Anker lichten

Papa kam erst nach über einer Stunde zurück in die Kabine. Er schüttelte den Kopf, wirkte aber weder verärgert noch verbittert, sondern eher amüsiert. »Meine Herren«, sagte er, »Kapitän Reckling ist zu großer Form aufgelaufen. Er hat festgehalten, was wir alles dürfen und was nicht. Ich bringe den langen Katalog bestimmt nicht mehr zusammen, so was kann ich mir nicht merken.« – »Du willst es Dir nicht merken«, antwortete ich, »das ist die Wahrheit!« – »Du könntest recht haben«, sagte Papa, »aber ein paar Dinge habe ich doch noch im Kopf.« – »Also?« – »Also: Wir dürfen uns nur vorne, im Bugbereich, aufhalten. Bei Sturm, schwierigem Wetter, hohem Seegang bleiben wir am besten in der Kabine. Die Kommandobrücke dürfen wir nur betreten, wenn der Herr Kapitän es ausdrücklich erlaubt oder uns dazu auffordert. Entscheiden wir uns bei Aufenthalten an Land für einen Landgang, müssen wir pünktlich zurück sein. Sind wir nicht pünktlich zurück, fährt die Albireo ohne uns weiter. Gnadenlos …« – »Hat er wirklich ›gnadenlos‹ gesagt?« – »Mehrfach. ›Gnadenlos‹ ist eines seiner Lieblingswörter.« – »Dann war er lange im Krieg.« – »Ja, das war er. Aber ich habe mit ihm nicht darüber gesprochen, obwohl er genau darüber mit mir sprechen wollte. ›Ich spreche nicht über den Krieg‹, habe ich ihm gesagt, ›ich hasse das Thema.‹« – »Und? Wie hat er reagiert?« – »Es hat ihn erstaunt, er hatte nicht damit gerechnet.« – »Wie findest Du ihn?« – »Sag mir erstmal, wie Du ihn findest!« – »Na ja, er ist etwas eitel, aber das stört mich nicht. Und er war mir gegenüber ausgesprochen freundlich.« – »Stimmt, und ich weiß jetzt auch, warum. Er hat einen Sohn, der kaum älter ist.« – »Vielleicht vergleicht er mich mit seinem Sohn, könnte sein.« – »Ja, das tut er wohl. ›Mein Sohn ist etwa so alt wie Johannes‹, hat er gesagt, ›aber mein Sohn kann weder Altgriechisch noch Latein.‹« – »Und was macht sein Sohn stattdessen?« – »Keine Ahnung, er ist anscheinend auf einem Internat. Ich wollte nicht weiter nachfragen.« – »Also gut, jetzt aber sag: Was hältst Du von ihm?« – »Ich glaube, dass ihn irgend etwas bedrückt. Aber er gibt sich Mühe, es zu verbergen und freundlich zu sein. Es hätte schlimmer kommen können. Seltsam war nur, was er über die anderen Männer am Tisch gesagt hat.« – »Hat er gelästert?« – »Ja, ein wenig schon. ›Unser Erster Offizier ist im Umgang ein sehr schwieriger Mensch‹, hat er gesagt, »›wenn Sie Probleme mit ihm bekommen, sagen Sie es mir, ich kümmere mich dann darum.‹« – »Mm, das hört sich nicht gut an.« – »Nein, tut es nicht. ›Und Ihr Duzfreund Segemann hat auch so seine Macken‹, hat er noch gesagt.« – »Das hört sich noch schlimmer an.« – »Ja, so redet man nicht über seine Leute. Zuletzt bekam auch noch Denis sein Teil ab!« – »Aha, Denis ist in seinen Augen sicher ein junger Revoluzzer!« – »So in etwa. ›Achten Sie darauf, dass Ihr Sohn nicht mit Denis paktiert. Der hat eine Ader für dunkle Geschäfte.‹« – »Na so was. In den Augen unseres Kapitäns sind wir anscheinend von lauter üblen Gesellen umgeben, vor denen wir uns in Acht nehmen sollten.« – »Ja, es hörte sich so an, als wäre er die einzige vertrauenswürdige Person an Bord. Tadellos, unkompliziert, ehrlich, ein bescheidener Diener der Reederei.«

