Die kleinen Macken meiner Patientinnen und Patienten sind meist seltsam, aber harmlos. Mein Kleptomane brachte mir regelmäßig etwas von seiner »Einkaufstour« beim Antiquitätenhändler mit. Er ist letztes Jahr gestorben, und ich besitze noch immer zwei Gegenstände, deren Herkunft ich ihm nie entlocken konnte: einen hübschen Briefbeschwerer aus Eisen und ein Luntenfeuerzeug. Nathalias Zettel mit der Telefonnummer allerdings dringt unvorhergesehen in mein Leben ein. Weil er eine Versuchung ist. Kein Vergleich mit einem alten Feuerzeug ganz hinten in einer Schublade.
Natürlich habe ich überprüft, ob es Alice Larjac wirklich gibt, und nach ein paar Klicks ihre Website und ihre Videos auf YouTube gefunden. Über ihre Schauspielkarriere oder Jean-Laurent Cochet verrät sie nichts. Sie kennt sich recht gut mit Soziologie aus, wirkt belesen und pfiffig und scheint eine gute Intuition zu haben. Ihre Haare sind tatsächlich lang und braun, und auch sonst entspricht sie in jeder Hinsicht Nathalias Beschreibung.
Ich habe eine Weile gezögert, ehe ich die Nummer wählte. Ich landete in einer Zentrale bei einem Mann, der mir einen Telefontermin in zwei Tagen um sechzehn Uhr gab. Ich bat um eine Verschiebung auf achtzehn Uhr. Er willigte ein und wies mich an, im Voraus über die Website zu bezahlen. Das habe ich auch getan: neunzig Euro für zwanzig Minuten Gespräch.
Zwei Tage später klingelte der Alarm meines Handys nach meinem letzten Termin. Ich stellte ihn ab, schenkte mir ein Glas Wasser ein, setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und wählte die Nummer. Diesmal ging eine Frauenstimme dran, teilte mir mit, dass ich Bruno heiße – das Pseudonym, das ich bei der Terminvereinbarung verwendet hatte – und innerhalb einer Minute mit Alice Larjac verbunden würde. Anschließend hing ich in einer Warteschleife mit ziemlich kitschigem Synthesizergedudel, bis jemand abhob.
»Hallo, Bruno, hier spricht Alice, danke für deinen Anruf, wie kann ich dir helfen?«
»Haben Sie eine Freundin namens Aïcha?«
Schweigen. Dann, ein wenig dunkler: »Sie kennen Aïcha?«
»Keine Sorge, der Grund meines Anrufs ist völlig harmlos, ich will weder ihr noch Ihnen etwas Böses. Ihre Gegenfrage genügt mir bereits als Antwort. Das Coaching ist bezahlt, wir können das Ganze an dieser Stelle beenden.«
Sie erwiderte: »Noch eine Gegenfrage – wer sind Sie?«
Diesmal schwieg ich kurz.
»Ich bin Psychoanalytiker. Ich arbeite mit jemandem, der Sie kennt.«
»Ich frage Sie nicht nach dem Namen, den können Sie mir natürlich nicht verraten. Aber interessant … Rufen Sie gerne irgendwann noch mal an, dann vergleichen wir unsere Ansätze, wir können bestimmt einiges voneinander lernen.«
»Ja, vielleicht … Auf Wiederhören, Alice.«
»Auf Wiederhören … Bruno.«
Was ich Alice Larjac verschwiegen habe, ist, dass eins ihrer Videos mich besonders berührt hat. Was machst du gerade?, lautet der Titel, es ist nur acht Minuten lang. Ihr zufolge kann man messen, wie viel man den Menschen, die man liebt, bedeutet, indem man ihnen eine Nachricht mit dieser einfachen, zugeneigten Frage schreibt. Bedeutet man jemandem viel, schreibt diese Person sehr schnell zurück. Innerhalb von Minuten. Schließlich hat heutzutage jeder sein Handy immer dabei, überprüft es regelmäßig und registriert das Klingeln oder Vibrieren bei einer Nachricht. Die Person antwortet, was sie gerade macht, und erkundigt sich ihrerseits: »Und du?« Je länger die Antwort auf sich warten lässt, desto unwichtiger ist man der Person.
Ich habe meiner Frau geschrieben: »Was machst du gerade?« Und danach meiner Tochter.
Meine Frau hat mir nach vier Stunden geantwortet: »Ich bin in der Redaktion, warum?«
Meine Tochter erst am nächsten Tag. Drei sehr knappe Fragezeichen.