Die Bordzeitung

Dann aber war es vorbei mit dem Müßiggang, denn Maro, der Funker, machte ernst. Nach der Durchfahrt durch die Meerenge von Gibraltar wollten wir mit unserem Zeitungsprojekt loslegen, darauf hatten wir uns geeinigt. Maro kam denn auch wirklich zu mir an Deck und fragte, ob ich bereit sei. »Sofort!« sagte ich und legte den Homer beiseite.

Wir gingen hinauf zu der Funkerkabine, und Maro erklärte mir kurz die Einrichtung. Sie war beängstigend klein und sehr eng, zwei Menschen konnten darin kaum nebeneinanderstehen. Es gab einen schmalen Tisch (vor zwei Bullaugen) mit schwerem technischem Gerät, und im ganzen Raum lagen Blätter, Tabellen und Aufzeichnungen verstreut herum. Das Ganze sah so aus, als wäre Maro ununterbrochen aktiv und eingespannt in die Arbeit, auf mich machte das einen starken Eindruck. Ein paar wenige Bücher lagen auch auf einem Regal, ich schaute nach den Titeln, und Maro sagte, dass er eigentlich nur Kriminalromane lese, nichts Anderes. »Und welche genau liest Du?« fragte ich, und er antwortete, dass er momentan alle Romane von Patricia Highsmith lese, die seien so ziemlich das Beste in diesem Genre.

Dann sprach er von der »provisorischen Ordnung«, die er Tag für Tag in die Nachrichtenberge bringe. Er ordne sie nach bestimmten Kategorien, und von jeder dieser Kategorien bringe er dann einige Nachrichten in der Zeitung. »Die Zeitung besteht schließlich aus einem Nachrichtensalat«, sagte er, »was Frisches, was Herbes, was schwer Verdauliches und so weiter. Am besten erkläre ich es Dir an ein paar Beispielen – und wir machen uns gleich an die Arbeit. Die Jungs warten schon seit Tagen auf unser Blatt.«

In der kleinen Kabine hatten wir keinen ausreichenden Platz für die Sichtung der Texte, deshalb gingen wir hinab in den Salon. Maro übergab mir mehrere Pakete mit lauter einzelnen Zetteln, die von roten Gummis zusammengehalten wurden. Ich hatte welche in beiden Händen und ging voraus, und Maro kam wenig später mit den Restpaketen hinterher. Auf dem runden Salontisch breiteten wir alles aus und legten die Zettelpakete nebeneinander.

»Hier«, sagte Maro und deutete auf das dickste Paket, »hier haben wir die harten politischen Facts. In diesen Tagen sind das zum Beispiel die Rassenunruhen in den USA, die Studentenproteste in Berlin oder, für uns hier an Bord wichtig und aktuell, die Beschlüsse der griechischen Militärjunta. Die müssen wir auf jeden Fall aufnehmen, denn die Mannschaft muss top informiert sein, wenn sie in ein paar Tagen an Land geht. Auch die Nachrichten über die Rassenunruhen oder die Studentenproteste sind hochaktuell und wichtig. Wir werden aber mit Reckling aneinandergeraten, wenn wir zu ausführlich darüber berichten. Reckling streicht ausufernde Nachrichten über die Studentenproteste ›gnadenlos‹ aus unserem Repertoire, da müssen wir uns etwas einfallen lassen und die Meldungen über die schmale Hintertür einschleusen. Wie das gehen könnte, zeige ich Dir noch.« – »Du hast den ganzen Stapel gelesen?« fragte ich. – »Natürlich. Gelesen und nach Dringlichkeit sortiert. Wichtig ist, dass die Meldungen nicht zu trocken oder abstrakt sind. Perfekt sind sie, wenn sie politische Themen mit Menschen verbinden, die jeder kennt.« – »Nenn mal ein Beispiel!« – »Hier, das wäre ein gutes: Melina Mercouri kennt jeder von den Jungs der Besatzung. Den Film Sonntags nie … haben sie alle mindestens einmal gesehen, und wie verrucht Melina Mercouri singen kann, wissen wir auch spätestens seit diesem Film. Sie ist also eine sichere Nummer, über sie will man mehr wissen. Und was erfahren wir an diesem Wochenende anhand unserer Quellen? Dass die Militärjunta sie ausgebürgert und ihr Eigentum beschlagnahmt hat! Diese Nachricht bringen wir unbedingt, und wir bringen auch den Mercouri-Kommentar.« – »Und der wäre?« – »Sie hat die griechische Regierung ›faschistisch‹ genannt und als Diktatur bezeichnet. Sowas müssen die Jungs natürlich wissen. Stell Dir vor, einer von ihnen redet in Patras oder Athen freundlich über Melina Mercouri. In Acht nehmen sollte er sich und vorher zweimal nachdenken!«

