Entdeckungen

Ich wachte etwas später als sonst auf und wusste sofort, dass Papa schon im Salon war. Er war bestimmt früh aufgestanden und gleich hinausgegangen. Wenn er etwas Bestimmtes vorhatte und viel daran denken musste, schlief er nicht gut, frühstückte kurz und machte sich an die Arbeit. Das kannte ich schon, aber ich ahnte an diesem Morgen noch nicht, was ihn gerade so stark beschäftigte.

An solchen Tagen hatte sein Schwung etwas Ansteckendes. Es schien nichts Wichtigeres zu geben, als eine bestimmte Sache voran zu bringen, das färbte oft ab, und ich machte dann mit und eiferte ihm nach. »Also los!« murmelte ich, stand auf und zog mir rasch etwas über. Ich hatte zwar nichts Dringliches zu erledigen oder voran zu bringen, aber das konnte noch kommen, mir fehlte nur der passende Einfall.

Im Salon saß Papa mit Kapitän Reckling, sonst war niemand zu sehen. Ich setzte mich zu ihnen, und ich bemerkte, dass sie sich anscheinend schon eine Weile unterhalten und zusammen gefrühstückt hatten. Ich fragte natürlich nicht, was sie besprochen hatten, sondern tat so, als fühlte ich mich sehr wohl und wäre »tatendurstig«, und genau das sagte ich auch.

Das Wort hatte ich von Papa, er redete einem oft ein, man sei »tatendurstig«, auch wenn man es kein bisschen war. »Tatendurstig« hörte sich an, als habe man Gott weiß was vor und wollte das Geplante direkt in große Taten umsetzen. Dabei war es eigentlich egal, worum es gerade ging. Man konnte vorhaben, ein Pfund Kartoffeln zu schälen, oder man hatte vor, einen Wald abzuholzen – wichtiger als die Größe des Unternehmens war, dass man überhaupt etwas vorhatte.

Papa mochte es nicht, wenn man nichts Bestimmtes im Kopf hatte, »Langeweile gibt es nicht«, hatte er schon oft gesagt und das Wort Langeweile (wie er es genannt hatte) »einfach aus unserem Vokabular« gestrichen. Papa sprach viel von diesem ominösen »Vokabular«, und er meinte damit all die Wörter, die wir gerne oder aber widerwillig oder lieber nicht benutzten – und zwar deshalb, weil wir mit diesen Wörtern »etwas verbanden«. »Was verbindest Du mit diesem Wort?« fragte er, wenn ich ein Wort benutzte, das er noch nicht kannte. Meist waren es Wörter, die wir Jungs gerade irgendwo aufgeschnappt hatten und chic fanden. Sie erregten Papas Aufmerksamkeit, und dann fragte er mich so lange aus, bis ich selbst nicht mehr genau wusste, was ich mit dem neuen Wort so alles verband.

Denis kam in den Salon, begrüßte mich und fragte, was ich frühstücken wollte. Ich antwortete, dass ich keinen großen Appetit habe und deshalb nur einen Tee und zwei Scheiben Toast mit Marmelade essen werde. Denis wirkte munter und frisch, anscheinend hatte er sich gut erholt. Das beruhigte mich, denn wenn Denis munter aussah, ließ er mich mit seinen spitzen Bemerkungen in Ruhe, und wir verstanden uns gut.

»Dein Vater hat mir eben gestanden, dass er mit der Odyssee nicht vorankommt«, sagte Kapitän Reckling. Ich schaute Papa an, er grinste, also stimmte, was Kapitän Reckling gesagt hatte. Ich wollte nicht nachfragen, sondern wartete ab, und dann sagte Papa: »Zuerst hat mich der Sturm abgelenkt und danach das Zeichnen und dann Gibraltar. Ich hatte die Odyssee dabei, aber ich habe immer wieder von vorne begonnen.« – »Wo von vorne?« fragte ich. – »Na, ich stecke noch immer mitten im fünften Gesang! Odysseus verabschiedet sich von der Nymphe Kalypso und baut sich ein Floß. An diesem Floß habe ich zu kauen, es will einfach nicht hinaus auf die offene See!« – »Die Stelle ist etwas für Seeleute«, sagte Kapitän Reckling. »Unser Ingenieur kann lange davon berichten. Wie das Floß ausgesehen haben könnte, wie es seetüchtig zu machen war. Darüber zerbrechen sich die Seeleute seit Jahrhunderten den Kopf, solche Themen machen ihnen Spaß, da haben sie etwas zum Nachdenken und Spielen, wie die Kinder!« – »Wieso denn zum Spielen?« fragte ich. – »Segemann hat Segelboote und Schiffe in seiner Kabine nachgebaut, zumindest in Teilen. Sie stehen auf dem Regal über seinem Bett, und niemand darf sie anrühren.« – »Heinrich hat ja vor, uns ein paar seiner Modelle zu zeigen, vielleicht begreife ich dann endlich, wie man auf einem Floß das Mittelmeer durchkreuzt«, sagte Papa und stand auf. »Jetzt gehe ich aber zunächst mal an Deck und zeichne den Felsen von Gibraltar.« – »Den hat Dein Vater nämlich auch noch gerade im Kopf«, sagte Kapitän Reckling. »Hat er mir eben gestanden. Und ich weiß jetzt sogar, wie man etwas über Nacht im Kopf behält und am nächsten Tag aus der Erinnerung zeichnet. Sowas ist nichts für Seeleute, die behalten über Nacht nichts im Kopf, sondern kippen es in die dunklen Fluten und lassen es untergehen.«

