Ich heiße Alice Larjac, und ich helfe dir, endlich die Beziehung zwischen Mann und Frau zu verstehen. Herzlich willkommen zu meinem neuen Video.« Mit diesen Sätzen beginne ich, fröhlich lächelnd, alle meine Videos. Ich habe eine Fotokamera, mit der man auch filmen kann. Eine Leica. Ich stelle ein paar Videoleuchten auf, checke mein Make-up, streiche mir die langen braunen Haare nach vorne über die Schultern.
Das Set-up ist immer dasselbe: Ich sitze auf meiner Couch, vor der blauen Lithografie von Jacques Monory an der Wand, und schaue gerade in die Kamera. Meine kleine, eigentlich ganz banale Einleitung wirkt wie ein Mantra. Mein YouTube-Kanal hat inzwischen 278k Follower. Das heißt, zweihundertachtundsiebzigtausend Menschen folgen mir. Als hätte ganz Bordeaux oder Montpellier meinen Content abonniert.
Ich liebe meinen Job, ich helfe Menschen – Männern und Frauen. Meine Videos sind nur selten länger als fünfzehn Minuten und behandeln alles, was mit Liebe und zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat. Sie tragen Titel wie: Sie weiß nicht, was sie will – und jetzt?, Fünf Eigenschaften, die Frauen bei Männern wirklich wollen, Sechs Tipps, um eifersüchtige Frauen zu erkennen, Achtung Narzisst(in): Wie man sie entlarvt … und das Weite sucht!, Liebe und Manipulation – wo liegt die Grenze?, Eifersucht – Scharfmacher oder Beziehungskiller?, Fünf Männertypen zum Davonlaufen, Fünf Frauentypen zum Davonlaufen, Helfersyndrom – was willst du mit diesem Loser?, Echte Prinzessinnen brauchen kein Schloss – will sie bloß dein Geld?, Der binäre Mensch – eat the Spießer, Das letzte Einhorn: die harmonische Beziehung.
»… Der Grat zwischen Gentleman und Weihnachtsgans ist schmal. Solltet ihr in diese Gefilde geraten, meine Herren, passt gut auf euch auf. Lasst euch nicht ausnehmen. Lehnt ab, sagt Nein und beobachtet die Reaktion eurer Partnerin. Jede taktvolle, höflich formulierte Absage sollte akzeptiert werden. Versteift sie sich, schmollt oder redet nicht mehr mit euch? Liegt plötzlich Spannung in der Luft, eine drückende Stille, habt ihr das Gefühl, wie auf Eiern zu laufen? Fühlt ihr euch schuldig, weil ihr ihr etwas abgeschlagen habt? All das ist toxisch und eine Form von Gewalt, dessen solltet ihr euch bewusst sein. Jemand, der euch liebt, schmollt nicht. Schaut euch dazu gerne auch mein Video über schmollende Frauen an, das verlinke ich euch rechts unten. So viel für heute. Ich heiße Alice Larjac, und das war mein neues Video über Männer, die einfach zu nett sind. Bis zum nächsten Mal, macht’s gut!«
Ich beuge mich vor, um die Leica auszuschalten. Ein neues Video ist abgedreht, in zwei Tagen stelle ich es online. Fehlen bloß noch zwei Fotos – der britische Schauspieler David Niven aus den 1960ern, im Smoking mit einem Martini in der Hand, und eine dicke Gans, die mit ihren gelb umrandeten Glupschaugen in die Kamera starrt. Die beiden Bilder werden kurz eingeblendet, wenn ich meinen Satz mit dem Gentleman und der Weihnachtsgans sage. Auf den bin ich übrigens ziemlich stolz. Eine echte punch line.
Ich gebe auch Seminare, dafür miete ich Säle in verschiedenen Städten an: Paris, Straßburg, Lyon, Nantes … Zwischen achtzig und hundert Leute nehmen an jedem teil. Ich schneide die Seminare mit, und man kann sie im Anschluss als MP3 auf meiner Website erwerben. Außerdem biete ich ausgewählten Followern bezahlte »Telefonsprechstunden« an. Sie schildern mir ihr Beziehungsproblem, und ich sage ihnen meine Meinung – nur meine persönliche Meinung auf Grundlage der Fakten, keine Ratschläge. Meistens stecken die Leute so tief drin, dass sie gar nichts mehr sehen oder verstehen. Sie haben sich verirrt, deshalb rufen sie mich an. Damit verdiene ich nicht schlecht. Ich habe ein paar Stammkunden – größtenteils Männer, aber auch die eine oder andere Frau.