Mit solchen Problemen hatte ich nicht gerechnet, sondern mir die Sache viel einfacher vorgestellt. Anscheinend mussten wir jede Nachricht erst daraufhin abklopfen, wie sie wirken würde und was ihre Mitteilung alles so anrichten könnte. So gesehen, waren die meisten Nachrichten eine heiße Ware, deren Gewichtung einiges Fingerspitzengefühl und viel Gespür verlangte.

Ich sagte das Maro, und ich sagte auch, dass ich mir die Gewichtung solcher Nachrichten noch nicht zutraue. »Momentan vielleicht nicht«, antwortete er, »aber in ein paar Tagen wohl schon. Du wirst das rasch lernen.« – Ich fragte ihn nach den harmloseren Kategorien, keine »politischen Facts«, sondern »Nachrichten aus aller Welt«. Maro lachte, als er die altmodische Bezeichnung hörte: »Nachrichten aus aller Welt, ja, mein Gott, das sind die Lachnummern! Intern nennen wir sie so. Reckling ist ein Freund dieser Nummern. Wenn es nach ihm ginge, könnte die ganze Zeitung aus solchen Nummern bestehen.« – »Hast Du auch dafür ein Beispiel?« – »Ja, etwas Aktuelles. Man hat Bundespräsident Lübke nahegelegt, nicht mehr frei zu reden, sondern generell nur noch vom Blatt abzulesen. Er hat sich bei seinem letzten öffentlichen Auftritt auch daran gehalten, das Blatt mit dem vorgefertigten Text in die Hand genommen und gesagt: ›Es ist mir eine besondere Freude, diese Rede vom Blatt abzulesen. Hiermit tue ich das langsam und deutlich.‹«

Maro lachte laut und wiederholte sogar noch einmal, was er gerade gesagt hatte. Sein Lachen hatte etwas vom deftigen Lachen des Kapitäns, anscheinend verwandelte er sich bei einem solchen Lachen in jenen Mann, dem er mit solchen Nachrichten eine besondere Freude machte. Ich versuchte auch, ein wenig zu lachen, aber ich brachte kein besonderes Lachen heraus, so doll fand ich die Sache mit dem Ablesen vom Blatt auch wieder nicht.

