Patras 6
Reisetagebuch (20. Juli, 20.28 Uhr)
Dass ich ein Land betreten würde, das von einer Militärjunta regiert wird, hatte ich während unseres Umherstreifens schon bald vergessen. Schließlich war nicht auf den ersten Blick zu erkennen, dass es so war. Wie hätte ich es also mitbekommen können? Ganz einfach, ich hätte es im Kopf haben und aufmerksam sein müssen, das war der Fehler. Wieder mal habe ich mich zu sehr für die alten, vergangenen Sachen (antike Götter, orthodoxer Glaube etc.) interessiert und dabei die Gegenwart vernachlässigt. Der erste Mensch, den ich aus eigener Initiative angesprochen habe, hat mir dann aber gezeigt, wie falsch ich mit meiner Gegenwartsträumerei liege. Ich höre mir lauter Straßenmusik an und finde sie toll – und dabei sind diese Straßenmusikanten vielleicht nur von der Junta bestellte Sänger, die zur Beruhigung des Volkes Lieder vom Land trällern. Ist es so?! Was kann ich denn zukünftig tun?! Wach sein, genauer hinschauen, weniger an die antiken Götter denken! (Aber gerade die antiken Götter sind momentan mein Lieblingsthema – das klappt also bestimmt nicht …)
Reisetagebuch (20. Juli, 20.52 Uhr)
Ich habe Denis an Deck gesehen und kurz mit ihm gesprochen. Er hat sich umgezogen und sieht völlig verrückt aus. Er trägt zu einer roten Hose blaue Schuhe und darüber ein buntes Hemd, wie beim Karneval. Die Haare hat er wieder enorm gegelt und sich mit irgendeinem Duftwasser einparfümiert. In einer Stunde ziehen wir los. »So spät?!« habe ich gefragt. – »Nicht spät, die Nacht ist noch jung!« hat er (weltmännisch) geantwortet. Ich gäbe etwas darum, an Deck bleiben zu dürfen. Aber ich darf mich nicht drücken. Kurz habe ich darüber auch mit Papa gesprochen. »Wann soll ich denn zurück sein?« habe ich (brav, nicht wahr?) gefragt. Und Papa hat gesagt: »Sieh mal selbst zu! Aber ich würde es nicht übertreiben!«
Es war dann vollständig dunkel, als Denis und ich loszogen. Er hatte eine Sporttasche mit meinen Sachen dabei und trug sie so lässig in der rechten Hand, als machte er das jeden Abend. Ich hätte ihn gern auf einige meiner Wissenslücken (orthodoxer Glaube, Theodorakis) angesprochen, aber es passte nicht. Denis bewegte sich rasch und wendig, er wollte nicht viel reden, sondern sein Ziel bald erreichen. Und ich lief wie ein Trottel neben ihm her, der von dessen Allüren abhängig war. (Soweit war es also mit mir gekommen!)
Kaum hatten wir das Hafengelände verlassen, zeigte sich schon, dass Denis (anders als Papa und ich) nicht durch die Stadt Patras ging, sondern durch sie hindurch tigerte. Laufend wechselte er die Straßenseite, begrüßte Herumstehende per Handschlag, blieb ein paar Minuten gesprächsweise stehen und zog weiter. Mich beachtete er dabei nicht, natürlich nicht, er wollte mir ja vorführen, was für ein toller Typ er doch war!
Fast bei jedem Stop trank er etwas, kein Bier und natürlich auch keinen Wein, sondern einen durchsichtigen, klebrigen Schnaps aus einem kleinen Gläschen, das er auf einen Schluck leerte. Für den Trottel neben sich bestellte er jedes Mal dasselbe, und ich tat ihm den Gefallen und leerte mein Gläschen ebenfalls auf einen Schluck.
Das Zeug schmeckte scheußlich nach Anis, und ich spürte, dass es mir nicht gut tat. Zwei Bier hatte ich an meinem ersten griechischen Tag bereits getrunken, das bekam ich nun zu spüren, denn der Schnaps wirkte so, als nähme er tief in meinem Magen eine üble Verbindung zu dem bereits getrunkenen Alkohol auf. Ja, wirklich, das Bier und der Schnaps verbündeten sich und hinterließen in mir eine Benommenheit, die überhaupt nicht angenehm war. Ich stolperte sogar ein wenig, aber Denis bekam nicht einmal das mit, so sehr war er mit seinen Spielchen beschäftigt. Er sprach sein Steward-Englisch, und es war seltsam, dass viele junge Griechen ihn sofort verstanden. Mist!, Papa und ich – wir hatten uns zu sehr an die alten Männer gehalten – und genau die hatten kein Wort Englisch gesprochen!
