Sie liegt schon eine Weile auf der Couch, trotzdem schweigen wir. Zwischen den Fingern lässt sie geschickt eine helle Zigarette herumwandern. Ich schiebe ihr den Aschenbecher hin, aber sie scheint sich noch nicht sicher zu sein, ob sie sie auch anzünden will.
»Wer ist Alice Larjac?«
»Die Frau, die im Erdgeschoss wohnt.«
»Eine Frau, die ihr Leben ändert.«
»Ja.«
»Sie fotografieren nicht mehr. Möchten Sie Ihr Leben ändern, Nathalia?«
»Denken Sie, dass diese Figur mein Alter Ego ist?«
»Was denken Sie?«
Wieder Schweigen. Ich hätte gerne irgendeine Antwort, doch von ihr kommt nichts. Ich sitze an meinem Schreibtisch, und mein Blick fällt auf meine Sammlung. Ich sammle nur eine Sache, einen ganz speziellen Passepartoutschlüssel aus Schmiedeeisen. Das Besondere daran ist, dass sich an beiden Enden des Halms Bärte befinden. Statt eines Rings gibt es einen herzförmigen Schieber, der sich hin und her bewegen lässt. Verkeilt man ihn in einem der beiden Bärte, fungiert er als Griff. Ein Passepartout wurde früher vom Schlossergesellen gefertigt, der alle Schlösser in einem Haus verantwortet hatte. Am Ende überreichte er dem Hausherrn diesen einen Schlüssel, der sämtliche Türen öffnete. Meinen ersten habe ich auf einem kleinen Flohmarkt ganz in der Nähe erstanden. Ich fand ihn amüsant, weil er so symbolträchtig – Schlüssel zum Herzen – und gleichzeitig so durch und durch nützlich, so absolut kohärent war.
»Sobald man zwei hat und den dritten sucht, ist man ein Sammler«, warnte mich ein Antiquitätenhändler. Darüber habe ich noch gelächelt. Den zweiten Passepartout kaufte ich fast ein Jahr nach dem ersten und begab mich anschließend tatsächlich auf die Suche nach dem dritten.
Seither betrachte ich diesen sonderbaren Schlüssel, der mit einem Herzen geschmückt ist und Dutzende Türen öffnet, als Sinnbild für meinen Beruf. An meiner bescheidenen Sammlung hänge ich sogar noch mehr als an meinem Archiv. Letztes Jahr bat mich ein Verein hochgelehrter Schlüsselliebhaber um ein Vorwort zum Katalog einer Retrospektive über antike Kunstschlosserarbeiten. Ich hatte sehr große Mühe damit, den kurzen Text lehrreich und unterhaltsam zu gestalten. Jetzt erinnere ich mich wieder daran, welchen berühmten Autor ich damals bemüht habe: Ich durchsuchte YouTube nach allem, was ich finden konnte, über … Sacha Guitry. Seine Schlagfertigkeit und sein Wortwitz haben mir viel geholfen. Leider konnte ich die Eröffnung der Ausstellung dann gar nicht besuchen, weil ich in Genf bei einem Kongress zum Thema Verdrängung – Symptom einer Störung oder Wohltat des inneren Friedens weilte. Ich verschlief einen Großteil davon. Mein Sitznachbar, ein Analytiker aus Schweden, hatte seinen Kopfhörer mit der Verdolmetschung schon vor geraumer Zeit gegen einen Flachmann voll Rum getauscht, den er mir regelmäßig anbot. Doch da ich kaum Alkohol trinke, musste ich weiter trunken vor Langeweile dahindämmern.
Jetzt bewundere ich die Passepartouts, die in einer festen Reihenfolge auf meinem Schreibtisch platziert sind. Alle Herzen in der Mitte des Halms und nach rechts gedreht. Wie viele Türen in einem Wohnsitz aus dem achtzehnten Jahrhundert kann so ein Passepartout wohl öffnen? Fünfzehn? Fünfundzwanzig? Ich besitze neun Stück. Neun mal fünfundzwanzig … Zweihundertfünfundzwanzig Türen. Ich habe hier auf meinem Schreibtisch die Schlüssel zu zweihundertfünfundzwanzig Türen. Aber diese zweihundertfünfundzwanzig Türen gibt es längst nicht mehr. Umbauten, Revolutionen und Kriege dürften inzwischen alle passenden Schlösser zerstört haben, und so bleiben die Türen imaginär.
Unbrauchbare Schlüssel zu Türen, die nicht mehr existieren. Das ist meine Sammlung. Doch das werde ich Nathalia nicht verraten, sie ist zu mir gekommen, weil sie einen Schlüssel sucht, und ich werde ihn ihr geben. So sehe ich meine Arbeit, so habe ich sie schon immer gesehen.
»In Ihrer Geschichte klingt Ihr Wunsch nach Veränderung an, Nathalia. Sie wünschen sich, dass irgendetwas passiert, das sie dazu zwingt, eine andere zu werden. Eine Entscheidung zu treffen. Bloß gibt es in der Realität, im Gegensatz zu Ihrer Geschichte, kein Schicksal, das die Karten verteilt. Im echten Leben sind die Optionen trivialer.«
»Woher wollen Sie das wissen? Dass es kein Schicksal gibt, das die Karten verteilt, wie Sie es ausdrücken?«
»Das ist eine romantische, unrealistische Vorstellung.«
»Inwiefern sind die Optionen trivialer?«
»Ein Beispiel, das sich aus Ihrer Geschichte ableiten lässt: Sind Sie sich sicher, dass Sie weiter als Fotografin arbeiten möchten?«
Ich warte kurz, ehe ich fortfahre. Am Beruf einer Patientin zu rütteln, ist heikel, aber oftmals sehr nützlich zur Introspektion. Und die Psychoanalyse ist im Grunde nichts als Introspektion.
»Sind Sie sich sicher, dass es keine andere Nathalia gibt, die ein anderes Leben führen könnte? Ganz wie diese Frau, die Schauspielerin werden wollte und am Ende im Coaching ihre Berufung findet. Und zwar sehr erfolgreich.«
Nathalia antwortet nicht, und ich beschließe, ihr Schweigen als den Beginn einer Selbstreflexion zu werten.
Für die erste Sitzung mit dieser Art von Schreibübung hat unser Austausch bereits eine interessante Entwicklung genommen. Wir gelangen auf Umwegen zu den genau richtigen Fragen.
»Nun sind Sie dran«, sage ich, während sie bezahlt, »bewegen Sie diesen Gedanken weiter in sich. Allein.«
»In Ordnung, und Sie bewegen das hier.«
Sie reicht mir einen Zettel, auf dem eine Telefonnummer steht.
»Was ist das?«, frage ich neugierig.
»Die Nummer von Alice Larjacs Website, unter der man ein Coaching buchen kann. Sie sollten mit ihr sprechen. Aber Sie haben sie ja sowieso längst gegoogelt. Sie wissen ganz genau, dass es sie gibt.«
Ich schaute sie an. Und sah eine geniale, erstaunliche junge Frau. Vielleicht ebenso eisig wie ihre Augen, aber auch faszinierend, unberechenbar. Mein Fantasie, Wahrheit, Lügensucht in ihrer Akte strich ich und ersetzte es durch die einzige Beschreibung, die mir zuzutreffen schien – ich habe lange gebraucht, um sie zu finden: gefährlich sanft.