Als Maro das bemerkte, ließ sein Lachen an Lautstärke sofort etwas nach, und er wurde wieder ernster. »Neben den Lachnummern gibt es noch die laufenden Nummern. Sie bestehen aus Nachrichten über Menschen, die unseren Jungs nicht aus dem Kopf gehen. Solche Menschen begleiten ihr Leben, sie gehören zur Seemannsfamilie.« – »Hast Du auch dafür ein Beispiel?« – »Die Nummer 1 ist ganz klar Brigitte Bardot. Jede Woche muss ich etwas Neues über sie finden, aber das ist nicht schwer. In irgendeinem Zusammenhang taucht sie auf, da kannst Du sicher sein. In dieser Woche hat sie erklärt, nicht mehr im Süden Frankreichs leben zu wollen. Der Süden geht ihr auf den Geist, sie fühlt sich verfolgt, sie kommt nicht zur Ruhe. Also war sie mit ihrem Gunter in der Normandie unterwegs, um ein stilles Liebesnest an der Küste zu finden. Wenn wir ›stilles Liebesnest‹ schreiben (und genau das werden wir tun), drehen die Jungs durch. Jeder stellt sich ein solches Nest vor, und jeder ist dort allein mit Brigitte. Läuft an Land irgendein Film, in dem sie die Hauptrolle spielt, gehen sie rein. Sie können nicht genug von ihr bekommen, sogar ihre Platten hören sie, wo immer es geht.« – »Hören die Jungs hier an Bord Platten?« – »Manche schon. Die Plattenspieler taugen aber nicht viel, und außerdem dürfen sie nicht laut aufdrehen. Also hören sie die Musik an Land, die Jungs kennen die Clubs, die sie ansteuern müssen.« – »Kennst Du sie auch?« – »Nein, ich kenne nur wenige. Wenn Du welche kennenlernen willst, musst Du Denis fragen. Denis kennt jeden Club und jede Absteige in den griechischen Häfen.« – »Das hätte ich mir denken können.« – »Ja, Denis weiß, was Musik betrifft, fantastisch Bescheid. Er berät mich, wenn ich darüber berichten will. Musik ist zentral, darüber müssen in jede Nummer ein, zwei aktuelle Nachrichten. Und dann natürlich Sport: Fußball an erster Stelle, Boxen (vor allem wegen Cassius Clay), Radfahren in Maßen. Da weißt Du sicher Bescheid, besser als ich, denn ich bin einer der seltenen Typen, die sich aus Fußball nicht viel machen.« – »Tennis«, sagte ich, »im Tennis kenne ich mich sehr gut aus.« – »Schade«, antwortete Maro, »das interessiert hier an Bord keinen Menschen. Spielst Du etwa Tennis?« – »Nur ganz primitiv, nicht auf Sand oder Rasen, sondern auf kaputten Betonplätzen.« – »Ich verstehe.«

Maro nahm die kleinen roten Gummis von den Zettelpaketen und fächerte jedes ein wenig auf. »Die in meinen Augen wichtigsten Texte liegen oben«, sagte er. »Ich lasse Dich jetzt damit allein. Lies Dich mal durch die Nachrichtenberge und notiere Deine eigenen Favoriten. Kreuz sie mit einem roten Stift an und versuche, aus einer längeren Nachricht eine knappe Meldung von drei, vier Sätzen zu basteln. Ich weiß, dass Du sowas kannst, wahrscheinlich sogar besser als ich.« – »Wieso glaubst Du das?« – »Ich sehe Dir das an, ich spüre es förmlich.« – »Ich könnte Dich aber auch enttäuschen. Hast Du eine alte Nummer zur Hand, damit ich mir den Stil solcher Meldungen genauer anschauen kann?« – »Hab ich. Bring ich Dir gleich vorbei. Und jetzt mach Dich an die Arbeit, unser Blatt soll jetzt bald erscheinen!«

Für die Schülerzeitung meines Gymnasiums hatte ich schon einige Artikel geschrieben. Und mit dem knochentrockenen Nachrichtenton kannte ich mich auch einigermaßen aus. Es hätte mir aber gar nicht gefallen, solche einfallslosen, bloß informativen Texte zu verfassen. Sie hätten ein ödes Blatt abgegeben, dem niemand längere Beachtung geschenkt hätte.

Ich holte einige leere Blätter und Stifte aus unserer Kabine, dann legte ich eine Liste der Rubriken an, die ich mit Texten bedienen wollte: Harte Facts, Musik, Film, Sport und so weiter. Jedes Blatt war für ein solches Ressort vorgesehen, so behielt ich den Überblick. Als Maro wieder erschien, um mir einige alte Nummern des Bordblattes zu bringen, schaute er auf diese Blätter und pfiff kurz durch die Zähne. »Ich habe es ja geahnt«, sagte er, als hätte ich bereits Gott weiß was geschrieben, »Du bist ein Profi! Hast Du mir etwa etwas verheimlicht?« – »Nein, was meinst Du?« – »Die Blätter sehen professionell aus. Du hast schon einmal in einer Redaktion gearbeitet, oder?« – »In der einer Schülerzeitung, sonst nicht.« – »Na also. Für unsere Zwecke reicht das völlig. Viel Spaß, ich lasse Dich jetzt allein.«

Ich setzte mich an den Tisch und spürte schon im nächsten Moment den leichten Stress, der mit dieser Arbeit verbunden war. Stress entsteht, wenn man in Eile Pflichtarbeiten absolvieren soll – und das hier war, ganz gegen meinen Willen, eine nicht zu übersehende Pflichtarbeit. Ich sollte Nachrichten aussortieren und zu Meldungen umschreiben, die möglichst viele Jungs im Heckbereich unseres Frachters auf Touren bringen würden.