Wir waren kaum zehn Minuten in der Stadt (und noch in der Nähe des Hafens) unterwegs, als wir in eine schmale Straße einbogen, an der mehrere große Lagerhallen lagen. »Wir sind da!« sagte Denis, »komm, zieh Dich rasch um, hier draußen, zackzack!« Was sollte ich?! Mein Gott, es wäre völlig aussichtslos gewesen, ihn etwas zu fragen oder vernünftig mit ihm zu reden, denn er war so auf Dampf, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Komm, komm!« sagte er nur und ging mit mir hinter die Halle, wo kein einziges Straßenlicht hinreichte. Er öffnete die Sporttasche, nahm meine Sachen heraus und sagte: »Nun mach schon!«
Ich spürte, wie das Bier und der Anis in meinem Magen um die Wette kreisten und seltsame Signale an meinen Kopf sendeten. Vielleicht lag es daran, dass ich plötzlich so willenlos wurde und mich wahrhaftig Stück für Stück umzog. Mit einem Mal trug auch ich ein buntes Hemd, eine grüne Hose und Sportschuhe, der zweite Karnevalist war geboren. Ich dachte aber keine Sekunde über diese alberne Verkleidung nach, sondern ließ die Sache laufen und folgte Denis in die Halle.
Was ich da zu sehen bekam, hätte ich niemals erwartet, und ich wusste vom ersten Moment an, dass ich fort wollte. ›Fort! Nix wie weg!‹ dachte ich nur noch – und trottete dennoch ergeben hinter Denis her.
»Wenn wir uns aus den Augen verlieren, sehen wir uns hier am Eingang wieder, okay?« schrie er mitten hinein in den Lärm der Musik, und ich antwortete (völlig stupid geworden): »Okay, alles klar.«
Im nächsten Moment war er verschwunden, abgetaucht, weg – und ich stand weiter allein vorne am Eingang. Niemand sonst stand aber so da wie ich, nein, wirklich nicht, niemand machte so große Augen und wunderte sich und wusste nicht vorwärts noch rückwärts. ›Mensch!‹ sagte ich mir, ›nun mal los!‹ – und dann bewegte ich mich immerhin ein paar Schritte hinein in das Dickicht.
Denn das war es, es war ein unüberschaubares Dickicht mit Hunderten von jungen Menschen, von denen sich jeder Einzelne auf seine Weise bewegte und wer weiß was im Kopf hatte. Sie standen nämlich nicht mehr (wie in der Stadt) in kleinen Gruppen zusammen, und sie unterhielten sich auch nicht, sondern bildeten entlang der Wände der Halle eine hin und her wogende Masse, aus der die Tänzer zur Mitte hin ausbrachen und wie wild zu tanzen begannen. Manche machten das nur einige Minuten und ließen sich wieder in die Menschenwoge zurückfallen, andere (ganz in der Mitte der Halle) aber waren bereits völlig dem Tanzen verfallen und hatten nichts anderes mehr im Sinn.
Ich wollte mich wie gesagt voran bewegen, aber was bedeutete das schon? Ein paar freie Schritte zu machen – das war nicht möglich, denn ich steckte sofort in den vibrierenden, teils mitsingenden, teils auf der Stelle herumstampfenden Scharen fest. Sie keilten mich ein, ich bekam sie sofort zu spüren, ja, verdammt, ich roch ihre Körper und hörte, wie sie neben mir juxten und sich austobten und so taten, als wären sie nicht mehr bei Sinnen. Hatten sie alle vorher getrunken?! Von dem klaren, klebrigen Zeug?! Nein, hier waren bestimmt viel härtere Drogen im Spiel, Sachen, von denen ich noch nie gehört hatte … – ich (wieder mal) so elend »Unbewanderter«!
Und so ließ ich mich hilflos voran schieben und machte lauter winzige Schritte, um möglichst weit vom Eingang weg zu kommen. Was spielte ich hier doch für eine lächerliche Nummer! Bunt verkleidet stolperte ich in die griechische Unterwelt, wo es bestimmt Regeln und Gesetze gab, von denen ich noch nie gehört hatte!
