Korinth
Ich war sehr müde und wäre gegen Mitternacht am liebsten zu Bett gegangen. Das war aber nicht möglich, weil der Isthmus von Korinth auf uns wartete. In wenigen Stunden würden wir ihn erreichen, sagte Kapitän Reckling und malte schon mal im Voraus die nautischen Probleme der Durchquerung aus. (Sonst hielt er sich mit diesen Ausmalungen zurück, denn die Unkundigen (wie etwa Papa und ich) verstanden davon sowieso kaum ein Wort.)
Angesichts des weltberühmten Isthmus musste aber anscheinend unbedingt das ganze Vokabular aufgeboten werden: Die Höhe der Felsmassive, die Breite des Durchbruchs, die Probleme, die vor allem darin bestanden, während der Nacht (und bei schwacher Beleuchtung) nirgends zu touchieren, das spezifische Tempo der Fahrt, die Berechnung der Gegenströmung (?) … – ich ließ es über mich ergehen und tat so, als hätte ich begriffen, dass uns etwas Einzigartiges bevorstand.
Zu verstehen war immerhin, dass die meisten Frachtschiffe den schmalen Kanal nicht durchfuhren, sondern außen herum kreuzten, rund um die Peloponnes. Dafür brauchten sie viel Zeit und konnten, wenn es schlimm kam, in gefährliche Gewässer geraten. Die Durchfahrt kostete die Reederei eine Menge Geld, doch die enormen Kosten schienen kein Hindernis zu sein. Die Albireo sollte Piräus so schnell wie möglich (und nach dem vorgegebenen Fahrplan) erreichen, das war am Wichtigsten.
Und so blieben alle wach und versuchten, die Zeit bis zum Erreichen des Isthmus totzuschlagen. Jeder beschäftigte sich mit einem Buch, einer Zeitschrift oder einer kleinen Arbeit, selbst Maro saß an Deck und sortierte die neusten Nachrichten, die er schon bald wieder in seiner Zeitung unterbringen wollte.
Unterhalten aber wollte sich niemand mehr, dazu waren wir alle einfach zu müde. Und da Alkohol vor der Durchquerung des Isthmus nicht mehr ausgeschenkt werden durfte, saßen wir alle auf dem Trockenen und kamen nicht richtig in Schwung. Manchmal stellte einer eine Frage oder machte eine knappe Bemerkung, danach versanken alle wieder in Schweigen.
Daher herrschte an Bord eine seltene Stille: als wäre für immer alles gesagt oder als litten wir alle an einer Krankheit, die das Reden erschwerte. Ich selbst fand das nicht weiter schlimm, sondern eher kurios: wie jeder dasaß und sich zu konzentrieren versuchte und wie das wohl keinem (außer natürlich Erwin Mühlenthal) so richtig gelang.
Insgeheim belustigt, versuchte ich mitzubekommen, was jeder von uns tat oder las. Papa hatte die Beschreibung Griechenlands von Pausanias (das Buch für die wahren »Altertumsfreunde«) wieder herausgekramt. Er las die Passage über das alte Korinth und flüsterte mir zu, dass schon in den frühsten Zeiten immer wieder versucht worden sei, die Landenge des Isthmus zu durchgraben. Selbst die mächtigsten Herrscher seien jedoch daran (und zwar vor allem an den Felsformationen) gescheitert. »Götterwerk gewaltsam zu ändern«, falle den Menschen nicht nur schwer, sondern sei ganz unmöglich, hatte Pausanias geschrieben, und Papa begann, von der großen Vermessungsaufgabe zu schwärmen, die der Durchbruch der Landenge in der Neuzeit mit sich gebracht habe. »Da wäre ich gerne dabei gewesen«, sagte er, »da hätte ich gerne mitgemacht.«
Nun gut … – wäre, hätte … wem war mit solchen Konjunktiven gedient? Heinrich Segemann jedenfalls nicht. Er trank in kleinsten Mengen einen rot schimmernden Fruchtsaft und las dazu Hermann Hesses Klingsors letzter Sommer. Bei ihm war das Buch also inzwischen gelandet, und als ich Denis (leise) fragte, auf welche Weise, antwortete er, dass Segemann nie solche Erzählungen lese, wohl aber jetzt, und das anscheinend aus »purer Anhänglichkeit« an Papa, dessen Zeichnen er großartig finde. »Könnte ich so zeichnen wie Dein Vater«, hatte Segemann in der Tat auch zu mir einmal gesagt, »hätte ich die Modellbauerei gar nicht erst begonnen. Jetzt stehen all meine Boote und Schiffchen nur noch herum und verstauben. Mit den Zeichnungen aber ist das anders, die leuchten von Jahr zu Jahr mehr.«
Auch Denis saß in unserer verstreuten Runde an Deck und gähnte alle paar Minuten. Er las nicht, sondern schrieb die Texte einiger Beatles-Songs eigens für mich auf. Ich fand das allerhand und hatte es so nicht erwartet. Er hatte mich auf die Spuren der Beatles gesetzt, für mich war das eine große Entdeckung. Schade fand ich es aber, dass ich nun wiederum Denis nicht für klassische Musik begeistern konnte.