Ich nahm mir eine alte Ausgabe des Bordblattes vor und begann zu lesen: Die FDP plant die Zusammenlegung der drei Bundesländer Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland. Ein diesbezüglicher Plan wurde von … / Die Bundesregierung steht in engem Kontakt mit Prag, um ein neues Handelsabkommen … / Die Bremer Werftgruppe XY wird einen Schiffbaugroßauftrag in Höhe von 165 Millionen DM erhalten. Für eine britische Reederei sollen drei Containerschiffe entstehen, von denen jedes …

Solche Texte zu schreiben, würde mir keinen großen Spaß machen. Es war Fließbandarbeit im schlimmsten Sinn. Ich würde die nachrichtenbesessenen Jungs mit Informationen abspeisen, die sie sofort wieder vergessen würden. Kein Detail würde hängen bleiben, um ihre meertrunkenen Psychen zu erhellen und durchzuschütteln. Nein, so ging das auf keinen Fall. Aber wie denn?

Ich begann, die frischen Nachrichtentexte alle nacheinander zu lesen, es war wirklich zum Gähnen, und ich hatte keine Idee, was ich aus diesen bleiernen Informationen hätte machen können. Während ich mir noch einen Text nach dem anderen vornahm, kam Denis in den Salon. Wie meist, wenn er sich an mich heranpirschen wollte, fragte er scheinheilig, ob er mir »etwas Gutes« zu trinken bringen könne. Ich lehnte rasch ab, denn ich wollte auf keinen Fall, dass er sich neben den Tisch stellte und über die Texte hermachte.

Genau das tat er aber, er hörte einfach nicht zu. »Vielleicht doch einen Zitronengin, wie neulich? Oder eiskalten Tee mit einer Spezialtinktur vom lieben Denis?« Und schon hatte er einige Texte in der Hand und überflog sie mit einem Lächeln, das ich nur abstoßend fand. »Ah, Maro und Du – Ihr seid ja nun das neue Team für unser Blättchen! Geht die Sache flott voran? Steht schon der Aufmacher, und hast Du Dir schon den Tagesspruch für die Gemeinde am Heck ausgedacht?« – »Welchen Tagesspruch?« – »O, schade, Du kennst die Details anscheinend noch nicht. Jede Nummer wird von einem Tagesspruch eröffnet. Früher waren es ausschließlich Bibelzitate, jetzt wird ab und zu auch einmal ein fades Witzchen serviert. Ich vermute, Du bist stark in solchen Dingen. Wahrscheinlich hast Du den ganzen Schiller drauf und zerlegst den Wallenstein in lauter kleine Spruchweisheiten.« – »Meine Herren, Denis! Ich möchte die Texte jetzt mal in Ruhe lesen. In Ruhe! Und Du kannst Deine Säfte mixen, für wen auch immer Du willst. Ich trinke sie nicht.« – »Ich weiß, ich weiß. Aber zum Glück hat der gute Denis gerade ein wenig Zeit und nimmt deshalb Platz. Er spürt, dass Du nicht richtig klarkommst mit Deinen Aufgaben. Du brauchst etwas Führung und Leitung.«

Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte den Salon verlassen. Denis war einfach nur unverschämt, und er war es umso mehr, als er sich von dem Projekt ausgeschlossen fühlte. In vielen Bereichen kannte er sich gut aus, aber weder Maro noch sonst wer wollte gern mit ihm zusammenarbeiten. Ich stöhnte leise, nahm mir aber vor, ihn nicht abblitzen zu lassen. Sollte er doch erst einmal sagen, was ihm zu dem Projekt einfiel.