Wir waren eine Weile still, Papa starrte auf ein Bullauge, als gäbe es dort draußen noch eine ganz andere, harmlosere Welt, und ich blätterte in Homers Odyssee, konnte mich aber nicht konzentrieren. »Viel Raum haben wir an Bord ja gerade nicht …«, sagte ich schließlich. – »Wir werden hoffentlich damit zurecht kommen«, antwortete Papa.

Ich bemerkte, dass ihm anscheinend erst jetzt, kurz vor der Abfahrt, ganz klar zu werden schien, wie unser Leben in den nächsten Tagen aussehen würde. Vier sich hinziehende Mahlzeiten, wenig Bewegung, kaum Abwechslung – das waren vorläufig keine besonders abenteuerlichen Aussichten. Oder irrte ich mich? »Lass uns doch mal an Deck gehen!« sagte ich und stand auf. Ich achtete nicht weiter auf ihn, sondern verließ die Kabine und ging auf das Oberdeck. Neben den Rettungsbooten standen jetzt zwei Liegestühle, die Denis anscheinend dort für uns aufgestellt hatte.

Ich blickte über das ganze Deck und musterte noch einmal die langen Reihen der Ladung, ich begann, die Ölfässer und Eisenringe zu zählen, als ich einen kleinen Mann bemerkte, der auf einem der Fässer hockte. Er war ganz in Schwarz gekleidet und sah aus wie ein Kobold. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte, seine Erscheinung hatte etwas Unheimliches. Als er mich bemerkte, winkte er mit der Rechten, als wären wir alte Vertraute. Ich winkte ebenfalls, da verließ er das Fass und bahnte sich einen Weg zu mir hinauf.

Er gab mir die Hand und stellte sich vor. »Ich bin Maro, der Funker«, sagte er. An einen Funker hatte ich nicht gedacht, er überraschte mich mit diesem Satz, und die Sache wurde noch überraschender, als er davon berichtete, eine seiner Aufgaben an Bord sei die Nachrichtenübermittlung. »Welche Nachrichten meinen Sie?« fragte ich, »Nachrichten von zuhause, Nachrichten von Verwandten und Freunden?« – »Neinnein«, antwortete er, »keine privaten Nachrichten, sondern Nachrichten aus aller Welt. Schließlich gibt es an Bord ja keine Zeitungen, und Radioempfang ist nicht immer möglich.«

Ich stutzte. Papa und ich würden also einige Zeit nur mit jenen Nachrichten auskommen müssen, die Maro, der Funker, an uns weitergab? »Wie läuft das mit den Nachrichten?« fragte ich, »sind das ein paar Blätter mit verstreuten Meldungen, oder wie soll ich mir das vorstellen?« – »So in der Art. Ich stelle ein kleines Nachrichtenblatt zusammen, zwei Seiten alle paar Tage, wenn ich etwas Zeit habe.« – »Und was sind das für Nachrichten?« – »Ich richte mich ganz nach den Interessen der Mannschaft – und ein wenig auch nach denen der Passagiere.« – »Was interessiert denn die Mannschaft?« – »Vor allem die neuste Musik. Rock, Pop, Protestsongs, die ganze Palette. Dann natürlich Sport. Politik interessiert hier keinen Menschen, jedenfalls nicht der übliche Kram, das Parteiengezänk, die Provinzbühnen in Bonn. Damit darf ich unseren Leuten nicht kommen. Die halten Kiesinger für eine Mineralwassermarke.« – »Sie suchen die Nachrichten also ganz allein aus. Und Sie richten sich nach dem Publikum.« – »Ja, genau, so könnte man sagen. Ich weiß ziemlich genau, was bei unseren Leuten ankommt und was eben nicht.« – »Schreiben Sie die Texte selbst?« – »Meistens, ich fische mir die Meldungen aus dem Angebot der Radiosender und Zeitungen und schreibe sie für unsere Zwecke an Bord um.« – »Und was ist mit dem Kapitän? Interessiert ihn das auch?« – »Und ob! Ich lege ihm meine Texte vor, und er segnet sie ab.« – »Das hört sich ja beinahe an wie Zensur.« – »Naja, Zensur würde ich es nicht nennen, eher Kontrolle. Kapitän Reckling legt Wert darauf, mit zu bestimmen, was für die Leute an Bord von Interesse ist und was eben nicht.« – »Hat er schon einmal Meldungen aussortiert oder unterdrückt?« – »Er hat seinen eigenen Geschmack, so würde ich es mal nennen.«

