Athen 5

Am letzten Vormittag, den wir noch in Piräus/Athen verbringen würden, wollten Papa und ich auf die Akropolis, wir hatten uns dieses Ziel bis zuletzt als Höhepunkt aufgehoben. Oben auf dem Felsplateau zwischen lauter Tempeln zu sitzen und auf das weite Land ringsum bis zum Meer zu schauen – das hielten wir für einen würdigen Abschluss. Und da wir dafür nicht viel Zeit haben würden (die Albireo sollte am frühen Nachmittag Richtung Chalkis ablegen), ließen wir das Frühstück an Bord wieder aus und machten uns zeitig auf den Weg.

Vorher hatte Denis uns einen weiteren Luftpostbrief von Mama ausgehändigt. Ich hatte ihn in meinen Rucksack gesteckt, und Papa und ich hatten entschieden, ihn während der Fahrt mit der Vorstadtbahn von Piräus nach Athen zu öffnen. Ich würde ihn vorlesen (wie schon beim ersten Mal), und Papa würde (gespannt) zuhören.

Bevor es soweit war, kam ich aber noch einmal kurz auf die gestrige Begegnung mit Delia zu sprechen. Ich wollte wenigstens ein paar Worte von Papa dazu hören, irgendetwas, sein ewiges Ausweichen (oder Drüberweg- oder Dranvorbeireden – ja, was nun?!) begann, mich zu nerven.

»Sag mal«, begann ich, »wie hat Dir denn die junge Griechin gestern gefallen?« (Mein Gott, das war eine Frage auf unterstem Niveau, furchtbar – aber ich wollte es eben wissen …) – »Das willst Du wirklich von mir hören?« entgegnete Papa. – »Ja, sag doch mal was dazu, ich habe keine Ahnung, wie sie Dir gefallen hat!« – »Ich auch nicht«, antwortete Papa, »wie soll ich denn dazu etwas sagen, wo ich doch höchstens drei Minuten mit ihr gesprochen habe?!«

Zack – das war typisch Papa. Kurz, knapp, und – er hatte vollkommen recht. Was sollte er schon sagen? Nach einer Begegnung von drei Minuten! Sollte er etwa einen kleinen Schmalztopf anrühren, in der Art von: »Lieber Junge! Deine junge Freundin sieht hinreißend aus! Und dabei doch so bescheiden! Das schlichte Kleid hat mir besonders gefallen! Und der Pferdezopf ist niedlich! Ganz zu schweigen von ihren großen, typisch griechischen Augen! Sie erinnerten mich an die Augen der schönen Koren im Nationalmuseum! Da hast Du eine gute Wahl getroffen, mein Junge!«

Ich sagte nichts mehr. Es war eine blöde Dummheit von mir gewesen, das Thema noch einmal anzusprechen. Konnte ich mit dieser Sache denn nicht allein klarkommen? Brauchte es noch meinen Vater?! Ja, anscheinend brauchte ich ihn – das wurde mir schlagartig klar. In Wahrheit hatte ich ihn jedoch nicht nach einem ersten, bloß äußerlichen Eindruck fragen wollen, sondern danach, was er zu der Freundschaft sagen würde, die sich gerade anbahnte!

Ich versuchte es noch einmal. »Delia sagte mir, dass Du sie nach Köln eingeladen hast!« – »Ja, habe ich.« – »Und wieso?!« – »Na, wieso denn nicht?! Das liegt doch nahe, wenn ihr befreundet seid!« – »Ich bin mir noch unsicher, ob wir das wirklich sind!« – »Was?! Natürlich seid Ihr das! Das sieht man doch sofort, auf den ersten Blick!« – »Ach ja? Aber woran sieht man so etwas?« – »Daran, wie zufrieden Ihr beide auf andere Menschen wirkt.« – »Tun wir das?« – »Absolut. Heinrich zum Beispiel hat später gesagt: Die beiden sind ein schönes Paar!« – »Na, ob ausgerechnet Heinrich den notwendigen Blick dafür hat – das bezweifle ich sehr!« – »Da tust Du ihm aber Unrecht! Heinrich ist Modellbauer, und Modellbauer haben genau den richtigen, scharfen Blick!« – »Ich weiß nicht …« – »Eben, Du weißt nicht … Du bist unsicher und stocherst im Nebel herum! Ich an Deiner Stelle würde mir nicht viele Gedanken machen! Ich würde Delia nach Köln einladen – und ich würde eine Einladung von ihr annehmen, wenn sie Dich nach Athen einlädt. Was ist daran so kompliziert?! Ihr solltet Euch besser kennenlernen – wenn Ihr das wollt! Und wenn nicht – ja, mein Gott, dann eben nicht! Habe ich recht?!«