»Also gut«, sagte ich, »natürlich brauche ich Führung und Leitung. Wieso denn auch nicht? Was ich aber nicht brauche, sind arrogante Bemerkungen oder dumme Witze. Wenn Du wirklich an dem Bordblatt interessiert bist, dann sag, was Du denkst. Wenn nicht, solltest Du rasch verschwinden.«

Ich starrte an die Decke, als legte ich ganz bewusst eine Pause ein. Ich wollte ihm Gelegenheit geben, darauf vernünftig zu antworten. Er stand aber sofort auf und verließ den Salon wortlos. Sein Auftritt ging mir durch den Kopf, ich starrte noch länger, mein Blick blieb an der Mahagonidecke kleben, als wäre sie ein Blickfliegenfänger. Kaum drei Minuten später erschien Denis wieder, in jeder Hand hielt er ein Glas. »Einmal Cola für Dich, einmal Cola mit etwas Rum für mich. Und jetzt machen wir uns an die Arbeit.«

Er wirkte plötzlich konzentriert und entschlossen. Anscheinend nahm er die Aufgabe jetzt wirklich ernst. »Ich erkläre Dir mal, wie ich selbst mir die Sache vorstelle. Wir könnten so ein Bordblatt nämlich auch anders anlegen. Statt den üblichen Nachrichtensalat zu verbreiten, könnte das Blatt unsere Jungs auf den nächsten Landgang vorbereiten. Mit Nachrichten über die Dinge und Menschen, die gerade stark angesagt sind. Nachrichten über die Politik der Junta, dann aber auch Nachrichten aus den Zentren des way of live: San Francisco, London, Paris. Die Nachrichten über Zuhause lassen wir zum großen Teil weg und bringen höchstens ein paar Lachnummern. Natürlich müssen die Studentenproteste in Berlin mit rein und auch die Schweinereien, die dort passiert sind. Aber wir melden nicht dies und das, mal eine Nachricht aus Japan, mal etwas aus den USA. Stattdessen Meldungen, die Trends anzeigen, verstehst Du? Meldungen darüber, wo gerade die Post abgeht.« – »Und wo geht gerade die Post ab?« – »Na klar, die Frage musste ja kommen. Die neusten Songs geben den Ton an, Songs wie Penny Lane. Die Single ist gerade ein paar Monate auf dem Markt, und sie ist so ziemlich das Beste, was gerade geboten wird.« – »Ist Penny Lane von den Beatles?«

Denis sprach nicht weiter. Er nahm einen großen Schluck Cola mit Rum, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute mich an. »Was ist denn?« fragte ich, »was ist los?« – Er antwortete nicht, sondern blickte weiter so, als untersuchte er mich. Ich musste krank sein, schwer krank, mit mir musste man tiefes Mitleid empfinden. So jedenfalls blickte er, halb entsetzt, halb fassungslos. »Sag mal«, begann er betont langsam, »könnte es sein, dass Du Penny Lane in Deinem bisherigen, zugegeben kurzen Leben noch nie gehört hast? Wäre das möglich?« – »Ja«, antwortete ich, »es stimmt, ich habe es noch nie gehört.«

Er stand auf, räkelte sich theatralisch, ging ein paar Schritte durch den Raum, blieb an der Tür stehen, kam wieder zurück. Es war eine kleine Bühnennummer, und sie erinnerte mich an den Auftritt eines Arztes, der gerade in Sorge um seinen Patienten geraten ist. Ich war ein schwerer Fall, zweifellos, die Behandlung würde nicht einfach sein.

»Moment mal«, sagte Denis, »Mo – ment!! Mit Dir stimmt etwas nicht! Mit Dir stimmt ganz eindeutig etwas nicht! Du hast irgendeinen seltenen, schweren Defekt. Wer noch nie Penny Lane gehört und anscheinend auch sonst wenig Ahnung von den Beatles hat, der sollte sofort operiert werden! Denn, das stimmt doch? Du hast nicht die geringste Ahnung von den Beatles, oder? Du hältst sie für eine Sängertruppe aus dem Bergischen Land, die von der Wuppertaler Schwebebahn trällert! Habe ich recht? Vielleicht hältst Du sie auch für ein Ministrantenquartett des Kölner Doms? Dir traue ich inzwischen alles zu!«