Ja, im Ernst: Wäre irgendein Komponist der Klassik für Denis eine große Entdeckung gewesen? Mozart? Auf keinen Fall. Beethoven? Auch nicht. Beide erfüllten zu sehr die Vorstellungen, die Denis sich von »Klassik« machte. Bach kam noch am ehesten in Frage, vielleicht musste ich es aber auch ganz anders versuchen, Denis-gemäßer (aber wie genau?). Ich machte mir darüber Gedanken, aber ich war noch zu keinem Ergebnis gekommen.
Als Einziger von uns allen war Kapitän Reckling (der sonst immer »den Fels in der Brandung« spielte) nervös. Er las oder saß nicht, sondern stand oben auf dem Peildeck. Beide Hände in den Hosentaschen, erstarrt, die Schultern hoch gezogen. Seine Nervosität kam daher, dass er die Durchfahrt durch den Kanal selbst steuern oder leiten (»managen« nannte Mühlenthal es) musste. Ein großes Frachtschiff im engen Kanal – das war eine Aufgabe nur für den Kapitän und für niemanden sonst. Hier musste er sich beweisen, und hier würde auffallen, wenn er die wichtigsten Steuerungsaufgaben anderen übertrug. Deshalb also blieb Reckling in diesen Stunden allein. Niemand konnte ihm helfen, mit niemandem wollte er reden. Er peilte und peilte und stand eisern, als wehte ein heftiger Wind. Es wehte aber nicht einmal ein Lüftchen …
Und Erwin?! Ich vermutete, dass beinahe alle an Deck (vielleicht mit der Ausnahme von Heinrich Segemann) gerne gewusst hätten, in welches Buch sich Mühlenthal so lange vertiefte. Er las Seite für Seite und rührte sich nicht. Auch Bemerkungen machte er keine, er war einfach kein bisschen vorhanden.
Ich hatte mich zu Maro gesetzt und ging mit ihm die neusten Nachrichten durch. Dabei machte ich mir Notizen und dachte darüber nach, welche Nachrichten ich zu meinen kurzen Geschichten verarbeiten könnte. Manchmal schaute ich aber zu Mühlenthal rüber, und als ich es nicht mehr aushielt, ging ich zu ihm und stellte mich neben seinen bequemen Korbsessel.
»Was liest Du denn so begeistert?« fragte ich. – Erwin schaute nicht einmal auf. – »Was Passendes«, sagte er. – »Wozu passend?« machte ich weiter. – »Etwas Passendes zu unserer Umgebung.« – »Einen Griechenlandführer?« – »Na hör mal, ich lese doch keine Reiseführer!« – »Und was sonst?« – »Die Originalquellen!« – »Und die wären?« – »Die Briefe des Apostels Paulus an die Korinther …«
Meine Herren, das war wieder typisch! Ich hatte an antike, heidnische Texte gedacht – und Mühlenthal las Texte aus der Bibel! Paulus und die Korinther! Natürlich, Ausschnitte aus diesen Briefen kamen oft im Gottesdienst vor, ich hatte sie aber immer für sehr versponnen gehalten. Dass mit den Korinthern wahrhaftig die Einwohner von Korinth gemeint waren, hatte ich zum Beispiel nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Eher hatte ich vermutet, dass es sich bei den »Korinthern« um ein Sagenvolk handelte, dessen Namen Paulus erfunden hatte. Schließlich hatte er um jeden Preis predigen wollen, egal wem, egal wo, Hauptsache mächtig und laut! Seine Briefe waren wohl wichtiger als die vor Ort gehaltenen Reden gewesen, so war es mir jedenfalls vorgekommen – und genau deshalb hatte ich den Namen der »Korinther« auch für einen austauschbaren Namen gehalten, der für die Massen stand, die Paulus am liebsten auf der Stelle, durch die pure Macht seines Wortes, zum Christentum bekehrt hätte.