Ich zögerte einen Moment. Ja, natürlich hatte er recht. Es war keineswegs kompliziert, ich wehrte mich nur gegen seine raschen und (in meinen Ohren) zu flott klingenden, logischen Schlussfolgerungen. »Meine Herren, ist ja gut …«, sagte ich, »für Dich ist das Ganze sehr einfach! Für mich eben nicht.«

Wir saßen dann in dem Vorortzug nach Athen, und ich dachte: ›Manchmal hat Papa auch etwas Stures! Bisher habe ich das kaum je bemerkt, aber gerade bemerke ich es! Er hat eine Meinung, und er lässt sich nicht dreinreden. Was er für richtig hält, ist eben richtig.‹

Ich war etwas sauer und auch wütend, weil er mich so abblitzen ließ. War ich denn noch immer der unerfahrene, naive Junge, den man mit ein paar logischen Schlussfolgerungen zufrieden stellte?! Etwas in mir bäumte sich gegen seine Gelassenheit auf, ich wusste aber nicht, wie ich dagegen angehen sollte. Da sagte ich (einfach so, knochentrocken, als feuerte ich einen Warnschuss in die Luft): »Delia möchte, dass wir uns verloben!«

Das saß. Als ich den Satz herausgebracht hatte, wusste ich gleich, dass er einschlagen würde. An ihm kam Papa nicht mehr vorbei, jetzt musste er Farbe bekennen. Vielleicht reizte ihn meine Dreistigkeit auch, meinetwegen, sollte er doch ruhig mal aus der Haut fahren!

Er antwortete aber nur: »Verlobt man sich in Griechenland früher als bei uns?! Und was bedeutet eine Verlobung konkret?« – »Du sturer Hund!« hätte ich am liebsten geschrieen – und weiter: »Sollen wir Nachforschungen darüber anstellen, was eine Verlobung in Griechenland gestern und heute, unter besonderer Berücksichtigung des orthodoxen Glaubens, bedeutet?! Fragst Du danach?!«

Ich machte aber stattdessen eine Pause und versuchte, mich zu beruhigen. Natürlich war ich auf dem falschen Weg, ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. »Mühlenthal hat sich übrigens gerade verlobt«, sagte ich (leise), »das zumindest ist sicher.« – »Was Du nicht sagst«, antwortete Papa, »kennst Du etwa seine Verlobte?« – »Nein, natürlich nicht! Wir beide lernen sie aber morgen kennen!« – »Morgen?! Da sind wir in Chalkis!« – »Eben – und in Chalkis kommt sie an Bord!«

Papa lachte: »Das weißt Du auch schon?! Fabelhaft!« – »Ja, das weiß ich. Gestern Nacht habe ich mit Erwin noch ein Glas Champagner getrunken. Auf seine Verlobung!« – »Großartig! Aber auf Deine habt Ihr hoffentlich noch nicht angestoßen, oder?!« – »Nein, haben wir nicht. Die Sache mit meiner Verlobung ist ein Scherz, aber das weißt Du ja sowieso.« – »Einen Moment lang habe ich geglaubt, dass was dran ist.« – »Und es hat Dich kein bisschen aufgeregt?« – »Doch, hat es. Ich habe sofort gedacht: Wie wollen wir das Deiner Mutter erklären? Und ich kann Dir sagen, dass ich darauf keine Antwort weiß. Nein. Ernsthaft. Ich wüsste nicht, wie man ihr so was erklärt. Aber jetzt Schluss damit! Lass uns Ihren Brief lesen!«

Gut, in Ordnung. Einmal durchatmen. Wir beide fahren wieder in dieselbe Richtung. Wie immer. Nichts bringt uns auseinander oder gegeneinander auf! Selbst eine (mögliche) Verlobung nicht. Wir beide sind einfach die Meister im Erledigen schwieriger seelischer Probleme. Wir schultern sie und werfen diese lästigen Brocken irgendwann ab. Wir trotzen jeder See und jedem Meer! Wie the old man – und der Junge, der ihn begleitet …

