicht, und die Zeit vergeht. Selbstredend kann man auch die gesamte Sitzung so verstreichen lassen, nichts verpflichtet einen, das Schweigen zu brechen. Im Gegenteil, es kann bereits als Einleitung betrachtet werden. Schweigen sagt sehr viel.
Nathalia Guitry war noch nie hier. Dies ist ihre erste Sitzung. Ich könnte sie fragen, woher sie meine Adresse hat, aber das erscheint mir immer belanglos. Zur Antwort bekäme ich bloß den Namen eines Freundes, der ebenfalls von mir behandelt wird oder wurde, oder vielleicht den Namen einer Hausärztin. Doch die Erwähnung anderer stört meiner Meinung nach nur die Kontaktaufnahme. In diesem Raum sollte es nur zwei Personen geben: Patient oder Patientin und mich. Das ist bereits mehr als genug.
Es ist Winter, und draußen graupelt es. Wie üblich habe ich die roten Vorhänge zugezogen. Das Wetter beeinflusst die Stimmung: Sonne, Schnee, Regen, Wind, Kälte und Hitze haben Auswirkungen auf den Gemütszustand und unser Empfinden. Hier drinnen ist alles neutral. Das muss es auch sein. Meine Praxis ist als eine Art geografischer Anti-Ort konzipiert. Stadt, Land, Smartphone, Facebook- oder Instagram-Account, all das sollen meine Patientinnen und Patienten vergessen. Mein Büro – ich nenne es gerne »Büro«, das vermittelt ein Gefühl von Arbeit, auf das ich Wert lege –, mein Büro ist überall. Wie ein Floß, das von Kontinent zu Kontinent, von Neurose zu Psychose, von Melancholie zu Manie, von Traum zu Wahn treibt. Mein Büro ist ein Feuerschiff, das Signale aussendet. Man begegnet ihm niemals zufällig, nein, man sucht es, wenn auch unwissentlich. Und ich bin der Kapitän dieses Schiffs.
»Doktor Faber …?«
»Ich höre Ihnen zu«, sage ich zwischen zwei fünfzig Meter hohen Wellen. Oft lässt die Verbindung zu wünschen übrig, diverse Störgeräusche funken dazwischen: Stille, Anspannung, Angst, Versprecher. Doch das Büro schwimmt weiter, trotzt jeder Witterung. Ruhig und unsinkbar.
»Ich komme mir vor wie in einem U-Boot, Sie wissen schon, diese riesigen Dinger, die still und heimlich unter kilometerlangen Eisdecken fahren.«
Als ein Patient mir das anvertraute, musste ich lächeln. Eigentlich hätte ich auf die Heimlichkeit oder das Eis als Symbol der Beklemmung eingehen sollen, aber die Vorstellung von schwarzem Metall, das geräuschlos unter gefrorenem Wasser dahingleitet, war so bestechend, dass ich nur erwiderte: »Ja, genau so ist es auch ein wenig.«
Er war zufrieden, besänftigt, und das ist doch die Hauptsache.
Da sie weder von sich erzählt noch über das Wetter redet noch verrät, wer sie hergeschickt hat, werde ich anfangen, öfter mal was Neues.
»Sie heißen Guitry, sind Sie mit Sacha Guitry verwandt?«
Sie lächelt, sehr gut. Das Lächeln hat einen bitteren Zug, aber immerhin.
»Nein …«, antwortet sie. »Sacha Guitry hatte auch gar keine Kinder.«
Wieder Stille, ich muss verhindern, dass sie sich breitmacht. Eigentlich würde ich gern weiter über Guitry sprechen, mit dem Thema scheint sie sich auszukennen. Womöglich ist Guitry gar nicht ihr echter Name, ich überprüfe nie die Personalien meiner Patientinnen und Patienten. Die sind nicht von Bedeutung. Ich folge einigen Grundsätzen der traditionellen Psychoanalyse, wie zum Beispiel der Barzahlung. Kein Scheck, keine Karte – nichts, was Rückschlüsse auf die Person zuließe. Wie jeder im Gesundheitswesen habe auch ich garantiert schon Behandlungsscheine ausgefüllt, die nie bei der Krankenkasse eingereicht wurden. Ebenso greife ich gelegentlich ein paar Basiselemente aus der traditionellen Analyse auf, wie Fehlleistungen, Versprecher und andere unbewusste Handlungen. Sie werden nur selten relevant, aber sie sind da, wie in einem alten Werkzeugkasten ganz unten im Schrank. Immer noch brauchbar, gelegentlich vielleicht sogar sehr nützlich.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Nathalia?«
»Ich denke, ich habe mein Leben verpfuscht.«
Den Satz habe ich in diesen vier Wänden schon oft gehört. Es gibt zahlreiche Varianten: Ich habe mein Leben verpfuscht ist endgültig und verheißt viel, sehr viel Arbeit. Aus Ich glaube, ich habe mein Leben verpfuscht sprechen noch Zweifel, es ist etwas weniger schlimm als die erste Aussage. In Mein Leben ist verpfuscht hingegen fehlt das »ich«, das Leben ist etwas Abgespaltenes. Wie ein Haustier, das man schon seit Kindestagen hat und mit dem man unzufrieden ist. Man lebt mit einem Foxterrier und stellt irgendwann fest, dass man eigentlich Bengalkatzen mag.