Maro schien das Thema nicht zu behagen. Er streckte seinen kleinen, drahtigen Körper durch, atmete tief ein und sagte, dass die Ausfahrt aus einem großen Hafen immer etwas Besonderes sei. Gleich sei es soweit, er freue sich sehr darauf. »Sind Sie etwa nervös?« fragte ich. – »Jedes Mal«, antwortete er.

Wieder gab es eine kurze Pause, dann fragte er: »Wollen wir uns duzen?« Ich war sehr überrascht und antwortete: »Gern. Ich heiße Johannes.« – »Und ich heiße Maro, Punkt, aus.« – »Ist das Dein Vorname?« – »An Bord ist es mein Vor- und Nachname. Mein eigentlicher Nachname tut nichts zur Sache.« – »In Ordnung.« – »Ich wusste übrigens schon, dass Du Johannes heißt. Und ich weiß auch, dass Du ein Homerexperte sein sollst.« – »Hat Ingenieur Segemann das gesagt?« – »Genau der.« – »Ich bin alles andere als ein Homerexperte. Man zieht mich nur damit auf, weil ich auf ein humanistisches Gymnasium gehe.« – »Das habe ich mir schon gedacht.«

Ich bemerkte, dass nun auch Papa an Deck kam. Er ging auf uns zu, und ich nutzte den kurzen Augenblick, um Maro noch etwas unter vier Augen zu fragen: »Darf ich mal dabei sein, wenn Du Nachrichten aussuchst? Ich würde gern mal sehen, wie Du das machst. Das interessiert mich.« – »Na klar, aber ich werde vorher den Kapitän fragen. Sicher ist sicher.« – »Du hältst mich auf dem Laufenden?« – »Mache ich.« – »Und wo ist Dein Arbeitsplatz?« – »Ich werde ihn Dir zeigen.« – »Was glaubst Du: Wird der Kapitän einverstanden sein, wenn ich Dir über die Schulter schaue?« – »Na, ich hoffe schon.«

Die Aussicht, die zentrale Nachrichtenbörse des Schiffes kennen zu lernen, hatte etwas Beflügelndes. Zusammen mit Maro interessante Meldungen zu lesen, zu sortieren und auszuwählen – das würde mir bestimmt gefallen und Spaß machen. So gäbe es an Bord auch für mich eine richtige Aufgabe. Das war auf jeden Fall besser, als nur pausenlos Bücher zu lesen und Beobachtungen zu notieren.

Papa stellte sich Maro vor, und Maro nannte seinen Vornamen und gab Papa die Hand. »Maro ist der Funker an Bord«, sagte ich (leicht beschwingt), »er übermittelt uns die wichtigsten Nachrichten des Tages.« – »Da bin ich aber gespannt«, antwortete Papa, »obwohl ich selbst nicht jeden Tag neue Nachrichten brauche. Auch ohne Nachrichten lässt sich gut leben. Vielleicht lässt sich sogar ohne Nachrichten besser leben als mit Nachrichten, ich vermute das beinahe.«