Kapitän Reckling lachte wieder sein deftiges Kapitänslachen, aber weder Papa noch ich lachten mit. Was er gesagt hatte, war nicht zum Lachen, ganz und gar nicht, und am wenigsten, wenn man gerade einen Atlantik-Biskaya-Orkan sowie Gibraltar hinter sich hatte.

Denis brachte den Tee und die Toastbrotscheiben und gleich drei verschiedene Marmeladen, ich hatte mich also nicht in ihm getäuscht, es ging ihm sehr gut. Ich vermutete, dass auch Kapitän Reckling den Salon verlassen würde, das stimmte aber nicht, er blieb sitzen, schenkte sich noch einen Kaffee ein und schwieg. Er beobachtete mich nicht direkt, sondern schaute hinüber zu den Bullaugen. Auf mich wirkte seine Anwesenheit aber so, als würde er uns beide zusammen im Blick haben, aus dem Augenwinkel oder so ähnlich. Ich hatte sogar das Gefühl, als wollte er sich mit mir über etwas Bestimmtes unterhalten. Wollte er das? Mit mir? Aber worüber?

Zum Glück hatte ich etwas zu tun und brauchte erst einmal gar nichts zu sagen, ich trank also den Tee und aß eine Toastbrotscheibe mit Orangenmarmelade. Ich kaute langsam auf der Scheibe herum, ich wartete, bis Kapitän Reckling das Schweigen beenden würde. Er machte dann aber zum Glück keine Umwege, sondern kam direkt zur Sache. »Mein Sohn«, sagte er, »ist nur wenig älter als Du. Er geht auf ein Internat, und wir verstehen uns nicht besonders. Kein Wunder, ich bin kaum zu Hause, und wenn wir uns sehen, hat er sich verändert und ist ein ganz anderer Mensch als beim letzten Wiedersehen. So kommt es mir jedenfalls vor.«

Ich nahm erneut einen Schluck Tee und verbat mir, etwas darauf zu erwidern. Ich konnte mir diesen Sohn zwar in etwa vorstellen, wie er sich veränderte und wie sein Vater nicht hinterherkam, aber es war doch eine schwierige Sache – und ich konnte mich irren. Als hätte er meine Gedanken gelesen, fragte Kapitän Reckling: »Kannst Du Dir das vorstellen? Wie mein Sohn und ich aneinander vorbei leben?« – Ich nickte und antwortete vorsichtig: »Ja, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.« – »Ich beobachte Deinen Vater und Dich ja nun schon ein paar Tage«, machte Kapitän Reckling weiter, »und ich muss sagen, dass ich Euch beide beneide. Ihr versteht Euch anscheinend gut und geht Euch nicht auf die Nerven, jeder macht, was er will, und der andere kommt ihm nicht in die Quere. Habe ich recht?« – »Ja«, antwortete ich, »das stimmt. Wir kommen uns nicht in die Quere. Wir wissen zwar nicht immer genau, was der andere so denkt und vorhat, aber wir tauschen uns aus und sprechen viel miteinander.« – »Richtig!« sagte Kapitän Reckling, »das ist auch mein Eindruck.«