(Ganz kurz noch etwas zu Paulus, jetzt, da der Name schon einmal gefallen ist. Ich habe die Ausschnitte aus seinen Briefen, die ich im Gottesdienst zu hören und zu lesen bekam, nie besonders gelungen gefunden. Sie enthielten die ersten großen Predigten, mit deren Hilfe die Nachfolger Jesu dessen Lehre in der Welt verbreiten wollten. Als solche waren sie zwar zu respektieren und zu achten, schließlich gab es für sie keine Vorbilder. Und dennoch: Die vier Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes) waren in meinen Augen klare, anschauliche und sogar gut erzählte Texte. Paulus aber war weder klar noch anschaulich noch konnte er gut erzählen. Manchmal hatte ich bei Lektüre seiner Briefe sogar den Eindruck, dass er sich den Glauben erst zurecht dachte – und das auch noch mit Worten, die nach viel klingen und Gott weiß was hermachen sollten, aber nicht genau waren. Hatte er überhaupt eine präzise Idee davon, was er predigen wollte? Jedenfalls kamen in seinen Briefen viele große und abstrakte Begriffe vor, und das tat ihnen nicht gut.
Noch weniger tat ihnen aber gut, dass Paulus in seiner aufbrausenden Art immerzu über das Ziel hinaus zu schießen schien. Ich glaube, er hatte von sich als Prediger noch die Vorstellung vom obersten Göttergott Zeus, der ausschließlich Donnerworte verkündete und Blitze schleuderte. Besser wäre es gewesen, wenn Paulus versucht hätte, so wie der Herr Jesus zu sprechen: Freundlich, den Menschen zugewandt, leise und eindringlich …)
Paulus in Korinth
Soeben ist Paulus nach langer, beschwerlicher Reise in Korinth eingetroffen. Seine Gefolgsleute boten ihm eine Stärkung (etwas zu essen und kühles Wasser zu trinken) an. Paulus lehnte jedoch ab und verlangte, ihn sofort zu einem Felsen mitten in der Stadt zu führen, von dem herab er zu den Korinthern predigen könne. Die Gefolgsleute sagten ihm, dass es einen solchen Felsen nicht gebe, sondern höchstens die hoch gelegene Burg, von der er aber nicht herab predigen könne, weil ihn dann in der Stadt niemand verstehe. Paulus schimpft nun mit ihnen, er hält sie für unfähig, seinen Predigten den bestmöglichen Rahmen zu verschaffen. Sie haben ihm ein großes Gasthaus vorgeschlagen, das von vielen Korinthern besucht wird. Er aber hat geantwortet, dass er, Paulus, der wortgewaltige Diener Jesu, nie in beengten Gasthäusern predigen werde, sondern nur da, wo ihm Tausende lauschen können. Derzeit machen sich seine Gefolgsleute auf die Suche nach einem geeigneten Platz. Paulus selbst hat inzwischen immerhin einen Krug Wasser geleert, mit Speisen möchte er seinen Bauch jedoch nicht beschweren. (Bericht unseres Korrespondenten Flacchus Antonius aus Korinth)
Pausanias, Hesse, die Beatles und Paulus – wir Typen an Deck waren wirklich eine bunt gemischte Truppe – und das nicht nur, was die Lektüren und Vorlieben betraf.
Als ich die kurze Paulus-in-Korinth-Geschichte geschrieben hatte, setzte ich mich in einen Liegestuhl und schaute nur noch auf die Küste, die ganz nahe an uns vorbei zog.
Es war eine stille, antike Nacht. Die Sterne waren deutlich zu erkennen, mit all ihrem Geflimmer und ihrer (unverschämten) Lautlosigkeit. Die vielen Lichter auf dem Festland erschienen wie ihre irdischen Spiegelungen: Straßen- und Häuserlampen, Verkehrslichter und die herumeilenden, zitternden Lichter der Autos.
Wir passierten das heutige Korinth mit seinen Neubauten und erleuchteten Strandzonen. Dann verlangsamte die Albireo und kam vor der Einfahrt zum Kanal kurz zum Stillstand. Kapitän Reckling und Mühlenthal standen längst, von zwei weiteren Matrosen begleitet, auf der Kommandobrücke. Segemann war zum Heck hin geflüchtet, Maro hatte sich in seinen Funkerraum zurückgezogen. Und so standen nur noch Papa und ich an Deck und bestaunten regungslos, was nun Großes geschah.
Unglaublich langsam, fast wie im Gehen, passte sich unser schweres Schiff in das furchterregend schmale Nadelöhr ein. Zu beiden Seiten stiegen die glatten, in tiefgelbes Nachtlicht getauchten Felsmassive hoch an und überragten uns so, dass man glaubte, den Kopf einziehen zu müssen.