Ich öffnete meinen Rucksack und nahm Mamas Luftpostbrief heraus. Da kam mir noch ein letzter Gedanke – und ich fragte Papa: »Hast Du den Fänger im Roggen bald ausgelesen?!« – »Ja, habe ich.« – »Was meinst Du? Bin ich nicht auch ein wenig so wie dieser Fänger im Roggen, ich meine Holden Caulfield?!« – »Nein, bist Du nicht!« – »Ich finde schon. Holden ist ein unsicherer Typ, und er steht zwischen allen Lagern. Er ist kein Junge mehr, aber er ist auch noch kein Erwachsener – und er hat seine Probleme mit fast allen Menschen in seiner Umgebung. Er kommt mit ihnen nicht richtig zurecht, besonders dann nicht, wenn sie ihm etwas vormachen. Holden hasst solche Spieler, die sich wichtig tun, na, Du weißt schon!« – »Ja und?! Das mag alles sein, aber auf Dich trifft es nicht zu. Hasst Du etwa Kapitän Reckling? Oder Mühlenthal? Oder Heinrich? Und vergiss nicht, Du hast jetzt eine Freundin! Holden hat keine, und er wird so schnell auch keine finden.« – »Doch, er hat eine! Seine kleine Schwester!« – »Ah ja, na klar. Wenn Du so willst, ist die kleine Schwester auch seine beste Freundin, da hast Du recht. Übrigens sind die Passagen mit der jüngeren Schwester großartig. In meinen Augen sind sie das Beste in diesem Roman. Wie genau Holden sie beobachtet, und wie viel versteckte Liebe in diesen Beobachtungen liegt! Salinger beschreibt das so gut wie kein anderer!« – »Wie kein anderer? Du meinst, er ist unserem old man darin überlegen?!« – »Ja, ist er. In der Beschreibung der Zuneigung Holdens zu seiner Schwester schon. Darüber hätte Hemingway niemals geschrieben, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen.« – »Moment, noch ein Letztes! Du meinst ernsthaft, ich habe Holden etwas voraus?! Ich meine, ich bin weiter als er?! Ein kleines Stück?!« – »Ja, meine ich. Aber lass uns ein anderes Mal länger darüber reden. Wenn ich den Roman ausgelesen habe.« – »Gern, machen wir!« – »Na schön. Dann lesen wir jetzt beide zusammen den Roman Deiner Mutter!« – »Okay! …: ›Ihr Lieben! Ich stelle mir vor, dass Ihr inzwischen in Athen angekommen seid. Könnte ich doch mit eigenen Augen sehen, wie Ihr die Akropolis besteigt …‹« – »Johannes, lass das! Man macht keine Scherze über die Briefe seiner Mutter!« – »Doch, macht man. Muss man sogar machen. Unbedingt. Dann wirken sie stärker als ohne Scherze…« – »Jetzt lies endlich. Ich bin hier der Rechthaber, nicht Du!« – »Stimmt, Du bist der Rechthaber, heute sogar in Bestform!«

Dann las ich Mamas Brief vor: Sie bewegte sich, wann immer es ging, in unserem großen Garten. Sie zählte auf, was blühte und was nicht mehr, und sie erzählte von einzelnen Bäumen im oberen Wäldchen. Welche kleineren Schäden sie hatten und was man dagegen tun konnte.

Manchmal kam ihre Schwester mit ihrem VW-Käfer vorbei, dann fuhren die beiden übers Land. Sie tranken irgendwo unterwegs einen Kaffee und unterhielten sich mit anderen Gästen. Und sie sprachen über C., ihren Bruder, der ein Geistlicher ist. Mama schrieb über ihn, als wäre er ihr relativ fremd, und das kam daher, dass er Theologie studiert hatte und jetzt zusammen mit seiner Haushälterin in einem Pfarrhaus lebte.

Die beiden anderen Brüder arbeiteten in der Firma unseres Großvaters, und der Großvater war eindeutig der Prinzipal. Mama schrieb, dass er unsere Reise auf einer Karte genau verfolge und gespannt darauf sei, was wir nach unserer Rückkehr berichten würden.

Ich konnte mir ihn genau vorstellen: meinen wissensdurstigen Großvater! Ich mochte ihn sehr, und auch die Großmutter mochte ich sehr, sie hatten beide (wie man so sagt) »die Ruhe weg«, und wenn man sie besuchte, nahmen sie sich alle Zeit, um sich mit uns zu unterhalten. Mama wollte im Haus der Großeltern immer irgendetwas ordnen und richten, und Großvater sagte dann meistens zu ihr: »Kind, lass das! Du brauchst das nicht mehr zu tun!« Ich hörte es furchtbar gern, wenn er das sagte und Mama »ein Kind« nannte, und wenn wir wieder allein waren, sagte ich spaßeshalber zu ihr auch »Kind, lass das!« – und sie fand es sehr komisch.

Mama drehte dann richtig auf, und nahm mit ihren Erzählungen das halbe Dorf durch – und Papa sagte plötzlich: »Mein Gott, was sie wieder alles erlebt hat!« – Sie hatte aber gar nicht so viel erlebt, sondern nur genau hingehört und sich viele Geschichten erzählen lassen. Mama mag es, wenn andere Menschen erzählen, ich glaube, das ist das Schönste, was sie so kennt. »Erzähl doch weiter!« sagt sie und bringt andere zum Reden, und das Seltsame ist, dass sie den ganzen Kram wirklich behält – und ihn hinterher in genau derselben Manier, in der ihr das alles erzählt wurde, wiedererzählen kann. Irgendetwas Geheimnisvolles geht in ihr vor, wenn sie in die Seelen anderer schlüpft, aber ich verstehe nicht genau, was das ist.