War das alles? Hatte er mir das sagen wollen? Er schwieg wieder, nein, das war nicht alles, er hatte noch etwas auf dem Herzen. Ich bestrich die zweite Toastscheibe langsam mit etwas zu harter Butter, ich ließ mir Zeit, ich hatte weiter zu tun. Plötzlich kam mir aber ein simpler Gedanke, und ich fragte: »Ist Ihr Sohn einmal mit Ihnen zusammen gereist? Haben Sie ihn mit auf weite Fahrt genommen?« – Kapitän Reckling beugte sich zu mir vor und antwortete (leise): »Natürlich habe ich das! Viele Male hat er mich begleitet, bereits als kleines Kind – und später in den Schulferien.« – »Und? Hat es ihm gefallen? Es muss ihm doch gefallen haben!« – »Na ja, anfangs schon. Als Kind hatte er seinen Spaß – die halbe Mannschaft hat sich damals um ihn gekümmert und sich eine Abwechslung nach der andern für ihn ausgedacht. Spiele, Aufgaben, all das.« – »Was für Aufgaben?« – »Zum Beispiel: Seemannsknoten. Mein Sohn kannte bald alle wichtigen und hatte perfekt drauf, wie man sie schnürt.« – »Und weiter?!« – »Weiter? Es wurde ihm mit der Zeit langweilig. Je älter er wurde, umso mehr langweilte er sich. Er blieb tagelang in der Kabine, den Kontakt zur Besatzung brach er ab. Er wollte allein sein, allein essen und allein an Land gehen. Aber das war nicht der Sinn der Sache.« – »Was war es denn?« – »Ich hoffte, dass er selbst einmal ein Leben auf See führen würde. Dass er eine entsprechende Ausbildung machen und später Offizier und Kapitän werden würde.« – »Das haben Sie sich vorgestellt?« – »Ja, genau das.« – »Und warum? Warum soll er nicht etwas anderes werden als Kapitän?« – »Weil es der schönste Beruf und das schönste Leben ist, das ich kenne.« – »Aber warum ist Ihr Beruf und das Leben auf See denn so schön? Entschuldigen Sie, dass ich das frage, ich möchte es einfach mal genau wissen.« – »Neinnein, entschuldige Dich nicht, ich verstehe genau, warum Du das fragst. Landmenschen können sich so etwas nicht vorstellen, ihnen fehlt das Seefahrerherz. Als richtiger Seefahrer fühlst Du Dich nur auf offener See frei, vollkommen frei. Niemand redet Dir drein, und alle Probleme musst Du selbst lösen. Als Kapitän bist Du ein König, ein kleiner zwar nur, aber einer der letzten, die es noch in der heutigen Welt gibt. An Land könnte ich niemals leben. Mir wird das Leben schon zu eng, wenn ich drei Tage zu Hause in meinem eigenen Bett schlafe.« – »Sie suchen und genießen die Freiheit«, sagte ich, »ich kann mir das sehr gut vorstellen.«

Denis kam wieder in den Salon und blieb am Frühstückstisch stehen. Er fragte, ob ich wirklich so bescheiden frühstücken wolle, und ich antwortete, es sei alles in Ordnung, er könne gleich abräumen. Er wartete etwas und schaute uns an, anscheinend spürte er, dass Kapitän Reckling und ich sich gerade über Themen austauschten, von denen er auch gerne etwas mitbekommen hätte.

Niemand sagte etwas, und Kapitän Reckling blickte wieder zu den Bullaugen. (Wie gut, dass es die gibt, dachte ich, sie nehmen einem manche Verlegenheit ab.) Da begann Denis in der Tat mit dem Abräumen, es half ja nichts, einer musste jetzt etwas tun oder anpacken, sonst wären wir an dem allgegenwärtigen Schweigen erstickt. »Klingsor zeichnet wieder«, sagte Denis, während er die Frühstücksteller aufeinanderstapelte und in die Hand nahm. »Und wie er zeichnet! Und wie er aquarelliert! Es ist fantastisch!« – »Sprichst Du von meinem Vater?« fragte ich. – »Na klar«, antwortete Denis, »ich nenne ihn ab heute nur noch Klingsor.« – »Klingsor?! Wie kommen Sie darauf, Denis?« fragte Kapitän Reckling. – »Klingsors letzter Sommer ist eine Erzählung von Hermann Hesse«, sagte Denis und schaute den Kapitän an, »aber Sie lesen ja keinen Hesse, Sie halten ihn ja für eine schlappe Nummer.« – »Das habe ich so nicht gesagt«, antwortete Kapitän Reckling. – »Genauso nicht, aber doch indirekt«, sagte Denis und grinste übertrieben, »ich weiß, dass Sie Ihrem Sohn davon abgeraten haben, Bücher von Hesse zu lesen.« – »Und was soll er stattdessen lesen?« fragte ich. – »Wenn es nach unserem Kapitän geht, sollte sein Sohn Jack London lesen. Etwas für richtige Kerls und nicht diesen Hesse, den man sich auf keinem Schiff der Welt vorstellen kann.«