Zum ersten Mal während der ganzen bisherigen Fahrt schien die Albireo menschliche Züge anzunehmen und menschlich zu empfinden. Wir hörten sie nämlich nicht mehr, kein Motorengeräusch, nichts, nicht mal das Knirschen eines Mastes oder das leise Vibrieren des Decks! Stattdessen schwieg sie plötzlich, als hielte sie die Luft an. Die zigmeter hohen Wände auf beiden Seiten, die wie gewaltige Titanen mit enormen Kräften aussahen, machten sie sprachlos. Reckling und Mühlenthal hatten sie aber im Griff, und zwar so, wie ein guter Reiter sein Pferd im Griff hat. Sie ließen das Schiff gewähren und tun und machen – sie ließen es, so langsam es eben wollte, durch den Kanal treiben und gleiten.
Niemand an Bord rührte sich. Hinten an Deck war die Mannschaft versammelt und blickte an den feuchtnassen Wänden hoch. Keiner sagte ein Wort, nicht einmal ein Husten war zu hören. Und so lag über dieser Durchfahrt, die sich lange hinzog, eine Ergriffenheit, wie ich sie in so merkwürdig feierlicher Form noch nie erlebt hatte.
Selbst Papa hielt den Atem an und sagte nichts mehr. Und ich?! Ich machte einige Fotos, hörte damit aber sofort wieder auf, weil sie den starken Eindrücken niemals gewachsen gewesen wären.
Mitten im Kanal erlebte ich dann aber jenen seltsamen Augenblick, den ich noch immer nicht gut beschreiben kann. Es war so etwas wie ein »Durchbruch«, ja, kein Witz, es war, als durchquerte ich gerade nicht nur den Kanal von Korinth, sondern auch einen Kanal tief in mir drin. Das klingt schrecklich und kitschig, es war aber so. Mein Herz begann plötzlich zu rasen (aus Furcht?), und ich klammerte mich an die Reling.
»Was ist mit Dir?« fragte Papa. Ich konnte nicht antworten, denn ich spürte die Beengung so, als griffen diese hohen Wände nach mir. Es war irgendetwas Psychisches, Dunkles, ich vertrug das Ganze nicht, es war eine heftige, bisher noch nicht gekannte Platzangst (Papa nannte es später »eine Phobie«).
Er ging mit mir zurück in die Kabine, gab mir Wasser zu trinken und setzte sich auf einen Stuhl neben mein Bett.
»Das geht bald vorüber«, sagte er und griff nach den Blättern, die ich vorher auf unseren Tisch gelegt hatte. Dann überflog er, was Denis an Beatles-Texten notiert hatte. »Hat Denis das für Dich aufgeschrieben?« fragte er. – »Ja«, sagte ich, »es sind Texte der Beatlessongs.« – »Haben eigentlich Salinger und der Fänger im Roggen etwas mit den Beatles zu tun? Ich meine, nicht direkt, sondern indirekt.« – »Wie meinst Du das?« fragte ich. – »Ach, jetzt nicht, wir reden später einmal über das Thema.« – »In Ordnung«, sagte ich. – »Soll ich Dir etwas vorlesen?« fragte Papa. – »Ich weiß nicht«, antwortete ich, »vielleicht geht es mir dann noch schlechter.« – »Nein, das wird es nicht«, sagte Papa, »auf gar keinen Fall. So, und jetzt schließ mal die Augen und hör zu, was Dein Vater Dir vorliest.«
Ich schloss die Augen und hörte, wie Papa ein Buch herbei holte. Er setzte sich wieder auf den Stuhl neben mein Bett, na klar, er war jetzt wieder der Arzt, der beste und einzige, den ich je gehabt habe.
Und dann hörte ich ihn lesen, jenen Text, den wir beide (jeder für sich und auf Deutsch) so oft gelesen haben, den er mir aber noch nie vorgelesen hatte. Papa las ihn auf Englisch, und ich hörte zu und verstand seltsamerweise jedes Wort: He was an old man who fished alone in a skiff in the Gulf Stream and he had gone eighty-four days now without taking a fish. In the first forty days a boy had been with him. But after forty days without a fish the boy’s parents had told him that the old man was now definitely and finally salao, which is the worst form of unlucky, and the boy had gone at their orders in another boat which caught three good fish the first week. It made the boy sad to see the old man come in each day with his skiff empty and he always went down to help him carry either the coiled lines or the gaff and harpoon and the sail that was furled around the mast. The sail was patched with flour sacks and, furled, it looked like the flag of permanent defeat …