Und dann bekam ich es wirklich zu sehen, ganz in der Nähe, und es wirkte auf mich wie ein Blitz! Denn ich sah plötzlich die Küsse, ja doch, vor und neben mir wurde geküsst – und das verdammt heftig! Die eine Hälfte der außer Rand und Band geratenen Scharen war zum Tanzen, die andere aber war anscheinend zum Küssen gekommen – so sah es jedenfalls aus! Die jungen Frauen küssten die jungen Männer und umgekehrt – und es schien zu den Regeln zu gehören, dass man nicht nur eine Person küsste, sondern kurz darauf zu einer anderen überging – um erneut jemanden zu küssen.
Das Küssen hatte dadurch aber etwas Lockeres, Leichtes und wirkte nicht (wie in den Filmen, die ich kannte) ernst oder feierlich. Wer hier küsste, war anscheinend nicht unbedingt verliebt oder so mit seinem Gegenüber vertraut und beschäftigt, dass er nicht von ihm ablassen wollte. Nein, im Gegenteil, hier konnte jeder vom andern ablassen, weil das Küssen nicht viel zu bedeuten schien. Es sah eher wie – ja, wie? … wirklich schwer zu sagen – es sah eher aus – wie ein organischer Austausch von Lippenberührungen.
Wie komme ich denn auf sowas?! Ich erkläre es kurz. Das Küssen in der riesigen Halle erinnerte mich an die Lippenbewegungen von Fischen, wie ich sie in unserem Kölner Großaquarium oft beobachtet habe. Es gibt nämlich Fische (die Namen weiß ich gerade nicht) mit unglaublich dicken, wulstigen Lippen. Sie bewegen diese Lippen laufend und schnappen herum und führen sich wie Kleopatra auf. Lippenbetont und lippenbesessen. Manchmal rudern sie heran an die Scheibe, glotzen die Besucher an und pressen ihre Lippen (als wollten sie küssen) kurz gegen das Glas. Es sieht nicht gut aus, ganz und gar nicht, aber die meisten Besucher lachen, um den aufkommenden Ekel zu überwinden.
Genau so aber wurde in der Unterwelthalle von Patras geküsst. Als wären die Lippen Saugnäpfe, mit denen man an den Lippen des Gegenübers so lange hängt, bis die Verspannung vorüber ist. Bestimmt ging es dabei auch um den Austausch von bestimmten Stoffen und Säften, ich hatte da so meinen Verdacht. Aber ich kam nicht dazu, diesen Beobachtungen und Gedanken nachzugehen, denn ich wurde hoffnungslos voran geschoben, an der hin und her wogenden Galerie der Küssenden und Singenden vorbei.
Was waren das alles bloß für Ekstatiker! Und welcher Gott war für sie zuständig?! Ich tippte auf Dionysos, aber wahrscheinlich lag ich damit falsch, und es gab viel frischere und gegenwärtigere Götter. Götter der Musik! Sänger! Gitarristen! Schlagzeuger! Was auch immer. Die Melancholiker der Straßenmusik hätten hier nicht die geringste Chance gehabt, und ich begriff endlich, dass die braven Lieder, die sie gesungen hatten, nicht das waren, was die jungen Griechen eigentlich hören wollten. (Oder?! Oder hörten sie am frühen Abend aus Anhänglichkeit brave Sachen – und nachts die wilden ausländischen?)
Natürlich kannte ich keine der Gruppen, deren Musik durch die Halle bebte, es mussten englische oder amerikanische sein, mehr wusste ich nicht. Ich war wohl der Einzige mit so einem fatalen Nichtwissen, denn die jungen Typen neben mir sangen fast jeden Song mit, schlugen mit den Händen wie berauscht ins Leere, hüpften auf der Stelle und verausgabten sich. Ich vermutete, dass sie stundenlang so durchhalten würden, es sah wirklich genau danach aus. Pausen gab es nicht, es ging immer weiter, immer voran – die Ekstase hatte alle gepackt, nur ein armer Trottel aus Deutschland spürte sie nicht und tappte durch das kaum erleuchtete Dunkel, das nur einige bunte und lächerlich wirkende Lämpchen an den Wänden und an der Decke ein wenig erhellten.
Es war beeindruckend (ungenaues Wort!), ja, das war es schon. Jeder, der diese Halle betreten würde, hätte mir zugestimmt. Es war anders als alles, was ich bisher zuhause gesehen hatte, anders als das Tanzen in Diskotheken (in denen ich es nie mehr als ein paar Minuten ausgehalten hatte), und vor allem anders als die Parties, die meine Mitschüler in irgendeiner Bruchbude veranstalteten, wenn sie Geburtstag feierten.
