Der zweite Brief kam heute Morgen. Wieder ohne Marke, was mich vermuten lässt, dass Nathalia nicht weit von hier wohnt. Sicherlich schiebt sie den Umschlag durch den Schlitz in der Eingangstür. Eine Firma verteilt die Post anschließend auf die jeweiligen Etagen, außerdem kümmert sie sich darum, dass der Müll rausgestellt und das Treppenhaus geputzt wird. Einen Pförtner gibt es nicht mehr, und die vormalige Loge ist inzwischen ein Abstellraum für Fahrräder, Elektroroller und Kinderwagen.

 

Ich falte die Lasche auf. Mehrere computergeschriebene Seiten, die ich zurück in den Umschlag stecke. Ich werde Nathalias Geschichte später lesen, ihr Termin ist dann um vier. Dabei würde mich durchaus interessieren, in welches Leben sie sich diesmal eingeschlichen hat. Aber ich muss noch einiges an Papierkram erledigen vor meinem ersten Nachmittagstermin: das magersüchtige Mädchen, das sich endlich traut, geraspelte Karotten zu essen. Wir haben uns lange mit der Farbe Orange beschäftigt und sie schließlich als grundsätzlich positiv eingestuft.

Am liebsten würde ich ihr sagen: »Weißt du, ich behandle eine junge Frau, nur ein paar Jahre älter als du, die sehr hübsch und klug ist und meine Meinung schätzt; sie schreibt Geschichten, und ich entschlüssele sie.« Aber das tue ich natürlich nicht.

Für meine Tochter bin ich bloß ein Arzt, der keine Medikamente verschreibt. Ein Vater, der mit abstrusen Konzepten und kryptischen Texten jongliert, um hysterische Frauen und nicht lebensfähige Männer zu therapieren.

Meine süße, kleine Cathy, wenn du nur wüsstest.

Früher. Dieses berüchtigte Früher. Ja, früher war Catherine ein reizendes kleines Mädchen, ich erinnere mich noch genau, wie gut ihr mein Büro mit der Couch immer gefallen hat. Es war – und ist bis heute – das ruhigste Zimmer in der gesamten Wohnung. Sie machte es sich gerne mit ihren Filzstiften bäuchlings auf dem Polster bequem und malte oder zeichnete, mit überraschender, manchmal sogar beunruhigender Ausdauer.

Oft fragte ich sie: »Hast du auch wirklich Spaß?«

Später kamen die ersten Schulaufgaben. Eifrig füllte sie ganze Seiten mit Buchstaben, A, B, C in Schönschrift, während ich mir nach einem langen Tag des Zuhörens Notizen zu meinen Patientinnen und Patienten machte.

A … A … A … a … a

Leichte Verschlimmerung der Neurose. Neigt zu Abgeschlagenheit.

Ticks lassen nach. Hat sich vorgenommen, eine Reise zu machen (wenig glaubhaft).

B … B … B … b … b

Zwei Monate Krankschreibung. Psychose.

C … C … C … c … c

Hat ein beinahe kritisches Stadium der Selbstabwertung erreicht.

 

Gelegentlich nahm ich sie auf den Schoß, und sie spielte mit den Dingen auf meinem Schreibtisch, vor allem den Passepartouts, von denen ich damals noch nicht so viele besaß, es dürften vielleicht drei oder vier gewesen sein. Geschickt schob sie das schmiedeeiserne Herz von einem Ende des Halms zum anderen, manchmal versteckte sie den Schlüssel auch hinter ihrem Rücken, und ich musste raten: Welche Hand? Mit zwölf oder dreizehn Jahren dann näherte sie sich ihrer Mutter an, ein Prozess, der sich im Lauf der Jahre weiter fortsetzte. Und schließlich in dieser dumpfen Gleichgültigkeit mir gegenüber endete, die

Ich erinnere mich noch an ein Weihnachten, da muss Catherine zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Ich war mit ihr in der Autowerkstatt, weil es ein Problem mit der Versicherung ihres Rollers gab. Auf dem Heimweg kamen wir an einem An- und Verkauf vorbei. Im Schaufenster lag, halb versteckt unter einem Sammelsurium an Tand, ein Passepartout mit Herz aus dem achtzehnten Jahrhundert.

»Guck mal, dein Schlüssel«, meinte Catherine.

Wir betraten den Laden. Fünfundvierzig Euro sollte der Passepartout kosten. Ein Spottpreis für ein so gut erhaltenes Objekt. Weil ich ein geheimes Zeichen zwischen meiner Tochter und dem Verkäufer bemerkt zu haben glaubte, sagte ich, ich wolle es mir überlegen – überzeugt davon, dass Catherine sich mit dem Verkäufer verständigt hatte und später noch einmal wiederkommen würde, um mir den Schlüssel zu Weihnachten zu schenken.

 

Ich hatte mich geirrt, also ging ich im Januar noch einmal alleine hin und kaufte ihn mir selbst. Nicht einmal verhandelt habe ich.