Ich bin vierunddreißig und mache das Ganze jetzt seit sechs Jahren. Angefangen hat alles mit einem Buch, das mir Aïcha eines Tages in die Hand gedrückt hat. Aïcha ist meine beste Freundin. Das Buch hieß: Der perfekte Einklang – wie man die Welt versteht, indem man sich selbst versteht. Ich runzelte die Stirn. »Sag bloß, du liest jetzt auch solchen Selbstfindungsmist, Alte.« »Ey, das habe ich im Buchladen gesehen, als ich mir den neuen Houellebecq geholt habe, das Ding geht gerade richtig durch die Decke, deswegen wollte ich mal reinschauen, und es ist gar nicht mal so dumm.« Ich verdrehte die Augen, aber versprach, es mir anzugucken. Ein paar Tage später schickte ich ihr eine Nachricht: »Bin durch mit deinem Schmöker, da stehen echt ein paar brauchbare Sachen drin.«
Sie antwortete: »Du könntest das besser.«
Aïcha und ich kennen uns, seit wir achtzehn sind. Jeden Abend nach der Uni saß ich allein an einem Tisch im Café, immer demselben, und rauchte in Ruhe eine Zigarette. Anschließend kaute ich einen Mentholkaugummi, damit der Mundgeruch wegging – meine Eltern sollten nichts davon erfahren. Eines Tages bat mich eine junge Frau um Feuer. Dann setzte sie sich an den Nachbartisch und zog an ihrer Zigarette. Irgendwann drehte sie sich zu mir und fing an zu grinsen. »Sag jetzt nicht, dass wir hier das Gleiche machen. Eine rauchen und dann auf dem Heimweg Kaugummi kauen, damit unsere Eltern nichts mitkriegen?« Ich prustete los. »Jep, genau das.« Aïcha kam zu mir an den Tisch. Sie war mir direkt sympathisch mit ihrem breiten Lächeln, den Rehaugen und den braunen Locken.
»Ich heiße Aïcha«, stellte sie sich vor.
»Und ich Marie-Edwige.«
Ach ja, das sollte ich wohl noch erwähnen: Ich heiße nicht Alice, und schon gar nicht Larjac, mein Name ist Marie-Edwige de La Tourrière. Nichts hat mich dazu prädestiniert, einmal YouTuberin zu werden. Wobei, vielleicht doch. Eigentlich wollte ich Schauspielerin werden. Theater oder Film. Ich liebe es, in andere Rollen zu schlüpfen. Schon als Kind habe ich mich gern verkleidet, um ein paar Stunden lang eine andere zu sein – ob ich eine Prinzessin oder einen Prinzen spielte, eine Bettlerin oder einen Pelztierjäger, war mir dabei egal. Die Kostüme klaute ich meinem Bruder oder bastelte sie selbst, und ich ging so in meiner Rolle auf, dass ich am Ende ganz vergaß, wer ich wirklich war. Ich reagierte nicht einmal, wenn man mich bei meinem grässlichen Vornamen rief. Schließlich lassen sich eine Königin oder ein Ganove mit schwarzem Umhang nicht zum Nachmittagssnack beordern. Mit dreizehn beschloss ich dann, die Schauspielerei später zu meinem Beruf zu machen. Als ich es meiner Mutter sagte, verpasste sie mir eine Ohrfeige. Mein Vater ging dazwischen und hielt mir eine Predigt über dieses gefährliche Metier, in dem es doch nur Verbrecher, Drogenabhängige, Prostituierte, Freimaurer und Juden gebe. Ich verzog mich wieder in mein Zimmer und betrachtete das große gerahmte Poster von Greta Garbo an der Wand. Und das daneben von Louis Jouvet. Und ich dachte, dass die ganze Sache wohl nicht leicht werden würde.
Mein Prädikat und ich sind ein reines Produkt des Adels. Ein reines Produkt der Aristokratie – weder reich noch arm, aber all deren Werten und Überzeugungen ergeben. Ich bin im siebten Arrondissement aufgewachsen, mit Charles-Édouards und Marie-Bérangères, die immer von ihren Eltern von der Schule abgeholt wurden. Die Väter trugen himbeerrote Hosen und Mokassins mit Quasten, die Mütter Hermès-Taschen und Zopf mit Schleife, manchmal sogar samtenen Haarreifen. Ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht im Krankenhaus vertauscht wurde, ob ich nicht in Wahrheit die Tochter eines gefeierten Filmproduzenten oder eines berühmten Models war und nur durch eine grausame Laune des Schicksals bei meinen Eltern gelandet bin. Meinen lächerlichen Vornamen habe ich schon immer gehasst, wie ein Kreuz habe ich ihn meine gesamte Kindheit und Jugend über getragen – ich wurde nach der Großmutter meines Vaters benannt. Als ich eines Tages meinen Verdacht, im Krankenhaus vertauscht worden zu sein, laut aussprach, brachte mir das eine weitere Ohrfeige ein. Mein Bruder Édouard dagegen ist der perfekte Sprössling, der Stolz der Familie. Er ist beim Militär, war auf der Offiziersschule in Saint-Cyr. Im Büro meines Vaters steht ein Foto von ihm in Uniform mit seinem Degen. Von mir nicht. Wobei, doch, eins: Da bin ich sechs und trage eine Mütze, das war in den Bergen. Meine Eltern sind rechtsextrem, manchmal verfallen sie sogar in Royalismus. Nach außen hin bezeichnen sie sich als »konservativ«.