Ich habe mit meinem Onkel (ich meine den Geistlichen) einmal darüber gesprochen, und er hat gemeint, dass Mama durch ihr langes Stummsein in den Jahren nach dem Tod meiner Brüder das genaue Hinhören gelernt hat und außerdem noch, wie man sich in die Seelen anderer vertieft. Sie kann das so gut, dass sie sogar im Tonfall anderer Menschen spricht und erzählt – das Ganze ist manchmal unheimlich, aber ich möchte jetzt darüber nicht weiter schreiben und nachdenken.

Als wir in Athen ankamen, war ich mit Mamas Brief durch, und Papa nahm ihn an sich, und wir machten uns auf den Weg zur Akropolis. Bis man ganz oben auf dem Berg ist, erlebt man einen richtig anstrengenden Aufstieg, und Papa sorgte mal wieder dafür, dass wir alle Meter stehen blieben, uns umschauten und die sich verändernden Perspektiven besprachen.

Während dieses Gehens tauchten nämlich laufend neue Einzelheiten und Terrains neben oder unter uns auf (das Halbrund eines Theaters, eine Säulenvorhalle, eine Aussichtsplattform mit Blick auf den Areopag), so dass dieser Weg wie ein langer Film wirkte, der uns die Besonderheiten Athens Stück für Stück vorführte. Wie die alten Athener absolvierten wir jenen Gang, der Panathenäenzug genannt worden war – und als wir oben auf dem Plateau ankamen, hatten wir zunächst gar keine Augen für den mächtigen, alles dominierenden Parthenon-Tempel, sondern vor allem für die weite Umgebung ringsum!

Reisetagebuch (25. Juli 1967, 10.21 Uhr)

Man steht auf einem großen, strahlendweißen Höhenplateau und kneift in der sengenden Sonne die Augen zusammen. Zwei, drei Fremdenführer streifen umher und bieten ihre Dienste in mehreren Sprachen an. (Es ist aber so heiß, dass kein Fremder langen Erklärungen zuhören möchte.) Überall liegen bereits behauene oder zerborstene oder hilflos aufeinander getürmte Steinbrocken herum – das Plateau sieht aus wie ein Schlachtfeld, das unzählige Kriege erlebt hat und das niemand mehr aufräumen mag (sind die Griechen etwa der ewigen Antike müde geworden?). Dieses Durcheinander, sagt Papa, habe aber durchaus seinen Reiz. Jedenfalls wirke es stärker als eine glatte, aufgeräumte Fläche, auf der die Tempel wie öde Rekonstruktionen aussehen würden.

Reisetagebuch (25. Juli 1967, 10.46 Uhr)

Es stimmt! Der große Parthenontempel wirkt nicht wie eine Rekonstruktion, nein, auf keinen Fall! Jede seiner Säulen leuchtet bei genauerem Hinschauen in einer anderen Tönung. Da sie so ordentlich nebeneinander stehen (die Grundfarbe ist ein Altweiß, mit vielen Schlieren und Dunkelstellen und Ausbesserungen), wirken sie wie der geniale Einfall eines klugen, zurückhaltenden Architekten, der mal ein Experiment wagen wollte. Ich meine, sie wirken nicht einschüchternd oder bedrohlich, nein, überhaupt nicht. Eher wie das gelungene Ergebnis eines Architekturwettbewerbs! Genau diese Wirkung trägt dazu bei, dass man noch heute Freude an ihnen hat. ›Diese Säulen, die haben doch was!‹ sagte gerade Papa, und er meinte (wohl) damit, dass er sich keine Gedanken darüber macht, was sie ›bedeuten‹ sollen. Er begann, sie zu zählen, die Unregelmäßigkeiten zu notieren und sich nach den statischen Erfordernissen des Baus zu befragen. (Ich ließ ihn zeichnen und überlegen …, und entfernte mich etwas von ihm.)

Reisetagebuch (25. Juli 1967, 11.08 Uhr)