Ich sah, dass Maro erstaunt war. So etwas hatte er anscheinend noch nie von einem Passagier gehört. »Bisher haben sich alle Passagiere über die neuen Nachrichten gefreut«, sagte er, »ich kann Ihnen den Nachrichtendienst aber auch ersparen.« – »Moment mal«, antwortete Papa, »ich selbst bräuchte nicht jeden Tag neue Nachrichten, höchstens ab und zu. Damit ich weiß, dass die Welt sich um keinen Deut verändert hat. Mein Sohn wird sich aber bestimmt darüber freuen. Er liest alles, was nicht niet- und nagelfest ist, stimmt’s, Johannes?« – »Übertreib nicht«, antwortete ich.

Wir lachten alle Drei, als es plötzlich begann. Es begann unerwartet, auf einen Schlag, und es machte mir solche Angst, dass ich mich fast an die nächstbeste Reling geklammert hätte. Es war ein rotierendes Kratzgeräusch, erst verhalten, dann sich steigernd und immer stärker werdend. Die Motoren waren angesprungen, und das mächtige Schiff schien sich vorsichtig zu schütteln. Es schwankte keinen Zentimeter, nein, das nicht, eher machte es den Eindruck, als ob alle Energien nacheinander einzeln aufgerufen, kurz begutachtet, zusammengeführt und konzentriert wurden.

An der fernen Horizontlinie ging die Sonne gerade pathetisch unter, die blutrote Scheibe zitterte noch im Dunkel und versank allmählich. Die anderen Frachter in unserer Nähe strahlten im Glanz kleiner Lichterketten, als hätten sie diesen Schmuck eigens für unsere Ausfahrt angelegt. Alles wirkte grandios und wie in einem Film mit tausend Komparsen, als verließe ein wirklich großer und bedeutender Herrscher den Kreis der Trabantenherrscher, die sich ein letztes Mal vor ihm vorbeugten.

Kein Witz, so kam es mir nämlich wahrhaftig vor: Als wären die anderen, kaum weniger großen, an den Kais zurückbleibenden Frachtschiffe kleine Ableger, die unserer Albireo Reverenz erwiesen. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn jedes von ihnen einen eigenen Abschiedstanz aufgeführt und sich mehrmals um die eigene Achse gedreht hätte. Auf diesen erleuchteten Schiffen standen viele Matrosen an Deck und beobachteten unsere Ausfahrt, während auf dem Hauptdeck unseres Schiffes kein Mensch zu sehen war.

Das Kratzen, Scharren und Röhren der Motoren ging in ein angenehmeres Vibrieren über. Anscheinend waren die Energien jetzt glücklich gebündelt. Oben, auf der Kommandobrücke, standen der Kapitän und der Erste Offizier, auch Maro, der Funker, war gut zu erkennen. Sie schauten alle hinab zum Kai, und ich sah, wie ein Mann mit einer typischen Lotsenmütze rasch die Gangway hinaufkam. An Deck gekommen, zögerte er keine Sekunde, er kannte sich perfekt überall aus, das sah ich sofort. In dem Moment, als er die Kommandobrücke erreicht und die Männer dort oben nacheinander begrüßt hatte, legte die Albireo vom Kai ab.

Es war ein unheimlicher Moment, feierlich, aber auch Angst einflößend. Als bewegte man sich jetzt unweigerlich in unbekannte, gefährliche Gefilde, in denen man ganz auf andere Menschen und Kräfte angewiesen war, ohne etwas tun zu können. Auf den Kapitän, der mit diesem Schiff hoffentlich umzugehen wusste, auf die Mannschaft, die seine Motoren im Notfall reparieren und wieder seetüchtig machen würde.

Die Albireo vollzog eine unglaublich langsame halbe Drehung, und ich erkannte erst jetzt, dass sie von einem kleinen Schlepper im Dunkel aus dem Hafengelände gezogen wurde. Auf der Brücke war niemand mehr zu sehen, nur der Kapitän tauchte ab und zu im Freien auf, beide Hände in die Hüften gestemmt, mit einem strahlend weißen Hemd, das im spürbaren Abendwind flatterte.