Denis lachte und verschwand mit den Tellern und Tassen, Kapitän Reckling und ich waren wieder allein. »Du möchtest sicher auf Deck«, sagte er, »deshalb mache ich es kurz. Die Sache mit meinem Sohn geht mir jetzt so durch den Kopf, weil er sich bald entscheiden muss. Was will er aus seinem Leben machen? Welchen Beruf will er ergreifen? Was soll aus ihm werden? Das sind die Fragen, die mich jede Nacht umtreiben. Mein Sohn hat ein starkes technisches Talent, er versteht viel von Schiffen und Fahrzeugen ganz allgemein, er spricht fließend Englisch und recht gut Französisch, und er ist durchaus ein Kerl, der zupacken kann. Dass er sich in meiner Gegenwart an Bord nicht wohlfühlt, kann ich verstehen. Es täte mir nur sehr weh, wenn er ausgerechnet deswegen die Kapitänslaufbahn nicht in Betracht zieht. Du verstehst?«

Ja, ich verstand Kapitän Reckling genau, aber ich wusste keinen passenden Rat. Ich hätte seinen Sohn gesehen und kennengelernt haben müssen – dann wäre mir vielleicht etwas eingefallen. Dass Reckling mir von ihm erzählte, machte mich aber auch ein bisschen stolz. Wahrscheinlich war ich der Einzige an Deck, den er ins Vertrauen zog. »Haben Sie auch mit meinem Vater über Ihren Sohn gesprochen?« fragte ich. – »Nein, ich spreche nur mit Dir darüber. Weil Du fast sein Alter hast und weil ich es mal mit jemand anderem besprechen muss.« – »Was sollte Ihrer Meinung nach denn als nächstes geschehen? Was sollte Ihr Sohn tun, wofür sollte er sich entscheiden?« – »Das ist ganz einfach. Er sollte sich bei der Marine bewerben. Statt zur Bundeswehr sollte er zur Marine gehen, das wäre der erste, richtige Schritt.« – »Haben Sie ihm das geraten?« – »Schon oft, aber er will nichts davon hören. Er spricht mit mir nicht über das Thema.« – »Dann würde ich es auch nicht mehr erwähnen.« – »Würdest Du nicht?« – »Nein, auf keinen Fall. Er macht das mit sich selbst aus, glauben Sie mir.«

Kapitän Reckling stand auf und ging zu den Bullaugen. Er stellte sich direkt vor sie hin und rieb mit der rechten Faust über das Glas, als käme von dort das Licht der Erkenntnis. »Ich schlafe sehr schlecht«, sagte er, »ich denke ununterbrochen an diese Geschichte.« – »Lesen Sie zur Abwechslung Klingsors letzter Sommer, Denis hat das Buch bestimmt dabei. So, wie ich ihn kenne.« – »Mach keine Witze. Das ist nichts für mich.« – »Eben deshalb sollten Sie es ja lesen. Ihrem Sohn hat es bestimmt gefallen.« – »Und wer ist dieser Klingsor?« – »Ein Maler, der in seinen letzten Lebenstagen zur Hochform aufläuft. Nie hat er bis dahin so gut gemalt und gezeichnet, plötzlich gelingt ihm fast alles.« – »Und diese Geschichte soll mit Deinem Vater zu tun haben?« – »Ja, in gewissem Sinn hat Denis recht. Nie hat mein Vater so gut gezeichnet und aquarelliert. Aber seine letzten Lebenstage verbringt er damit gerade gewiss nicht. Das auf gar keinen Fall. Das bitte nicht. Mein Vater wird ewig leben, das weiß ich.«

Kapitän Reckling kam wieder von den Bullaugen zurück und ging zur Tür. »Soll ich mal sagen, was mich an Dir so erstaunt?« fragte er. – »Gern«, antwortete ich, »nur erschrecken sollte es mich nicht.« – »Natürlich nicht. Mich erstaunt, was für einen festen Glauben Du hast.« – »Wie bitte? Was meinen Sie denn damit?« – »Du hast einen festen, unerschütterlichen Glauben. Keine Sorge, ich meine nicht einen Glauben an Gott. Das nicht. Ich meine etwas Anderes. Aber jetzt genug davon. Lass uns nächstens mal genauer darüber sprechen.«