Der antike Panathenäenzug war auf einem langen Fries des Parthenontempels, ganz ringsum verlaufend, abgebildet. Auf ihm war die Bevölkerung Athens in unterschiedlichen Gruppen (junge Frauen, junge Männer, Rossereiter, tanzende Mädchen, Erzieher …) zu sehen, wie sie sich den auf der Akropolis sitzenden (und keineswegs thronenden!) Göttern näherten. Die Göttinnen und Götter saßen auf kleinen Schemeln, nicht frontal, sondern meist einander seitlich zugewandt, in lockerem Gespräch oder in lässigen Posen. Im Zentrum natürlich Zeus und seine Frau Hera, daneben aber waren Athene (als Stadt- und Schützgöttin) sowie Hephaistos (jener Gott also, der den Menschen die Kenntnis der höheren Kulturstufen näher gebracht hatte – über ihn habe ich schon einmal geschrieben) zu erkennen. An der Spitze des Panathenäenzugs überbrachten junge Athenerinnen der Göttin Athene ein von ihnen gesticktes Gewand. Dieses Festkleid besiegelte die Verbindung von Göttern und Menschen, wie ja überhaupt der Festzug nicht in zwei unterschiedlichen Regionen (höheren und niederen) spielte, sondern die Sphäre der Götter und die Lebenswelten der Menschen aufs Engste miteinander verband. Die Platten des Frieses sind heute nicht mehr an der alten Stelle, sie wurden geraubt und nach England gebracht (Schweinerei!). Und so bekam ich auf dem Akropolishügel nur kleine Teilstücke des Originals, Kopien und Zeichnungen zu sehen. (Ich kaufte mir ein schmales Buch mit Fotografien des gesamten Frieses und mit einem Kommentar eines Archäologen, auf Deutsch.)

Reisetagebuch (25. Juli 1967, 11.32 Uhr)

Ich sitze hinter dem Parthenontempel im Schatten, auf einem Säulenstumpf. Es sind viel weniger Menschen unterwegs als Papa und ich gedacht hatten (die Hitze ist anscheinend zu groß.) Große Freude habe ich an dem kleinen Büchlein mit den Darstellungen des Panathenäenfrieses. Über jedes Detail würde ich gern etwas schreiben, über die schnaubenden Rosse, die schwere Krüge tragenden Frauen – und über den Jungen, der sich seine Sandalen schnürt (tut er das?!). Papa hat das Büchlein auch bereits durchgeblättert – er überlegt, ob er den gesamten Fries nachzeichnen soll, natürlich nicht hier oben, sondern während unserer weiteren Fahrt auf dem Meer. Ich habe ihn sehr ermuntert, das zu tun. Wir könnten die Blätter zuhause rahmen lassen und aufhängen … (Mein Gott, was für eine gute Idee!! Wir sollten alle von Papa auf der Reise gezeichneten Blätter rahmen und aufhängen – das ganze Westerwaldhaus wäre dann ein einziges großes Griechenlandhaus!!)

Reisetagebuch (25. Juli 1967, 11.53 Uhr)

Der Panathenäenzug ist die Urprozession der alten Griechen. Die Prozessionen der orthodoxen Kirche greifen (behaupte ich jetzt einfach mal) auf diese antike Urprozession zurück. (Und die älteren Griechen bewegen sich noch heute auf den Straßen so, als wären sie Teil einer Prozession, die sich heutzutage allerdings hin zu den Kaffeehäusern bewegt.) Doch ich wollte keine dummen Witze machen, sondern aufschreiben, dass die Panathenäenprozession etwas ganz anderes ist als eine unserer christlichen Prozessionen (wie etwa die an Fronleichnam in Köln). Die christlichen Prozessionen kreisen (so kommt es mir vor) um ein dunkles Geheimnis (die Monstranz, den Altar, den Tabernakel) – und sie führen in strenger hierarchischer Anordnung (der Herr Kardinal zieht voraus) in die Tiefe einer Kirche, hin vor Gottvater. Der Panathenäenzug aber führt, begleitet von lauten Gesängen und Hymnen, zu den antiken Göttern, die sich auf ihren Schemeln ungeduldig räkeln, bis die Opfer und Gesänge vorbei sind und sie sich endlich unter die essende und feiernde Festgesellschaft der Menschen mischen können. (Schöne Vorstellung: Man sitzt als junger Grieche plötzlich neben Hephaistos, der gierig nach einem Lammkotelett greift …). Interessante Frage: Hätte ich nicht lieber in der Antike gelebt, zusammen mit Göttern, die keine Zehn Gebote kennen und viel übrig haben für Festmähler, Lebensfreude, Musik, Tanz und so weiter? Gegenfrage: Oder ist das Zusammensein mit einem unsichtbaren Gottvater in dunklen Kirchen nicht doch viel geheimnisvoller?!

Postbriefkarte an die Mama (25. Juli, 12.32 Uhr)

Liebe Mama, diese Postbriefkarte schreibe ich von der Akropolis, hoch oben, bei einer Temperatur von 35 Grad. Ringsum liegt die alte Stadt Athen mit ihren modernen Häusern und lauten Straßen. Einige schmale Wäldchen rahmen ihre niedrigen Hügel, und in der Ferne reihen sich die höheren aneinander und verbeugen sich vor dem weit (wie eine riesige Pfütze) auslaufenden großen Meer. Der Poseidontempel brütet vor sich hin, und Papa und ich trinken laufend Wasser aus unauffälligen Wasserstellen, kurz vor dem Verdursten. Die Szenen des Panathenäenfrieses (ich erkläre es Dir zuhause) gehen mir sehr nahe – warum habe ich bloß vor ein paar Jahren mit dem Reiten auf dem Hof von Onkel C. aufgehört? Die jungen Athener in meinem Alter waren alle auf Rossen unterwegs. (Und: Wo gibt es in Köln Schnürsandalen zu kaufen?)