Ich stand eine Zeitlang reglos neben Papa, wir sprachen nicht miteinander. »So eine Hafenausfahrt ist das Schönste, was man sich denken kann«, sagte Papa schließlich, »dagegen wirken Zug- oder Autofahrten nur wie lächerliche Modellbauspiele.« – »Das Schiff ist fast zu groß für diesen Hafen«, sagte ich, »ein Wunder, dass man es noch so präzise herausmanövrieren kann.« – »Kapitän Reckling sagte eben, eine solche Ausfahrt stelle auch den erfahrensten Kapitän noch vor Herausforderungen. Man müsse höllisch aufpassen. Ohne Lotsen gehe es gar nicht.«

Langsam befreite die Albireo sich von den Hafenanlagen. Mir kam es so vor, als verkleinerten sich die Ladekräne an den Kais mit jeder Minute. Als räumte sie jemand beiseite und klappte sie zusammen. Wir ließen die anderen Frachter hinter uns, sie versanken mit ihren Lichtern wieder im Dunkeln. Unser Schiff schien wie an einer Leine gezogen durch die Hafengewässer zu gleiten, verhalten und angespannt, als verabschiedete es sich höflich und aufmerksam von jedem einzelnen Frachter an Land. Das Vibrieren hatte nachgelassen und war in ein kaum hörbares, gleichmäßiges Brummen übergegangen. Konnten Stürme einem solchen Herrscher über Winde und Gewässer wirklich etwas anhaben? Und hatten wir auf unserer Fahrt (zunächst an den Küsten Westeuropas entlang) überhaupt mit starken Stürmen zu rechnen?

Ich nahm mir vor, den Kapitän bald danach zu fragen. Dann eilte ich in unsere Kabine, holte den Fotoapparat und machte ein paar Aufnahmen. Ich wusste, dass es schlechte Dias werden würden, man würde kaum etwas erkennen, höchstens die verblassenden Lichter der anderen Frachter in der Ferne. Fotos würden angesichts dieser Ausfahrt wahrscheinlich hilflos wirken.

Ich hatte Papas alten Belichtungsmesser umgehängt und schaute kurz auf die Daten. Es war hoffnungslos, hier an Deck half in diesem Moment auch kein Belichtungsmesser. Also dachte ich nicht weiter daran, Dias für die Ewigkeit zu machen, besser wäre es, einen guten Text zu schreiben.

»Du machst ja gar keine Fotos mehr«, sagte Papa. – »Nein, sie werden eh nichts«, antwortete ich, »ich will später versuchen, die Ausfahrt zu beschreiben, so gut es eben geht.« – »Schade, dass wir das hier nicht filmen können«, sagte Papa, »so eine Ausfahrt ist doch etwas für eine Filmkamera. Oder noch besser: für mehrere Kameras. Und natürlich für einen großen Regisseur!« – »An wen denkst Du?« fragte ich. – »Ich kenne die großen Regisseure nicht gut genug.« – »Warum eigentlich nicht?« fragte ich, »warum gehst Du so selten ins Kino?« – »Als junger Mann bin ich alle paar Tage ins Kino gegangen. Ich hatte großes Vergnügen an Stummfilmen. Als der Tonfilm in die Kinos kam, verdarb mir das ewige Reden das ganze Vergnügen.« – »Im Ernst? Der Ton hat Dich gestört?« – »Und wie! Bilder und Musik – das hätte mir völlig gereicht. Ich mochte die alten Stummfilme sehr, sie waren auch fast immer zum Lachen. Mit den Tonfilmen begannen der triefende Ernst und der ganze Kitsch. Komplizierte Geschichten, Knutschereien.« – »Du hast etwas gegen Knutschereien?« – »In Filmen schon, da ertrage ich es nicht. Ich schaue immer weg, wenn ein Paar sich ans Knutschen macht.« – »Oder ans Küssen!« – »Richtig, oder ans Küssen. In Tonfilmen dauern Küsse viel zu lang, hast Du schon mal minutenlang geküsst?« – »Wie bitte?!«