Zurück zu Aïcha. Aïcha stammt aus den Hochhäusern der Vorstadt, aber dort wollte sie nicht bleiben. Sie war die Beste in unserem Jurajahrgang, während ich nicht vorankam – weil ich für die Uni auch rein gar nichts tat. Eines Tages sagte sie zu mir: »Wir können uns gegenseitig was beibringen. Ich verrate dir, was ich über Typen, Frauen, Sex, das Leben weiß, und du mir alles über deine Kinderstube, deine Klasse, eure Codes, den ganzen Bürgertum- und Adelskrams. Das ist win-win, Alte.« Das machen wir schon immer so. Wir nennen uns fast nie beim Vornamen, sondern sagen: Alte. Einmal während des Hauptstudiums ist Aïcha mit zu mir gekommen. Mein Vater war da mit seinem Finanzbuchhalter, und meine Mutter hat mit einer Freundin Tee getrunken. Aïcha hat zu allen höflich hallo gesagt, dann sind wir in mein Zimmer. Kaum war sie wieder weg, stand mein Vater in der Tür und schaute mich schweigend an.
»Du bist mit einer … Araberin befreundet?«, fragte er mich so langsam und tonlos, als würde er mir verkünden, dass ein Asteroid auf die Erde zurast, der uns zurück in die Steinzeit katapultiert. »Ja, Aïcha ist meine beste Freundin«, antwortete ich scharf. »Aïcha …«, murmelte mein Vater bestürzt, ehe er ohne ein weiteres Wort wieder verschwand. Kurz darauf platzte er so plötzlich herein, dass ich zusammenzuckte. »Deine Mutter und ich schicken dich zu Tanzabenden! Wir schicken dich zu deinesgleichen, damit du Leute aus unserer Klasse triffst, wir investieren viel in dich, Marie-Edwige!«, ereiferte er sich mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Und du dankst es uns mit schlechtem Umgang, deinen grotesken Schauspielkursen und jetzt auch noch einer arabischen Freundin! Komm endlich zur Besinnung!«
Ich weiß noch, dass ich ihm kalt und fest in die Augen sah, wie ich es von Jean-Laurent Cochet, meinem legendären Schauspiellehrer, in seinem heiß umkämpften Kurs gelernt hatte. Dann sagte ich langsam: »Ich heiße nicht Marie-Edwige. Mein Name ist Alice.«
Mein Vater wurde blass und stürmte hinaus. Die Tür knallte er so fest hinter sich zu, dass mein Greta-Garbo-Poster runterfiel.
Alice Larjac. So hieß eine Kundin in dem Klamottenladen, wo ich neben dem Studium gearbeitet habe, um den Kurs bei Cochet zu finanzieren, bis er eines Tages meinte: »Behalt dein Geld, du brauchst es dringender als ich, dein Leben wird nicht einfach werden.«
Darauf konnte ich nichts erwidern, nur seine Großzügigkeit annehmen. Von da an gehörte ich zu dem kleinen Grüppchen, das nichts bezahlte, es den anderen aber natürlich nicht verraten durfte. Jean-Laurent Cochet war ein Großmeister, fast alle französischen Filmstars sind durch seine Schule gegangen. An Alice Larjacs Gesicht kann ich mich kaum mehr erinnern: elegant, freundlich, braune Haare. Ihr Name gefiel mir, also eignete ich ihn mir heimlich, still und leise an. Heute bin ich einigermaßen bekannt im Netz mit meinen Coachings und lebe davon. Trotzdem hat mir noch keine Alice Larjac geschrieben und gefragt, warum ich denselben Namen trage. Wenn man googelt, findet man noch nicht einmal eine andere Alice Larjac. Aber es hat sie gegeben.