Er winkte mir zu und verließ den Salon. Ich fand, dass wir ein gutes Gespräch geführt hatten. Er war offen und ehrlich zu mir gewesen, und er gab zu, welche Sorgen ihn umtrieben. Dennoch hatte ich mit alldem Probleme. Ich wusste, dass die meisten Väter ihre Söhne mit ihren eigenen Lebensträumen belasteten. War ein Vater von Beruf Arzt, sollte der Sohn einmal die Praxis übernehmen. War ein Vater Taxifahrer, sollte der Sohn das Taxi weiterfahren. Und spielte ein Vater Fußball, sollte der Sohn auf keinen Fall Handball spielen. So war das, überall, in fast jedem Haushalt! Die Väter hatten in dieser Hinsicht oft einen Knall und waren von ihren Träumen nicht abzubringen. Und die Söhne beneideten ihre Schwestern darum, dass die Väter sich nicht auch noch um sie kümmerten. Was die Töchter vorhatten, war ihnen nämlich egal. Selbst wenn eine von ihnen ein dämlicher, alberner Schlagerstar werden wollte, sagten sie: »Klasse! Dann mach nur! Einen Schlagerstar hatten wir noch nie in unserer Familie!«

In meinem Fall war aber alles ganz anders. Papa hat niemals gesagt, ich solle Geodät werden wie er. Und als ich erklärt habe, ich wolle einmal Pianist werden, hat er zwar Bedenken gehabt, mich aber immer nur darin bestärkt. Zusammen sind wir viele Male nach Salzburg gefahren, um die besten Pianisten der Welt spielen zu hören. Und wann immer es ging, hat Papa mich zu einem Vorspielen begleitet und sich in die erste Reihe gesetzt, um hinterher zu klatschen wie kein zweiter Zuhörer! »Was Du vorhast, ist verdammt riskant«, hat er zwar oft gesagt, mir aber nie davon abgeraten. Im Gegenteil. »Ich weiß, dass Du das Klavierspielen über alles liebst«, hat er gesagt, »und wenn man etwas so stark liebt, kann man nichts dagegen tun und muss der Liebe folgen. Wo und wann auch immer. Das ist völlig klar.«

Ich saß allein im Salon, und das alles ging mir durch den Kopf, und es hätte nicht viel gefehlt, dass ich Tränen in den Augen gehabt hätte. So ein Mist! Was war denn nur mit mir los? Schon wieder hatte ich einen »sentimentalen Kollaps«, an Deck bekam ich das anscheinend regelmäßig.

Ich stand auf, schüttelte mich und ging hinaus in die Sonne. Das Meer war vollkommen ruhig, und ich hatte das seltsame Gefühl, als hätte die Durchfahrt durch die Meerenge von Gibraltar uns wirklich ein für allemal in Sicherheit gebracht. Das Mittelmeer schien ein anderes, ja, ganz anderes Meer zu sein als der Atlantik. Ringsum von schönen Küsten umgeben, stand es überall in Kontakt zu Landschaften, Städten und Menschen. Wohingegen der Atlantik den Rachen nicht weit genug aufbekommen konnte, um den fernen Ländern Amerikas die angeberische, wilde Miene zu zeigen!

Papa saß in seinem Liegestuhl, ich stellte mich hinter ihn und schaute mir die Aquarelle an, die er gezeichnet hatte. Der mächtige Felsen Gibraltars sah aus wie eine liegende, starke Person. Mit einem kräftigen, hoch aufgerichteten Rücken, schwerem, weit über das Meer blickenden Kopf – und lang ausgestrecktem, bis zum Strand auslaufendem Körper.

Papa hatte die Gestalt aber nicht nur flüchtig festgehalten, sondern mit vielen Farbnuancen gestaltet. Der Rücken schimmerte in hellgrauen Tönen, der Kopf war fast weiß, mit feinen Gelbabstufungen, und der Körper bestand aus vielen unterschiedlichen Grüntönungen. So gut und aufwändig hatte Papa noch nie aquarelliert – jedenfalls war das meine Meinung.