Ich war erstaunt, dass Papa mich so etwas fragte. Und das mitten im Hafen von Antwerpen, den wir gerade mit Hilfe eines schwierigen Manövers verließen. »Wenn uns langweilig wird, können wir uns über solche Themen unterhalten«, sagte ich, »jetzt lieber nicht.« – »Du drückst Dich!« sagte Papa, »Du gehst nicht souverän mit dem Thema um!« – »Ich knutsche und küsse nicht gerade jeden Tag«, antwortete ich, »hast Du in meinem Alter etwa laufend geknutscht und geküsst?« – »Während der langen Fahrt können wir souverän darüber sprechen«, sagte Papa, »dann wird uns nie langweilig.«

Am Ende der Hafenausfahrt erreichten wir eine große Schleuse. Drei andere, etwas kleinere Frachtschiffe, warteten anscheinend auf uns. Die Schleusentore schlossen sich sehr langsam, es war ein seltsamer Moment. Wie eine allerletzte Chance zum Verweilen und Luftholen, beinahe bedrohlich. Nach etwas über einer halben Stunde öffnete sich die Schleuse, und unser Schiff nahm Kurs auf die offene See.

Reisetagebuch (11. Juli 1967 , 23.20 Uhr)

Nein, ich bin nicht entspannt. Obwohl die Ausfahrt aus dem Hafen mich doch hätte beruhigen können. Jetzt treiben wir in einem stillen Nirgendwo dahin – und ich halte fest, dass es keinen Grund gibt, sich zu sorgen oder zu ängstigen. Ich misstraue aber der Ruhe, ich misstraue ihr, seit ich an Deck bin. Dabei erschien alles doch kinderleicht: das Ablegen, das Manövrieren, das Eintauchen ins dichte Dunkel. Ich stand mit Papa noch lange an Deck, wir haben aber kaum noch ein Wort miteinander geredet. Nur zugeschaut, wie die Signale und Lichter an Land sich entfernten und schließlich ein paar Bojen mit kleinen Lämpchen obenauf übrig blieben. Dann wurden auch die weniger – und es war, als hätte jemand die Verbindung zum Land endgültig gekappt. Dabei bestehen diese Verbindungen hier an Bord natürlich (in anderer Form) weiter. Wie aber war das zum Beispiel in der Antike? Als so eine Hafenausfahrt ja wirklich eine endgültig wirkende Trennung vom Festland bedeutete. Musste die Seefahrer da nicht ein Gruseln überkommen? Ich habe genau dieses Gruseln gerade eben gespürt.

Reisetagebuch (12. Juli 1967, 0.17 Uhr)

Papa schläft tief, als ob nichts wäre. Ich aber kann nicht schlafen, es geht nicht. Ich bin aufgestanden und hinüber in den Salon gehuscht, wo ich Licht zum Schreiben habe. Das Schreiben beruhigt (wie fast immer). Wenn ich das Schreiben nicht hätte, was wäre dann? (Reden hilft nicht, nur das Schreiben hilft.) Auch die vielen Bücher hier an den Wänden beruhigen etwas – sie schauen einen an wie alte Matrosen, die einem ihre Geschichten erzählen wollen. Hör mal zu, Junge, so war das in der Antike! Ist in Ordnung, Leute, ich werde jedes Buch zumindest in die Hand nehmen und darin blättern. Ihr seid meine Medizin.