In den Diskotheken und auf den Parties hatte man nämlich bestimmte Personen im Blick. Ein Gegenüber, jemanden, den man mochte, oder sogar jemanden, den man heimlich ein bisschen verehrte (ich erkläre die Unterschiede jetzt mal nicht weiter). Hier aber fixierte niemand eine bestimmte Person, sondern man starrte zur Decke, schloss die Augen, gab sich der Musik hin, lehnte sich an den Nächsten, küsste und tanzte, tanzte und küsste …
Ich blieb dann endlich stehen, es war zuviel. Was sollte ich hier?! Küssen kam nicht in Frage, und Tanzen konnte ich nicht. Ich überlegte einen Moment, ob ich es versuchen sollte, denn es wäre (anders als erwartet) niemandem aufgefallen. Ich hätte mich verrenken können, keiner hätte das zur Kenntnis genommen oder seinen Nachbarn darauf aufmerksam gemacht, was für ein Trottel da zu tanzen versuchte. Trotzdem, nein, ich war kein Tänzer (und würde nie einer werden). Man kann versuchen, sich selbst zu animieren, das wusste ich auch. Es hilft aber nichts, es hilft gar nichts – vor allem dann nicht, wenn einem eine Sache vollkommen fremd ist und man sich Gewalt antun muss. Also nein, schließlich gab es andere Sachen, die mir Spaß machten, und auf die konnte ich setzen. (Und worauf, bitte schön?! Klavier spielen, na klar, aber reicht das?)
Als ich das Thema Tanzen (halbwegs) geklärt hatte, ging ich die Sache aktiver an. Und so nahm ich mir vor, eine einzige lange Runde an den Wänden der Halle entlang zu drehen, zurück bis zum Eingang. Danach aber wollte ich stillschweigend (wie genau Worte sein können!) verschwinden, auch ohne Denis. Ich bahnte mir also Schritt für Schritt meinen Weg und kam genau gegenüber dem Eingang an einer kleinen Bar vorbei, wo Getränke ausgeschenkt wurden.
Ich wollte nichts mehr trinken, auf keinen Fall, für heute hatte ich einfach genug. Doch es kam anders. Denn vor der schmalen, rot leuchtenden Theke stand eine junge Frau, die mich stoppte. Sie sprach mich auf Griechisch an, und ich schüttelte den Kopf, sie versuchte es auf Englisch, und ich stammelte hilflos etwas zusammen. Dass ich meinen Bruder suchte, dass mein Bruder verloren gegangen sei … – kein Witz, es fiel mir nichts Besseres ein, um mich von der jungen Frau zu lösen und weiter zu kommen.
»Okay!« sagte sie, sie habe verstanden, und dann meinte sie, dass sie mir helfen wolle, den Bruder zu finden, und dass ich ruhig bleiben solle. Sie hängte sich sogar bei mir ein und dann drehte sie sich zur Theke hin um und bestellte zwei der teuflischen, kleinen Gläschen mit dem Anisschnaps. Ich bekam eins in die Hand, und dann stießen wir damit an, und es blieb mir nichts übrig, als auch dieses Gläschen rasch, auf einen Schluck, herunter zu kippen.
Danach passierte es dann, und ich erzähle es jetzt (denn es muss ja sein, um bei der Wahrheit zu bleiben) so nüchtern wie möglich. Die junge Frau (sie hieß Delia) umschlang mich plötzlich und küsste mich ohne Vorwarnung, und so stand ich mit ihr zusammen direkt vor der Theke – und das Küssen wollte nicht enden. Ja doch, es stimmt. Gerade noch hatte ich wahre Kussorgien zu sehen bekommen, ich wusste also einigermaßen Bescheid.
Es kam darauf an, das Küssen in die Länge zu ziehen, man musste sich ihm ganz und gar widmen. Ohne Nebengedanken. Ohne Gedanken an das Vorher und Nachher. Auf die Verlängerung und Steigerung des starken Gefühls kam es an – und darauf, dieses brennender werdende Empfinden so zu steigern, bis einem die Luft ausging.
Wir küssten uns also einige Zeit – und ich muss hinzufügen, dass es Delia auch zu gefallen schien. Als wir unsere Lippen voneinander trennten, schaute sie mich (fast begeistert) an und strich mir plötzlich mit der Hand durch die Haare. Diese Geste irritierte mich sehr, sie hatte mit dem Küssen so gar nichts zu tun, es war eine Geste aus einem anderen Stück. Und aus welchem? Lassen wir das, die Streichelgeste passte nicht, sie machte verlegen – und das so sehr, dass ich wieder von meinem Bruder zu sprechen begann und davon, dass ich ihn suchen müsse.