»Donnerwetter!« sagte ich, »das ist nichts mehr für den Hausgebrauch, das sieht nach richtiger Kunst aus!« Papa antwortete nichts, sondern grunzte nur leise, als hätte ich nichts Wichtiges von mir gegeben. »Denis nennt Dich jetzt Klingsor, hat er Dir das gesagt?« – Papa drehte sich nicht nach mir um, sondern aquarellierte weiter. »Wer ist das?« fragte er. – »Klingsor ist ein alternder Maler in einer Erzählung von Hermann Hesse. Sie heißt Klingsors letzter Sommer …«. sagte ich. – »Von wem ist sie?« fragte Papa noch einmal nach. – »Von Hesse«, sagte ich, »Hermann Hesse.« – »Aha«, antwortete Papa und ließ sich weiter nicht stören. Schließlich drehte er sich doch sehr kurz um und sagte: »Ein alternder Maler bin ich aber auf keinen Fall. Niemals. Das ist blödes Zeug, sag das Denis.«

Neben Papas Liegestuhl lag die Prosa-Übersetzung der Odyssee auf dem Boden. »Darf ich mir den Homer mal kurz ausleihen?« – »Ja«, sagte Papa, »lies mal den fünften Gesang, dann sind wir auf demselben Stand. Und später sprechen wir mal mit Heinrich über das Floß und wie man damit durchs Mittelmeer kreuzt.«

Ich hielt das für eine gute Idee, griff zu dem Buch und fragte noch rasch: »Was zeichnest Du, wenn Du mit dem Gibraltar-Felsen und all seinen Gestalten durch bist?« – Papa antwortete ganz leise: »Dann kommt Afrika dran. Die marokkanische Küste, die Sahara, die Steppen …« – »Ist das Dein Ernst?« – »Mühlenthal hat gesagt, wir fahren einige Zeit an der afrikanischen Küste entlang. Auch wenn davon wenig zu erkennen ist, habe ich doch einige Bilder im Kopf: afrikanische Natur, Behausungen, Tiere. Na, Du wirst sehen und staunen.« – »Ich bin sehr gespannt«, sagte ich und ging noch einmal kurz zurück in den Salon, um mir etwas Mineralwasser zu holen. Für ein paar Minuten setzte ich mich noch einmal an den Tisch, an dem ich gerade eben noch mit Kapitän Reckling gesessen hatte. Ich musste mir über etwas klarwerden, bevor ich den fünften Gesang der Odyssee endlich zur Strecke bringen würde.

Reisetagebuch (16. Juli, 10.48 Uhr)

Papa ist ein Künstler! Und ich habe es noch nie bemerkt! Früher skizzierte er rasch, was er in der Umgebung unserer Gänge festhalten wollte: Bäume vor allem, Steine, kleine Insekten, dann aber auch Lichtungen, Waldränder! Er gab sich damit keine besondere Mühe, sondern zeichnete einfach drauflos. Manches ging auch einmal schief, aber er zerriss nie ein Blatt, sondern nahm alle Blätter mit nach Hause. Sie wurden datiert und beschriftet und kamen in das Archiv, fertig. Weiter hat er sich nie damit beschäftigt. Jetzt, hier an Deck, hat er zum ersten Mal in seinem Leben richtig Zeit. Er nimmt sich die Objekte an Land vor, als wäre er ein Künstler, der sie aufmerksam studiert, Skizzen macht und schließlich perfekt aquarelliert. Sein ganzes Können kommt nun zum Vorschein. Ich habe es ihm gerade gesagt, aber ich weiß nicht, ob er selbst daran glaubt. Hält er das, was er macht, auch für Kunst? Ich habe keine Ahnung. Es ist aber so: Mit Papas Zeichnen und Aquarellieren ist (seit er den Strohhut trägt – und er trägt ihn an Deck ununterbrochen!) etwas geschehen.

Reisetagebuch (16. Juli, 11.15 Uhr)

Irgendwo in einem Dorf des deutschen Mittelgebirges sitzt jetzt ein junger Mann, kaum älter als ich, und denkt darüber nach, ob er zur Marine gehen sollte. Und ich? Ich brauche nicht darüber nachzudenken, ob ich zum Bund gehen oder Ersatzdienst leisten will. Ich habe mich genau erkundigt: Man wird mich freistellen. Papa und Mama haben vor meiner Geburt vier Söhne verloren, fast alle durch den Krieg und seine Folgen. Den fünften Sohn wird man mit dem Militär und allem, was dazu gehören könnte, verschonen. Hoffe ich jedenfalls.