Reisetagebuch (12. Juli 1967 , 0.53 Uhr)

Ich habe ein paar Seiten in Henry Millers Koloss von Maroussi gelesen – und zwar die, auf denen er von der Schifffahrt von Frankreich nach Griechenland erzählt. Kein Wort über das Schiff und die Fahrt! Keinerlei Eindrücke von Wetter oder Wind oder Wasweißich! Henry hat eine ganz einfache Methode, sich die Unruhe vom Leib zu halten: Er unterhält sich! Ja, wirklich, er durchforstet das Schiff nach möglichst interessanten Gesprächspartnern und redet stundenlang mit ihnen! Wer hier an Bord wäre für mich interessant? Auf jeden Fall Maro, der Funker! Und auf jeden Fall Kapitän Reckling! Denis?! Eher nicht. Ingenieur Segemann – nein, ich verstehe nichts von den Themen, von denen er sehr viel versteht (Nautik, Geschichte der Seefahrt usw.). Bleibt noch der Erste Offizier, wie heißt er doch gleich?, richtig: Mühlenthal. Über ihn weiß ich nur wenig, er ist undurchschaubar. Also: Maro, der Funker, der könnte als erster drankommen, wenn ich die Henry-Miller-Methode anwenden würde. Stundenlang kann ich mich aber nicht mit ihm unterhalten, das schaffe ich nicht. (Ich kann mich mit kaum einem Menschen stundenlang unterhalten, irgendwann schalte ich ab. Mein blöder Kopf macht dann nicht mehr mit, er will Musik und nur noch Musik!)

Reisetagebuch (12. Juli 1967, 1.20 Uhr)

Erinnerte mich gerade daran, dass ich auf den früheren Reisen mit Papa Postkarten an Mama geschrieben habe. Wie sie sich immer über diese Karten gefreut hat! Ich würde auch gern auf dieser Reise Karten schreiben (nur an sie, niemand anderes dürfte sie lesen). Wie aber soll ich das machen, wo es doch keine Briefkästen gibt? Soll ich auf Vorrat schreiben? Alle paar Tage eine Karte, bis wir in Patras anlegen? Um in Patras auf einmal zwanzig Karten abzuschicken? Ich könnte mal mit einer anfangen, zur Probe.

Postbriefkarte an die Mama (12. Juli 1967 , 1.54 Uhr)

Liebe Mama, wir sind auf weiter Fahrt! An Bord ist es herrlich. Und so viele Menschen kümmern sich um uns: Der Kapitän, der Funker, der Steward – ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Mit jedem von ihnen unterhalte ich mich lange und lerne enorm viel dazu: über Nautik, die Geschichte der Seefahrt, das Manövrieren in Häfen, das Funken und Unken (entschuldige). Die Mahlzeiten sind reichlich (und liegen schwer im Magen). Ich überlege, wie ich so tun könnte, als äße ich ordentlich (heißt es so: äße?), während ich in Wahrheit das halbe Essen verschwinden ließe. Aber wo? Unter dem Tisch? Du siehst, es gibt doch noch Probleme, aber nur kleine. Von Ichweißnichtwo grüßt Dich Dein Sohn

Reisetagebuch (12. Juli 1967 , 2.12 Uhr)

Wieso hat Papa plötzlich vom Knutschen und Küssen gesprochen? Was war da in ihn gefahren? Mit solchen Themen haben wir uns noch nie beschäftigt. Eben gerade (mitten in der Nacht, elend allein in diesem Schiffsberuhigungssalon) überlegte ich, ob diese Reise uns mit einigen Themen nerven könnte, über die wir noch nie miteinander gesprochen haben. Dabei sprechen wir doch jeden Tag viel miteinander. So haben wir es jedenfalls bisher immer auf Reisen (und auch sonst) gemacht. Bestimmte Themen haben wir jedoch ausgelassen, natürlich. Zum Beispiel das Knutschen und Küssen. Hat Papa wirklich vor, sich mit mir darüber zu unterhalten? Es könnte sein, dass unser gigantisches Frachtschiff auch die seelische Frachten (und die Rumpftiefenfrachten) in Bewegung versetzt und auf Reisen schickt. Wenn wir uns langweilen, könnten sie aus den Tiefen nach oben steigen und an Deck erscheinen! Mann, bin ich auf Abwegen!