Ich sagte nichts, sondern nippte an der Cola. Sie schmeckte in diesem Moment scheußlich, viel zu süß und künstlich, einfach abstoßend. Ich setzte das Glas wieder ab, mir war elend. Ich hatte wirklich keine Ahnung von den Beatles, sondern weggehört, wenn in meiner Umgebung über sie gesprochen wurde – das war die Wahrheit. Die Beatles bedeuteten mir nichts, für mich waren sie Gespenster einer Musik, die mit klassischer Musik nicht konkurrieren konnte. So jedenfalls hatte ich immer gedacht, ohne mich zu informieren oder mich länger damit zu beschäftigen. Hörte ich die Beatles singen und spielen, machte ich mich aus dem Staub, als kämen sie mir ganz persönlich zu nahe.

Ich schob das Colaglas von mir weg, ich fühlte mich in die Enge getrieben. Sollte ich einfach rausgehen und Denis mit seinen Beatles-Obsessionen allein lassen? Sollte ich mich verteidigen oder vielleicht (und das wäre viel besser) zum Angriff übergehen, um zu erklären, für wie simpel ich diese Musik hielt? Nicht zu vergleichen mit der absolut harmlosesten Mozart-Sonate, der in C-Dur, Köchelverzeichnis 545?

Ich saß da wie ein Schüler in der letzten Reihe der Klasse. Man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er eine Null war, und er war nun geschockt. Sollte er seinen Aggressionen freien Lauf lassen? An die Tafel gehen und mit Kreide und Schwämmen schmeißen? Sollte er ausrasten? Oder sollte er einfach nur seine Sachen packen und die Schule verlassen? Ein Gang ins Freie, locker, als ginge ihn die Schule von nun an nichts mehr an, weil er eine bessere, andere Schule im Kopf hatte? Eine, die für ihn geeignet war, eine, an deren Entstehung er selbst hart mitgearbeitet hatte?

›Harte Arbeit‹, dachte ich plötzlich, ›Dein Klavierüben war bisher weit über zehn Jahre harte Arbeit. Du hast nicht so lange hart gearbeitet, um Dich auf diesem asthmatischen Frachtschiff von einem Flegel wie Denis wegen Deiner Arbeit beleidigen zu lassen. Wer so hart arbeitet und die halbe Sonatenliteratur der Klassik auswendig kann, hat nun mal keine Zeit und wenig Freude an den Beatles. Das ist so, jedenfalls in meinem Fall, verdammt noch mal.‹

Ich glaube, ich hätte noch Stunden auf meinem Stuhl gesessen, denn ich wusste nicht weiter. Es war Denis, der Bewegung in die Szene brachte. Er setzte sich wieder zu mir an den Tisch und lenkte ein: »Tut mir leid. Vergiss, was ich gesagt habe. Ich wollte Dich nicht kränken, ich weiß überhaupt nicht Bescheid über Dich und spiele doch den fiesen Durchgucker. Ich nehme Deine Cola mit und lasse Dich jetzt allein.« – »In der Cola ist irgendein Gift«, antwortete ich, »ich bekomme sie nicht runter. Bringst Du mir einen von Deinen fabelhaften ausgepressten Zitronendrinks mit einem Schluck – na, Du weißt schon?« – »Ich bin bereits unterwegs«, sagte Denis, nahm mein Glas und verschwand.

Immer wieder geriet ich mit ihm in unangenehme Situationen. Seit ich an Bord war, lief das so. Anfangs hatte ich mir sogar vorgenommen, den Kontakt mit ihm ganz zu meiden. Er hatte mich – mehr als andere Menschen an Bord – direkt im Blick. Irgendetwas an mir passte ihm ganz und gar nicht, aber es gab auch irgendetwas, das ihn anzog und ihm gefiel. »Irgendetwas« – genauer konnte ich es momentan noch nicht sagen, ich durchschaute das Spiel, in das er mich oft verwickelte, nicht. Immerhin war er acht Jahre älter als ich, die spielten eine gewisse Rolle. Aber welche genau?