Bei Nathalia Guitry, die gar nicht darauf reagiert hat, dass ich sie mit Vornamen angesprochen habe statt mit Mademoiselle oder gänzlich unpersönlich, ist vor allem das Verb denken interessant.
»Weshalb denken Sie das?«
»Ich mache überhaupt nichts. Beruflich läuft es auch miserabel.«
»Was arbeiten Sie?«
Sie zögert ein paar Sekunden zu lange, ehe sie antwortet.
»Ich bin Fotografin.« Sie lächelt widerwillig.
»Warum lächeln Sie?«
»Ich bin eine Fotografin, die nichts fotografiert.«
»Erklären Sie mir das.«
In genau diesem Moment beginnt die Analyse. Dieser so banal wirkende Satz ist die erste echte Kontaktaufnahme zu meinem Gegenüber.
Erklären Sie es mir. Nun sprechen wir über sie oder ihn, das jeweilige Problem oder zumindest das, was die Person dafür hält. Falls es nicht nur eine Nebelkerze ist, die Schwerwiegenderes verschleiert.
»Ich habe keine Aufträge mehr«, sagt sie.
»Und warum, glauben Sie, ist das so?«
»Ich habe mein Talent verloren.«
Die ernüchterte Romantik dieses Satzes entgeht mir nicht. Der endgültige Tonfall wiederum ruft nach noch mehr Wachsamkeit als gewöhnlich.
Ich versuche es mit einem schlichten, aber unentbehrlichen: »Sie haben die Lust am Fotografieren verloren?«
»Ja.«
»Warum?«
»Wenn man seinen Beruf nicht ausüben kann, verliert man nach und nach das Interesse, und die Lust schwindet.«
Ich will diesen Satz gerade analysieren, die Schwachstelle aufspüren, da fährt sie schon fort.
»Das ist wie bei einem Schauspieler – wenn er nicht spielen kann, stirbt etwas in ihm.«
Schwachstelle gefunden. Antwort:
»Dieser Satz stammt nicht von Ihnen.«
»Stimmt, er stammt von einem berühmten Schauspieler, den ich vor ein paar Jahren fotografiert habe.«
»Also haben Sie Ihren Beruf früher einmal ausgeübt.«
»Ja.«
»Und nun haben Sie eine Flaute, und das fühlt sich unerträglich an?«
Sie antwortet nicht. Eigentlich hätte ich mit einem weiteren »Ja« gerechnet, diese Bestätigung scheint Nathalia gerne zu verwenden, was für einen entschlossenen Charakter spricht, vielleicht überbordend, aber unendlich lebendig. Auf meiner Couch lagen schon so einige, die nur Ich weiß nicht … Vielleicht … Mhm … Pfff … Hm … nuschelten. Ein paar Sekunden verstreichen, während ich Nathalia grob einer Kategorie zuzuordnen versuche. Fürs Erste würde ich schätzen: melancholische Depression.
»Erinnern Sie sich noch an Ihr letztes Foto?«
»Ja.«
»Was war darauf?«
»Ein Mord.«
Nathalia ist wieder weg. Ich habe die Sitzung direkt nach diesen Worten beendet. Man darf sich nie auf das Spiel der Patientinnen und Patienten einlassen. Hier drinnen ist das Leben nicht so wie da draußen. Da draußen reagieren die Leute verblüfft auf eine derartige Geschichte, es hagelt Fragen, die Aufmerksamkeit konzentriert sich, das Adrenalin steigt. Hier drinnen nicht. Hier ist es anders. Nachdem sie aufgestanden war und gezahlt hatte, haben wir Handynummern ausgetauscht. Das halte ich immer so. So können die Patientinnen und Patienten mich im Notfall erreichen und umgekehrt. Es ist eine Verbindung, von der wir Gebrauch machen – oder eben nicht.
Meine Akte wird wie folgt aussehen:
Vorname: Nathalia.
Nachname: Guitry.
Grund des Besuchs: Hat einen Mord fotografiert.
Symptome: Antriebsarmut.
Diagnose: Melancholische Depression.
In einer weiteren Spalte notiere ich immer, was mir nach der ersten Sitzung durch den Kopf schießt. Diesmal schreibe ich: Fantasie, Wahrheit, Lügensucht.
Wir haben keinen Folgetermin vereinbart, wenn sie einen möchte, muss sie mich kontaktieren.