Meine Jurakurse besuchte ich ohne Überzeugung, meine Schauspielkurse mit Leidenschaft. Ich wohnte inzwischen mit Aïcha zusammen. Mein Vater schickte mir widerwillig Schecks, damit ich über die Runden kam. Aïcha trieb immer irgendwo Geld auf – ich will gar nicht wissen, wie. Darüber sprachen wir auch nie. Sie ging weiter ihren Weg und brillierte, Abschluss von der Sciences Po und der École nationale d’administration, dann lernte sie ihren Chef kennen. Seinen Namen darf ich nicht verraten, aber er ist ein Magnat der CAC 40. Damals suchte er gerade eine persönliche Assistentin – aka jemanden, die immer bei ihm ist, alles über ihn und seine Angelegenheiten weiß und sich um alles kümmert. Das ist krass anstrengend, ein Leben auf der Überholspur. Also wie für Aïcha gemacht. Inzwischen ist sie seit mehreren Jahren sein Filter, die Zauberformel, um zu ihm zu gelangen. »Besprechen Sie das mit Aïcha« – diesen Satz sagt er wahrscheinlich vierzig Mal die Woche.
Aïchas Chef ist sehr klein, nur 1,62 Meter groß, und darunter leidet er. Außerdem hat er eine Glatze – und der Verlust seiner Haare um die dreißig scheint ihn noch tiefer getroffen zu haben als seine geringe Körpergröße. Nach einem frostigen Meeting, bei dem sich zwei Großkonzerne gegenseitig an die Gurgel gingen, verlor der Chef des anderen die Nerven. Er folgte ihnen auf den Flur zu den Aufzügen und beleidigte Aïchas Chef als Opportunisten, als Schlange und als … kahlköpfigen Zwerg. Der »kahlköpfige Zwerg« blieb stehen, drehte sich um und musterte den Widersacher schweigend. Und dann ging’s ab. Aïcha ist 1,75 Meter groß, mit ihren hohen Hacken ragt sie also locker 1,80 Meter auf, und sie ist so wunderschön, dass sie auch das Cover der Vogue zieren könnte. Wenn sie einen Raum betritt, verstummen die Gespräche. Sie machte einen Schritt auf den anderen Chef zu, der sofort zurückwich. Und dann … platzte plötzlich die Straße wieder aus ihr heraus, schneller als ein Rap von Eminem, ich kann es mir lebhaft vorstellen, ich habe selbst schon miterlebt, wie sie Männer und Frauen in Bars anschreit, einmal sogar einen Hund. Eine Mischung aus Vorstadt-Slang, Verlan, Englisch und Arabisch, drei Beleidigungen pro Satz, flammende Metaphern und Vergleiche, die nicht einmal Michel Audiard gewagt hätte. Dabei haut sie sich gegen die Brust, nur um gleich darauf den Finger in deine Richtung zu stechen. Das ist kein Wortgefecht, sondern ein Brandbombengroßangriff.
Ihr Gegenüber erstarrte, stand bleich und sprachlos da, während Aïcha und ihr Chef in den Aufzug stiegen.
»Ich weiß, ich bin gefeuert«, sagte sie kühl.
»Im Gegenteil«, erwiderte ihr Chef ruhig, »ich verdopple Ihr Gehalt.« Und die Türen glitten hinter ihnen zu.
Meine Freundin ist schon zwanzig Mal um die ganze Welt gejettet, hat Jeff Bezos, Roman Abramowitsch und sogar Donald Trump die Hand geschüttelt.