Reisetagebuch (16. Juli, 11.24 Uhr)

Kapitän Reckling ist bestimmt kein Tyrann. Er ist nur ein Mann mit einer starken Sehnsucht: Möglichst frei zu sein, auf dem Meer zu leben und so wenig wie nötig an Land. Streit und Tratsch aus dem Weg zu gehen. Auf der Kommandobrücke zu stehen und dem Lotsen dabei zuzuschauen, wie er die Albireo ohne jeden Patzer in einen Hafen manövriert. In der eigenen Kabine Schach zu spielen, allein, mit sich selbst. Kaum an Zuhause zu denken, höchstens an den einzigen Sohn. Nicht von der Vorstellung abzulassen, er könne zusammen mit einem erwachsenen Sohn später auf Weltreise über die Meere gehen. Der Sohn als sein Offizier und Nachfolger. So in etwa.

Reisetagebuch (16. Juli, 11. 36 Uhr)

Ich werde mich jetzt zusammenreißen und den fünften Gesang der Odyssee langsam und genau lesen. Alle anderen an Bord haben ihre Arbeit und ihre Probleme. Ich habe weder das eine noch das andere. Ich könnte also glücklich sein. Vollkommen glücklich.

Ich schrieb nicht mehr weiter, trank noch etwas Mineralwasser und wollte wieder an Deck gehen. Da sah ich Denis in der Salontür stehen. Hatte er mich beim Schreiben beobachtet? »Was schreibst Du denn so?« fragte er. – »Nichts Wichtiges, ein bisschen Tagebuch.« – »Schreibst Du auch über mich?« – »Na klar, jeden Tag.« – »Lass mal hören! Was schreibst Du so über mich?« – »Heute früh ist Denis wieder mal das zynische Arschloch. Gestern dagegen haben wir uns sehr gut verstanden. Schade, dass er nicht konstanter ist, ich meine, was seine Psyche betrifft.«

Denis schüttelte den Kopf und tippte sich an die Stirn. »Mit solchen Themen würde ich meine Zeit nicht verplempern«, sagte er. – »Tut mir leid«, antwortete ich, »ich schreibe, weil ich Spaß daran habe. Jeden Tag. Wie ein Idiot. Beinahe zwanghaft. Seit Kindesbeinen.« – »Wenn das stimmt, tust Du mir wirklich leid«, antwortete er. »Und wie fandest Du meinen Vergleich? Dein Vater und Klingsor, das war nett gemeint.« – »Mein Vater sagt, er sei kein alternder Maler. Niemals.« – »Das wollte ich auch nicht behaupten. Ich wollte sagen, dass er ein Künstler ist. Wurden seine Sachen schon mal ausgestellt?« – »Bisher nicht.« – »Dann wird es höchste Zeit. Du solltest Dich mal darum kümmern. Du hast doch nichts zu tun.« – »Von wegen! Du hast keine Ahnung.« – »Aber was tust Du an Land den lieben langen Tag? Kaum etwas, oder? Liest Du wenigstens Hesse?« – »Narziss und Goldmund habe ich gelesen.« – »Typisch, ausgerechnet. Das ist nicht sein bestes Buch.« – »Und was sollte ich lesen?« – »Siddharta. Und Klingsors letzter Sommer. Beides liest man an einem Tag.« – »Und Du hast beides natürlich dabei?« – »Na klar. Womit fängst Du an?« – »Gib mir doch gleich beides, dann schaue ich mal.« – »Dann schaue ich mal …, dann schaue ich mal. Mann, es wird höchste Zeit, dass Du das liest! Und auch sonst solltest Du an Tempo zulegen. An Lebenstempo, meine ich. Mit den Blondinen und den Pferdeschwänzen und all diesen wunderschönen Geschichten. Du verstehst?« – »Ich verstehe kein Wort«, sagte ich und ging an ihm vorbei nach draußen. Er schlich hinter mir her und schaute mir zu, wie ich mich in den zweiten Liegestuhl legte und den fünften Gesang der Odyssee aufschlug. Sein Blick (wie sagt man denn?) »verweilte« auf mir, ich glaube, er dachte darüber nach, ob er wirklich (und wenn ja, in welcher Form?) in meinem Tagebuch vorkam …

Postbriefkarte an die Mama (16. Juli, 14.19 Uhr)

Liebe Mama, das Mittelmeer ist ein warmes, großes Becken. Wir schippern dahin, und Papa malt ein Aquarell nach dem andern. Wusstest Du, dass er eigentlich ein Zeichen- und Aquarellkünstler ist? Mit dem netten Steward plane ich eine Ausstellung seiner Arbeiten. Sie soll Mittelmeerbilder heißen. Papa weiß noch nichts davon, es interessiert ihn wohl auch nicht besonders. Wir haben die üblichen Mahlzeiten fast eingestellt und trinken stattdessen jede Stunde mindestens eine Flasche Wasser. Es sind über dreißig Grad. Papa trägt einen Strohhut und sieht aus wie der Maler Monet, ich meine den mit den Heuschobern. Der nette Steward nennt ihn Klingsor, nach einer Erzählung von Hermann Hesse, die Du unbedingt bald lesen solltest.