Wenig später kam er mit dem Zitronengin wieder zurück. »Soll ich bleiben?« fragte er ruhig. »Ja«, sagte ich.

Ich trank einen Schluck und noch einen, es schmeckte genau richtig. Frisch, eine kleine Aufmunterung. Ich blickte wieder hinüber zu den Bullaugen, denn ich wusste ja längst, wie hilfreich diese blauäugigen Ovale sein konnten. Sie verkörperten den Sprung ins Freie, ins Wasser, in die Lüfte, sie waren die Minitürchen zum arglosen Dasein. Genau deshalb beruhigten sie und sorgten für meditative Konzentration. Dachte ich in diesem Moment jedenfalls, wie ein kleiner Hermann Hesse, mit angelesenen Asienkenntnissen.

Dann nahm ich den dritten Schluck hintereinander und legte los. Ich erzählte davon, wie ich schon als Vierjähriger Klavierunterricht erhalten hatte und von da an zum Klavierspieler geworden war. Wie ich oft halbe und später fast ganze Tage lang Klavier geübt hatte. Wie ich von einer russischen Lehrerin und von einem bekannten Virtuosen unterrichtet worden war. Wie ich erste Konzerte gegeben und erste Preise in Wettbewerben gewonnen hatte. Wie ich mich gegenüber jeder anderen Musik als der klassischen verschlossen hatte und zu einem Klassikfanatiker geworden war. Wie ich in Salzburg die ganz großen Pianisten gehört hatte und einem von ihnen als Schüler gefolgt war. Wie ich ein Leben außerhalb der Schule nur und einzig für die Musik gelebt hatte. Und wie ich nun dabei war, alles auf eine Karte zu setzen, um mich um ein Stipendium im Ausland zu bewerben und Konzertpianist für ewige Zeiten zu werden!

Ich redete am Stück, ziemlich leise, ohne aufgeregt zu sein. Ich hatte Denis das alles nie erzählen wollen, aber ich wusste in diesem Moment keinen anderen Ausweg. Entweder er verstand, warum ich so aus den Welten der Beatles (und denen ihrer Musik) herausgefallen war, oder er hielt mich für einen durchgedrehten Narren, der sich bisher Gewalt angetan hatte, um in den Schutzzonen seiner Mozartsonaten wie ein alternder Säugling vor sich hin zu leben.

Als ich fertig war, hatte ich ein gutes Gefühl. Meine Beklemmung war weg, ich hatte Denis die ganze Misere serviert, jetzt war er dran. Ich war sogar ein wenig gespannt darauf, was er sagen würde. Ich zog den Hermann Hesse-Blick wieder von den Bullaugen ab und blickte Denis an. »Na«, sagte ich, »was sagst Du dazu? Ich wollte Dir das eigentlich nie erzählen, aber Du zwingst mich ja, aus der Deckung zu gehen.«

Denis schaute mich an, und ich spürte, dass er unschlüssig war. »Das ist eine heftige Geschichte. Richtig brutal. Du kommst mir vor wie jemand, der sich eingesperrt hat. In irgendeinem Kellerloch hast Du ohne viele Außenkontakte überlebt. Mit Deinem Klavier und Deiner Klassik. Die Beatles spielten derweil im richtigen Leben. Verstehst Du?« – »Nein«, sagte ich, »Du hast keine Ahnung. Natürlich ist das Üben brutal, aber wenn Du damit weit genug bist und die schweren Stücke einigermaßen beherrschst, ist es pure Freude. Nach einer oder zwei Stunden bist Du in einem Rausch, für den Du jeden Beatlessong hergeben würdest.« – »Ach was. Warum soll Dir ein Beatlessong nicht auch gefallen? Du bist verstockt und voreingenommen, oder Du willst Deinen feinen Mozart für Dich behalten.« – »So ein Unsinn. Ich spiele Mozart und die anderen Komponisten, wo immer es geht, und für alle, die es hören wollen. Ich ziehe damit durch die Lande, ich gehe auf Tournee …« – »Na toll. Unser Minimozart macht den Beatles ja richtig Konkurrenz …« – »Denis! So kommen wir nicht weiter! Es ist hirnlos, wie wir hier aneinander vorbeireden.« – »Aber Du willst ja gar nicht weiterkommen, Du willst es nicht.« – »Wie bitte? Habe ich das gesagt? Habe ich behauptet, mein Leben lang keine Beatles hören zu wollen? Wann habe ich so was in die Welt gesetzt?« – »Ach so! Du öffnest Dich! Du hast gute Vorsätze?«