Dagegen wirkt mein Lebensweg eher schlicht. Zehn Jahre lang war er sogar ziemlich durchschnittlich. Ich hatte jede Menge Affären, die nie irgendwo hinführten, entweder bin ich gegangen oder die Männer haben mich irgendwann verlassen. Ich liebte das Kino, ich liebte das Theater, aber diese Liebe beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Ich ging zu Tausenden Castings, aber mehr als ein paar Krumen fielen nie ab. Schlecht war ich nicht, bloß fehlte mir anscheinend irgendetwas. Dabei erlebte ich immer wieder, wie völlige Nulpen groß rauskamen, die wie ein Stück Toastbrot spielten und so nuschelten, dass man nicht einmal den Text verstand. »So ist das, Spätzchen, das ist das große Geheimnis unseres Berufs, zerbrich dir nicht den Kopf darüber, das quält dich nur, und es gibt keine Erklärung«, meinte Cochet. Ich machte Werbung für Versicherungen oder Waschmittel, spielte kleinere Rollen für Fernsehen und Theater. Einmal sogar eine Nebenfigur in einer Serie, eine abgefuckte Polizistin. Das traf sich gut, damals war ich selbst ziemlich am Ende, da musste ich mich nicht groß einfühlen. Dann plötzlich nichts mehr. Ich rief meine Agentur an. »Im Moment haben wir nichts für dich, Alice, wir melden uns, wenn wir was sehen.« Mein Einkommen versiegte, von meinem Vater bekam ich keinen müden Cent mehr, bis Aïcha schließlich meine einzige Sponsorin war. Jeden Monat kam eine Überweisung von ihr. Als ich sie einmal ausschlagen wollte, nahm sie es mir übel. »Die Begegnung mit dir war der wichtigste Moment in meinem Leben, ohne dich wäre ich heute nicht da, wo ich bin. Ich verdiene einen Arschvoll Geld, ich kann dich unterstützen, also tue ich es auch, Punkt. Überleg dir, wo du hinwillst. Kino, Theater, das interessiert doch echt niemanden mehr, das ist total out, das hatte seine Glanzzeit damals bei Brigitte Bardot und Belmondo, aber das ist vorbei. Deine Welt ist tot, Alte, wach auf.«
Das wirkte wie ein Elektroschock. Aïcha hatte recht, es würde niemals funktionieren. Ich verkroch mich zwei Tage lang im Bett, um den Schlag zu verdauen. Diese Einsicht machte mich ganz schwindelig. Das Flugzeug stürzte ab, ich sprang ins Nichts, ohne recht zu wissen, ob ich einen Fallschirm auf dem Rücken trug. Konnte Alice Larjac auch das Pseudonym einer anderen sein als einer Schauspielerin? Konnte ich eine andere Alice Larjac sein? Ja … nur welche?
Aïcha brachte es auf den Punkt. »Du hast mit jeder Menge Typen geschlafen, kennst alle sozialen Schichten, hast Hunderte Bücher gelesen, Tausende Filme gesehen, du bist viel gereist, hast Theater gespielt und Ausstellungen besucht. Jetzt mach was draus!«
Und dann fiel ihr das Buch über Persönlichkeitsentwicklung in die Hände. Ich habe die Autorin gegoogelt und mich zu diversen Podcasts und YouTube-Videos durchgeklickt. Das war ein richtiger Dschungel. Ein Weihnachtsmarkt, auf dem alle ein und dasselbe Produkt in leicht unterschiedlichen Ausführungen verkauften – wobei der größte Unterschied in der Person lag, die da verkaufte. Mann oder Frau. Eingebildet oder sympathisch. Groß und schlank oder blondes Pummelchen. Zwei Nächte lang schlug ich mir damit um die Ohren. Dann schnappte ich mir den Fotoapparat, den mein Ex nach der Trennung bei mir vergessen hatte und den ich ihm eigentlich, zusammen mit seiner Armbanduhr, längst hätte zuschicken sollen. Und nahm ein Video auf. Ich fing ganz schlicht an. »Hallo, ich heiße Alice, und ich erzähle euch heute von meiner Trennung. Warum es zwischen uns nicht geklappt hat, warum ich gegangen bin.« All die Kurse bei Cochet zahlten sich aus. Als ich fertig war, hatte ich das Gefühl, etwas richtig Gutes erschaffen zu haben. Besser als Marivaux, besser als das zeitgenössische Theater, besser als das Fernsehen und die Werbung. Besser als alles.
Um drei Uhr nachts hatte ich fünfzehntausend Views und zweihundert Kommentare. Ich habe sie alle gelesen. Um zwei Uhr nachmittags waren es schon siebenundachtzigtausend Views und zweitausendfünfhundert Kommentare. Ich ging in die Buchhandlung, kaufte zwanzig Bücher über Persönlichkeitsentwicklung und dreißig über Soziologie. Dann schloss ich mich eine Woche lang ein, machte mir hefteweise Notizen, versuchte alles, was ich las, auf mein Leben zu beziehen und anschließend meine eigene Erfahrung um die anderer Menschen zu erweitern. Den Fotoapparat und die Uhr schickte ich weg und besorgte mir meine eigene Ausrüstung. Schließlich stellte ich ein zweites Video auf meinen YouTube-Kanal: Männer sind Idioten, Frauen aber auch.
Und nun bin ich hier. Aïcha ist sehr stolz auf mich und kommentiert jedes meiner Videos, meine Eltern sind geschockt, aber das kümmert mich schon lange nicht mehr. Natürlich sehe ich mich nicht mit fünfundsiebzig noch auf dem Medium, das YouTube im Metaversum ersetzen wird, über die Beziehung zwischen Männern und Frauen fachsimpeln. Aber für den Moment bin ich zufrieden.
Sogar glücklich.
Ja, gerade bin ich wirklich sehr glücklich.