Papa und ich waren mehrere Stunden auf der Akropolis (Papa zeichnete noch das Erechtheion, das ihm mit seinen Korengestalten (»Koren als Säulen – das ist ein Einfall!«) besonders gefiel. Schließlich wurde es aber Zeit, und wir machten uns an den Abstieg.

Kurz vor dem Verlassen des Plateaus drehten wir uns noch einmal um, und Papa markierte auf einer kleinen Skizze, was die Prozession des Panathenäenzuges vor Augen gehabt haben musste, als sie die Propyläen (die Vorhalle) hinter sich gelassen hatte. Zunächst eine große (fast zehn Meter hohe) Statue der Göttin Athene auf einem Sockel. Sie ist nicht mehr erhalten, man glaubt aber, dass diese Bronzefigur einen erhobenen Speer in der Rechten gehalten habe und dass man sie von weither (wohl sogar vom Meer aus) sehen konnte. Sie beherrschte also nicht nur den Burgberg, sondern zielte mit ihrem Speer auf das gesamte bewohnte Gelände der Stadt Athen.

Im Innern des Parthenontempels stand aber noch eine viel größere Athene (von ihr hatten wir gestern eine kleine Kopie im Nationalmuseum gesehen). Sie trug einen schweren Helm, besetzt mit einer Sphinx und Flügelpferden, und sie stützte sich mit der Linken auf einen schweren Schild, in dessen Innenseite sich (wie in einer Höhle) eine Schlange befand. Um Schultern und Brust trug sie ein merkwürdiges Fell (wie ein Halstuch), auf dem sich kleinere Schlangen (?) befanden.

Was für eine Gestalt war denn das?! Im Museum hatte ich sie mehrmals umkreist. Man konnte Angst vor diesem Wesen bekommen, so gebieterisch und fremd sah es aus. Es hatte so gar nichts gemein mit anderen Frauenstatuen, nein, es kam aus einer eigenen Welt.

Die Athena-Statue im Parthenon

Der gewaltigen Athena-Statue im Parthenon sah man an, dass sie die kriegerische Tochter des Zeus darstellte: Mit einem schweren Helm, einem Schild und mit der Statue einer Siegesgöttin in der Linken. Und dann: Überall diese Schlangen! Sie war ›bis zu den Zähnen bewaffnet‹, sogar das Halstuch war angeblich aus einem Fell, das Blitze abhielt! Kein Flecken freier Haut, selbst das Gewand bestand aus schweren Falten, wie eine Rüstung! Sie muss sehr stolz auf ihren Vater gewesen sein, ja, ich sah es ihr an! Sie hatte diesen grollenden, starken Vater wohl oft im Sinn und eiferte ihm nach. Alle Weiblichkeit ging darüber verloren, oder?! Na ja, es gibt auch viele andere Darstellungen der Athene, solche ohne martialischen Schmuck. Im Parthenon trat sie als Schutzgöttin der Stadt in Aktion – da musste sie kriegerisch erscheinen: ohne ein Lächeln, ohne die geringste Erinnerung an menschliche Gesten.

Nach dem Abstieg von der Akropolis machte Papa sich sofort auf den Weg zurück nach Piräus. Ich aber hatte Delia versprochen, mich noch einmal kurz mit ihr in einem Café in der Nähe des Omonia-Platzes zu treffen.

Als ich das Café erreichte, sah ich sie gleich. Sie saß an einem der kleinen, runden Tische – und ich wusste sofort, dass sie ein Geschenk mitgebracht hatte. In hellblaues Papier eingewickelt und mit einem dunkelblauen Geschenkband eingebunden, lag es vor ihr auf dem Tisch.

Verdammt, ich hatte so etwas nicht zu bieten! Heute früh hatte ich den bereits gestern entworfenen Brief noch rasch in Schönschrift abgeschrieben, etwas Passenderes war mir nicht eingefallen!

Wir umarmten uns und küssten uns flüchtig, und dann hörte ich die Minuten und Sekunden langsam vergehen und ticken!

Was redet man in solchen Abschiedsmomenten?! Wieder mal hatte ich keine Ahnung! Ich konnte ihr doch nicht von der Akropolis und den unterschiedlichen Statuen der Athene erzählen – nein, das ging wirklich nicht! Auch sonst gab es nichts mehr zu berichten, es ging nur noch darum, sich voneinander zu trennen und einen fernen Punkt in der Zukunft anzuvisieren. Die Zeit schrumpfte urplötzlich zusammen, und es gab nur noch den Moment des Abschieds und den eines möglichen Wiedersehens. Dazwischen musste irgendeine Brücke gebaut werden, aber wie?!