Delia ließ mich aber nicht ziehen, sondern ging mir voraus und zog (umgekehrt) mich hinter sich her. Wer uns beobachtet hätte, dem wäre vielleicht der Gedanke gekommen, wir seien ein Paar. Delia und Ioannis – ein Paar! Mich gruselte etwas, ich war sehr durcheinander. Und obwohl es weder eine Schmach noch sonst eine Katastrophe war, von Delia durch diese Unterweltszenen geschleust zu werden, dachte ich doch an nichts anderes als daran: die Flucht anzutreten.
Wir waren höchstens noch zehn Meter vom Eingang entfernt, als ein einziger Song die Stimmung in der Halle zum Überkochen brachte. Es war All you need is love …, genau das – und es war der erste Song, den ich so einigermaßen zuordnen konnte. Denis hatte davon gesprochen, richtig, es war wohl der neuste Song von den Beatles.
Die Wirkung war enorm. Auf einen Schlag wurden das Küssen und Herumalbern eingestellt – und fast alle strömten in die zuvor halbleere Mitte der Halle, um, nein, nicht um zu tanzen, sondern um ihre zuckenden Körper den Beatles zu opfern.
Ich weiß, das klingt pathetisch und übertrieben, aber ich dachte es sofort: Wie die alten Griechen ihren Göttern dies und das geopfert haben (und manchmal waren es angeblich sogar Menschen gewesen), so opferten die jungen Ekstatiker von Patras ihre Seele und ihren Leib jetzt den vier Sängern aus Liverpool! Sie vergaßen, wer, was und wo sie waren, sie löschten ihr kleines Patras-Dasein aus und sie warfen sich in den Orkus der Musik, der – ja, das muss ich zugeben – rauschhafter und überwältigender war als alles andere, was ich bisher in dieser Halle zu hören bekommen hatte.
All you need is love, all you need is love – alle ließen sich in diese krachend vorgetragenen Wiederholungen fallen und sangen (nein: schrieen) den simplen, kindlichen Text mit, als müssten sie jemandem beweisen, wer sie eigentlich waren, und als müssten sie der Welt ihren Trotz und Widerstand zeigen.
Natürlich kam ich dagegen nicht an, und warum auch?! Der Song packte mich mit, und ich geriet in seinen Sog und war erleichtert, mitsingen zu können. Endlich nicht mehr allein, endlich ein Teil dieses Rauschs!
Delia freilich geriet dadurch aus dem Blick, es hatte sie irgendwohin verschlagen, egal, ich konnte ihr sowieso nicht folgen. Immerhin aber konnte ich mir einbilden, dass ich zusammen mit ihr all you need is love gleichsam gezündet und auf den Weg gebracht hatte, ja, in diese Richtung gingen meine fahrigen, wilden Gedanken.
Bis ich Denis erkannte. Er schob sich auf mich zu und sagte etwas über den Song und die Beatles, aber ich erkannte sofort, dass er überall oder nirgendwo war und gerade noch zusammen bekam, wer ich war, wie ich hieß und was mich hierhin verschlagen hatte. Jedenfalls nannte er mehrmals meinen Namen und bedachte ihn mit seltsamen Worten (in der Art von Kosenamen). Es hörte sich aber so an, als machte er sich über mich lustig, und zwar auf eine Weise, die mir überhaupt nicht gefiel.
Ich rief ihm zu, dass er die Sporttasche mit meinen Sachen herausrücken solle, seltsamerweise verstand er das und begleitete mich sogar zum Eingang, wo die Tasche hinter einem gewaltigen Vorhang neben vielen anderen Mitbringseln der jungen Ekstatiker von Patras auf einem Haufen lag.
Ich zog den Vorhang hinter mir zu und kleidete mich rasch wieder um, und dann schaute ich durch den Spalt des Vorhangs auf die tanzenden Massen und wartete den günstigen Moment ab, in dem ich weder Denis noch Delia in der Nähe zu sehen bekam.
Ruckzuck – ich schlüpfte durch den schmalen Spalt hinaus und weiter durch das Tor ins Freie. Als ich draußen war und den Abendhimmel in all seiner traulichen Naivität wiedersah, fühlte ich mich so erleichtert wie lange nicht mehr. Ich hatte »meine Erfahrungen« gemacht, ja, durchaus, aber es drängte mich wirklich nichts, sie so rasch zu wiederholen.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht kam ich an Deck. Papa schlief bereits, und auf der Albireo war nichts zu hören als das Hin- und Herschlagen eines Masts, der anscheinend nicht gründlich genug befestigt worden war.