Immer wieder zwang er mich, ihm entgegen zu kommen. Er spielte seine acht Jahre länger auf Erden eben gegen mich aus. Aber was blieb mir übrig? Über die Beatles wusste er eindeutig Bescheid – und ich nicht. Und war es nicht an der Zeit, neben der klassischen Musik endlich noch andere Musik kennenzulernen? Auf jeden Fall, es war sogar höchste Zeit.

»Ich möchte Penny Lane hören«, sagte ich, »am liebsten sofort.« – »Penny Lane ist relativ frisch, All you need is love ist noch frischer. Gerade erschienen. Übrigens soll ein winziges Stück Bach drin vorkommen.« – »Bach?! Johann Sebastian Bach?!« – »Genau der. Irgendwas aus den Interventionen.« – »Woraus?!« – »Keine Ahnung. Angeblich aus den Interventionen.« – »Denis. Du meinst die Inventionen. Okay?!« – »Sag ich ja, Du Klugscheißer. Inventionen als Interventionen.« – »Sehr gut. Und wo können wir das hören?« – »Jedenfalls nicht auf diesem Schiff. Nicht in irgendeiner Minikabine, fast lautlos. Wir können es an Land hören, das geht.« – »Und wo da?« – »In ein paar Tagen in Patras. Ich nehme Dich mit in einen Club. Da spielen sie die Beatles rund um die Uhr.« – »Gut, einverstanden.« – »Na sowas. Du lässt Dich herab, steigst vom Klassikthron und mischst Dich unter das amusikalische Volk, das die Beatles hört! Ich fasse es nicht.« – »Jetzt lass das Gerede! Immerhin haben wir jetzt eine Idee, wie man weiterkommen könnte.«

Denis lehnte sich zurück und wippte auf seinem Stuhl hin und her. »Weißt Du, wofür ich Dich besonders hasse?« fragte er. – »Du kannst doch gar nicht richtig hassen«, sagte ich. – »O doch, und wie ich das kann! Ich hasse Dich besonders dafür, dass Du so zielstrebig bist. Immer muss alles auf etwas hinauslaufen. Immer musst Du aus irgendeinem Kram einen noch besseren Kram machen. Du schaust nicht eine Minute mal lässig zur Seite, sondern ewig nur geradeaus. Du klammerst Dich an Deine Bücher, Deinen Homer, Deinen Mozart und Dein Geschreibsel – und machst daraus Buch- und Musik- und Schreibkonfitüre. Du kannst die Sachen nicht ruhen lassen – und Dich selbst auch nicht. Das ist es. Immerzu bist Du dahinter her, aus der noch so letzten Scheiße eine Mousse au chocolat zu gewinnen. Und dafür hasse ich Dich besonders. Damit das auch mal gesagt ist. Und nun ist Schluss, und ich gehe, und in Patras fliegen Dir die Beatles um die Ohren …, dass Du …, dass …« – »Dass ich mein blaues Griechenlandwunder erlebe, lieber Denis, das wolltest Du doch sagen, nicht wahr?«

Er stand wirklich auf, tippte sich an die Stirn und ließ mein leeres Glas stehen (sonst räumte er immer wie manisch alles ab, was auf den Tischen stand). Ich hatte den kleinen Fight nicht verloren, nein, hatte ich nicht. Und genau das war in jenem Augenblick eine Empfindung, die mich am meisten überraschte und fast etwas stolz machte. »Stolz?« flüsterte ich, »Du bist stolz? Etwa darauf, dass Denis Dich in Patras mit in einen Club nimmt? Oder worauf? Stolz darauf, dass Du Dich hier an Bord nicht kleinkriegen lässt? Wirklich darauf?! Amen. Halleluja.«