Selbst was man in so einem Moment trinkt, war mir nicht klar. Einen banalen Kaffee, wie an jedem anderen Tag?! Ein Glas Wasser (das wäre ein Hohn!)? Einen Sekt? Das wäre zu festlich (es gab doch nichts zu feiern). Irgendeinen Drink, wie ihn sich Paare am frühen Abend reinziehen? »Ich möchte nichts trinken«, hätte ich fast gesagt – und wäre nicht erstaunt gewesen, wenn Delia dasselbe gesagt hätte. Wir hätten einander gegenüber gesessen und uns die Hände gehalten. Und wir hätten einander angeschaut, bis die Tränen gekommen wären …

Herrgott – das sollte auf keinen Fall geschehen! Ich öffnete meinen Rucksack und nahm den Brief heraus. Ich legte ihn auf den Tisch und sagte: »Ein passendes Geschenk habe ich leider nicht gefunden. Ich habe Dir stattdessen einen Brief geschrieben.« – Sie nahm den Brief in die rechte Hand und schaute ihn an, als könnte sie ihn durch den Umschlag hindurch lesen. »Lies ihn bitte zu Hause!« sagte ich (zur Vorsicht).

Sie legte ihn zurück auf den Tisch und übergab mir ihr eigenes Geschenk, und als ich es so betrachtete, als wäre es ein Brief mit Umschlag, durch den ich hindurchschauen konnte, sagte sie: »Mach es bitte auf, es ist nichts Besonderes!«

Nun gut, ich musste es wohl oder übel öffnen, obwohl ich es lieber mit auf das Schiff genommen und erst viel später geöffnet hätte. Ich zog die Schleife des Geschenkbandes vorsichtig auf und gab mir Mühe, die Papierhülle nicht zu beschädigen. Als ich sie abgestreift hatte, lag ein schmales Büchlein vor mir. Es enthielt Fotografien des Panathäenfrieses, mit dem Nachwort eines Archäologen, auf Deutsch.

›Das kann ja nicht wahr sein‹, dachte ich, ›Mensch, dasselbe Buch! Jetzt besitzen wir es zweimal!‹

Ich versuchte, erstaunt und überrascht zu wirken – aber ich kann mich nicht dafür verbürgen, dass es klappte. Ich bedankte mich jedenfalls sehr und sagte, dass es ein wunderbares Geschenk sei und dass ich es gleich, während der Weiterreise, studieren werde.

»Na denn!« sagte Delia – und stand plötzlich auf. Wir hatten noch keinen Schluck getrunken, das passte einfach nicht. »Also gut!« antwortete ich und stand ebenfalls auf. Und dann stand der Kellner direkt neben uns und fragte, was wir trinken wollten. Delia schüttelte nur den Kopf, und ich sagte: »Zu spät! Es ist leider vorbei!«

Der Kellner wollte so etwas nicht hören und sagte, dass er sich beeilen werde, uns etwas zu servieren. »Nein danke«, sagte ich, »es ist jetzt einfach zu spät!«

Ich glaube, er hielt mich für komplett verrückt, aber er machte keine Anstalten mehr und schlich weiter.

Wir gingen ein paar Schritte zusammen – und dann küssten wir uns, lange, wie zum ersten Mal vor ein paar Tagen. Ich hatte einen trockenen Mund und einen rauen Hals, und ich fühlte mich gar nicht gut. Es war, als hätte ich Grippe oder etwas viel Schlimmeres, Selteneres, etwas, das mit den vielen Schlangen der Athene zu tun hatte, eine Infektion durch Schlangengift – oder, mit anderen Worten: etwas richtig Obszönes!

Dann aber setzte mein Verstand vollständig aus, und ich sagte: »Du weißt ja, ich wohne in Köln! Du weißt Bescheid!« – Delia lächelte (wenigstens das!) – und antwortete: »Und Du weißt, ich wohne in Patras und in Athen, Du weißt auch Bescheid!«

Ich presste die Zähne fest aufeinander und kämpfte, verdammt nochmal, gegen die Tränen. Und dann brachte ich es doch noch heraus und sagte: »Wir bringen das hin, keine Sorge, wir bringen das schon zusammen!« (Mein Gott, ich sprach wie ein Handwerker!) – Und Delia antwortete: »Ich habe da gar keine Sorge. Von Köln bis zum Meer sind es dreihundert Kilometer, und ich möchte jeden einzelnen sehen!«

Ich atmete tief durch, hörbar, erschöpft. Und Delia lächelte wieder und tat dasselbe: tief und laut durchatmen!

