Vor Volos

Ich war kein bisschen müde, und so setzte ich mich in den Salon und las weiter den Fänger im Roggen. Der Roman gefiel mir mit jeder Seite besser, und ich hatte das Gefühl, als würde ich ihn zum ersten Mal richtig lesen (vor einiger Zeit hatte ich ihn schon einmal gelesen, anscheinend aber flüchtig und vor allem unbeteiligt). Holden Caulfield ist in der Tat genau so alt wie ich bald (also sechzehn), und er hat manchmal ähnliche Probleme mit den anderen wie ich auch. (Oder kam das mir nur so vor?) Ich machte mir jedenfalls einige Notizen und nahm mir vor, mit Papa und Denis (wenn er wieder zurechnungsfähig war) darüber zu sprechen.

Noch vor Mitternacht erreichten wir die Stadt Volos und ankerten wieder draußen, vor dem Hafen. (Ich mag das sehr: wenn die Albireo nicht bei Tage in einen Hafen einläuft, sondern ihn während der Nacht ansteuert und sich bis zum Morgengrauen gedulden muss. Sie bleibt auf Distanz, schaukelt hin und her und nimmt sich eine Auszeit: Und das Ausladen und Verladen beginnt erst etwas verspätet, wenn sie den Hafen erreicht hat …)

Da an Bord nichts mehr zu tun war, kam von der Besatzung einer nach dem andern in den Salon, um sich etwas zu trinken zu holen. Zunächst kreuzte Mühlenthal auf und holte Wasser für seine Virtuosin und für sich selbst.

»Ich habe Sara davon erzählt, dass Du Pianist werden willst. Und dass ich Dich in Patras spielen gehört habe«, sagte Mühlenthal. – »Aha!« antwortete ich (und blickte weiter auf mein Buch). – »Sara hat auch eine Ausbildung in klassischer Musik, ist aber mit Zwanzig zum Jazz umgeschwenkt.« – »Gute Idee!« – »Sie konzertiert jetzt seit etwas mehr als drei Jahren. Das macht unsere Treffen kompliziert.« – »Kann ich mir vorstellen.« – »Wir haben aber jetzt eine gemeinsame Wohnung in Buenos Aires.« – »Toll!« – »Sag mal, was ist los? Soll ich aufhören zu reden? Störe ich Dich bei Deiner Lektüre?«

Ich klappte das Buch zu und schaute ihn an. »Ich verstehe nicht, warum Du mir nicht früher von Sara erzählt hast. Warum diese Geheimniskrämerei?!« – »Ach, deshalb bist Du so wortkarg!« – »Ja, deshalb.« – »Nun gut. Das kann ich Dir rasch erklären. Erstens war ich nicht sicher, ob Sara wirklich in Chalkis an Bord kommen würde. Es war zwar ihr Wunsch, weil sie sich an Bord vor dem wichtigen Konzert in Saloniki perfekt entspannen kann. Aber wir wussten bis zuletzt nicht, ob es klappt. Sie geht nicht an Land, sie bleibt an Deck und kommt etwas zur Ruhe. Verstehst Du?« – »Ja, verstehe ich.« – »Zweitens wollte ich Dich überraschen. ›Was wird Johannes sagen, wenn er erfährt, dass Sara eine Pianistin ist?‹ habe ich mich gefragt. Auf den Moment, in dem Du es erfahren würdest, war ich richtig gespannt.« – »Und?! Habe ich Deine Erwartungen erfüllt?« – »Nein, hast Du nicht! Du bist über die Mitteilung hinweg gegangen, ich war enttäuscht.« – »Tut mir leid.« – »Hat es Dich denn wirklich nicht interessiert?« – »Und wie! Ich habe mir zunächst mal nichts anmerken lassen. Und ich war verlegen, weil ich vom Jazz nichts verstehe. Umso schöner ist es, dass ich Sara bald zu hören bekomme.« – »Gott sei Dank! Das freut mich. Und damit Du sie ganz aus der Nähe hören kannst, habe ich für Deinen Vater und Dich beste Karten. Reihe Eins!« – »Im Ernst?!« – »Reihe Eins!«