Der fünfte Gesang der Odyssee war gar nicht leicht zu verdauen. Vor allem die Stelle, wo Odysseus das Floß baut, gab mir Rätsel auf. Erstaunlich fand ich, wie genau Homer über so etwas Handwerkliches Bescheid wusste. Statt zu dichten »Odysseus baute sich in wenigen Tagen ein Floß«, hält er sich bei vielen Details auf. Bei den Baumstämmen, die gefällt werden mussten (zwanzig waren es!, zwanzig!), bei den Bolzen und Klammern, mit denen sie aneinandergefügt wurden, beim Mastbaum, der Rahe, dem Ruder, bei Brassen, Tauen und Schoten – Mann, ich musste es mehrmals lesen, bis ich es mir wirklich vorstellen konnte! Vier Tage brauchte Odysseus für diesen Bau, am fünften verabschiedete er sich. Und die Nymphe Kalypso (ich stellte sie mir groß vor und blond, und genau diese Vorstellung brachte meine Bilder vom Floßbau erneut durcheinander) … – und die Nymphe gab ihm Wein, Wasser und ein paar Speisen mit auf die Fahrt, und dann ließ sie einen passenden Fahrtwind wehen, und Odysseus spannte die Segel und machte sich auf den Weg heimwärts …

Die Nacht vor diesem Abschied hatten die große, blonde Nymphe und Odysseus noch ein letztes Mal miteinander geschlafen. Das stand wirklich im Text, genau das, und auch der Ort wurde genannt (im Innern einer »gewölbten Höhle«). Dann aber wurde es wenig präzise, denn es hieß: Sie erfreuten sich an der Liebe, beieinander weilend. Was sollte das heißen? Sich an der Liebe erfreuen … – und was meinte »beieinander weilend«? Ich verstand nicht, warum ein Dichter wie Homer, der die Entstehung eines Floßes bis ins letzte Detail beschrieb, in Liebesdingen derart allgemein blieb und kein einziges Detail parat hatte. Homer soll ein alter Mann gewesen sein, als er die Odyssee dichtete. Ein Mann in seinem Alter wusste also Bescheid. Warum ging er dann aber über diese letzte Nacht hinweg? Ich hatte geglaubt, die alten Griechen seien nicht prüde, schließlich waren die meisten ihrer Statuen doch splitternackt. Und dann das! »Sie erfreuten sich an der Liebe, beieinander weilend.« Das hätte auch eine meiner lieben Tanten so dichten können!

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (16. Juli, 16.11 Uhr)

Es stimmt, mein Zeichnen und Aquarellieren werden immer besser. Und das nur, weil ich mir Zeit lasse. Ich möchte schon gar nicht mehr aufhören. Und da die afrikanische Küste wenig hergibt, zeichne und aquarelliere ich, was mir zum Thema »Afrika« durch den Kop f geht. Und was geht mir durch den Kopf? Als erstes Serengeti darf nicht sterben, der Grzimek-Film, den ich vor einem halben Jahr mit dem Jungen im Kino gesehen habe. Ich fand ihn großartig, er sprach meinen alten Jagdinstinkt an. Der Junge langweilte sich aber. Er hat keinerlei Jagdinstinkt, Klavierspieler haben etwas Anderes im Blut. Aber was? Ich habe mir den Grzimek-Film sogar noch ein zweites Mal angeschaut, um die Details besser zu erkennen. Der Junge hat mich nicht mehr begleitet, er fand, einmal sehen, sei wirklich genug.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (16. Juli, 16.47 Uhr)

Bei uns auf dem Land haben fast alle Männer einen Jagdinstinkt und gehen auf Jagd. Nur unser Vater hatte so etwas nicht, keine Spur. Unser Vater spielte Klavier (wie der Junge) und machte sich über die Jagd und die Jäger lustig. »Ihr seid eine Saubande«, sagte er, »Euch geht’s nur ums Schießen!«