Und dann war es endgültig soweit, und wir trennten uns, und ich drehte mich um und ging davon, und als ich mich nach höchstens einer halben Minute noch einmal umdrehte, stand sie noch an derselben Stelle und schaute mir nach.

Ich dachte: ›Tu mir den Gefallen und geh!‹, sie tat es aber nicht. Stattdessen winkte sie mir zu – und ich muss sagen: Dieses Winken war von der ganzen Zeremonie (denn das war es, es war eine Ze-re-mo-nie!) eindeutig das Schlimmste! Ich hob ebenfalls meinen rechten Arm, er war bleischwer, als hielte ich den Speer der Athene, und ich nahm mir vor, rasch um die nächste Ecke zu biegen, um das Bild der winkenden Delia nicht noch einmal sehen zu müssen.

Wenige Minuten später saß ich in der alten, scheppernden Vorstadtbahn und stierte ins Leere. Ich fühlte mich, als hätte ich etwas verloren: die Lebenslust, die Energie – was weiß ich!

In Piräus tappte ich nur noch zu unserem Schiff, ging die Gangway hinauf und legte mich in unserer Kabine aufs Bett. Papa war (zum Glück) nicht zu sehen, so war ich allein mit meinem Unglück. Ich hörte, dass jemand an die Tür klopfte (das musste Denis sein), und als die Tür einen Spalt geöffnet wurde, schloss ich die Augen und stellte mich schlafend.

Schlafen wollte ich, nur noch schlafen! Und so blieb ich liegen, als ich draußen an Deck immer mehr Stimmen hörte. Ich wusste, dass die Albireo bald ablegen würde, aber ich hatte nicht die geringste Lust, an diesem Manöver wie ein interessierter Beobachter teilzunehmen.

Schließlich kam Papa in die Kabine. »Wir legen gleich ab«, sagte er, »kommst Du nach draußen?« – »Ich habe einen Hitzestich und starken Sonnenbrand, mir geht es nicht gut«, antwortete ich (leise). – »Dann bleib ruhig liegen«, sagte Papa, »ich kümmere mich um Medikamente!« – »Ich möchte keine Medikamente«, antwortete ich, »ich möchte ein Glas Retsina! Kannst Du mir das bringen, und kannst Du dafür sorgen, dass ich Denis ein paar Stunden nicht sehe?« – »Das kann ich alles, stell Dir das vor!« sagte Papa und begann, sich um mich zu kümmern.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (25. Juli 1967, 18.55 Uhr)

Dem Jungen geht es nicht gut. Die vielen Stunden in großer Hitze auf dem hohen Plateau der Akropolis haben ihm zugesetzt. Er hat einen starken Sonnenbrand und trinkt sehr viel Wasser. Wir haben kurz nach 16 Uhr den Hafen von Piräus problemlos verlassen. Die übliche, jetzt schon vertraute Prozedur: Ein Schlepper, der uns aufs offene Meer zieht, der Lotse, der die Navigation weitgehend übernimmt! Draußen vor der Küste lagen noch immer viele weitere Frachtschiffe, die auf die Einfahrt in den Hafen warteten. Reckling sagte, wir seien tadellos behandelt und rasch abgefertigt worden, in Bestzeit geradezu! Beim Abendessen (der Junge war nicht anwesend) erklärte Mühlenthal unserer Runde, dass er sich verlobt habe und seine Verlobte in Chalkis zusteige. Reckling war natürlich längst informiert, ich auch (durch den Jungen), nur Heinrich und Denis wussten noch nicht Bescheid! Wir werden bereits kurz nach Mitternacht in Chalkis eintreffen und dort zunächst ankern. Am frühen Morgen werden wir in den dortigen Hafen einfahren.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (25. Juli 1967, 21.13 Uhr)

Der Junge schläft viel. Denis hat mir Medikamente gegeben, und ich habe sie dem Jungen gebracht. Er mochte sie nicht nehmen, sondern hatte einen starken Widerwillen dagegen. Sein Gesicht glüht rot, und seine Haare sind so blond wie seit ewigen Zeiten nicht mehr. Ich blieb bei ihm in der Kabine, als er mir ein schmales Buch mit Fotografien des Panathenäenfrieses zeigte. Er bat mich, bald mit dem Zeichnen der einzelnen Szenen zu beginnen. Ich hatte das Gefühl, als bedeutete ihm das Zeichnen (ausgerechnet dieser Szenen?) sehr viel. Und so machte ich mich an die Arbeit. ›Fang bitte mit dem Jungen an, der sich die Sandale schnürt‹, sagte er. Ich suchte nach der Abbildung und entdeckte sie endlich. ›Warum denn damit?‹ wollte ich wissen. ›Frag nicht soviel, Papa!‹ sagte er und rollte sich unter der Decke zusammen, als wäre ihm kalt.