Die Stille des Schiffes, der zufriedene Eindruck, den Mühlenthal machte – das alles löste in mir plötzlich auch so etwas wie ein Glücksgefühl aus. Die Freunde um mich herum (und natürlich Papa) arbeiteten (ohne es zu wissen) gegen meinen blöden Kummer an. Mühlenthal zauberte eine Pianistin aus dem Hut, mitsamt Karten für ein Konzert, Reckling hatte die Albireo ankern lassen (anstatt es mit dem Reisetempo zu übertreiben), die Pianistin war interessant und an Tisch eine perfekte Unterhalterin, und Papa zeichnete den Panathenäenfries, damit die Zeichnungen später die Wände unseres Westerwaldhauses schmückten. (Nur mit Denis haperte es noch ein wenig, aber das würde sich legen …)

Mühlenthal wollte mit seinen Wässerchen verschwinden, als ich ihn noch einmal zurückhielt. »Erwin?!« – »Was gibt es denn noch?!« – »Du weißt, dass Saras Ankunft nicht allen an Bord Freude bereitet?« – »Ja, ist mir klar. Du sprichst von Denis. Er benimmt sich unmöglich. Aber das überstehen wir schon.« – »Und wie?!« – »Denis hat Freunde in Volos, oder besser gesagt: In den Bergen hoch über Volos. Nach dem Frühstück wird er verschwinden, und erst in Saloniki wieder an Bord kommen. Er verbringt eine Nacht an Land, auf seinen ausdrücklichen Wunsch!« – »Und Kapitän Reckling ist einverstanden?« – »Um des lieben Friedens willen.« – »Und wer sorgt dann für unser leibliches Wohl?« – »Wir alle zusammen. Du, Sara, ich – wir teilen uns die Arbeit. Es ist ja nur für kurze Zeit.« – »Klingsor wird auch mitmachen, er hat in seiner Jugend in der Gastwirtschaft auf dem Hof seines Vaters bedient.« – »Im Westerwald?« – »Ja, genau dort.« – »Aber nur wenn er wirklich will …« – »Natürlich wird er wollen, das macht ihm sogar Spaß. Während der Fahrt hat er mindestens schon zehnmal gesagt ›Sich immer nur bedienen zu lassen, ist gar nicht in Ordnung!‹« – »Sehr schön. Na, ich brauche Dir ja nicht mehr zu sagen, was ich von Deinem Vater halte, oder?« – »Doch, sag ruhig …« – »Wir haben noch nie so einen Passagier wie ihn an Bord gehabt. Er ist …« – »Okay, das reicht.« – »Darf ich jetzt gehen, mein Lieber?« – »Na klar – und grüße Sara von mir.« – »Tue ich. Und hab bitte etwas Verständnis dafür, dass sie sich jetzt nicht lange mit Dir unterhält. Ich weiß, ihr hättet viel Stoff für eine Unterhaltung. Sie ist aber sehr konzentriert und spricht momentan außerhalb der Mahlzeiten vor allem mit mir. Das ändert sich schlagartig nach dem Konzert, Du wirst sehen.« – »Aber ich denke, sie geht in Saloniki schon wieder von Bord?« – »Hat Denis das behauptet?! Nein, das ist Unsinn. Denis will, dass sie von Bord geht. In Wahrheit fährt sie mit uns bis Istanbul. Dort verlassen wir beide die Albireo und fliegen nach Argentinien. Die neue Wohnung wartet auf uns … – und einige Wochen Urlaub, um sie einzurichten.«

Ich war weiter hellwach und las den Fänger im Roggen. ›Holden Caulfield‹, dachte ich plötzlich, ›wäre ein idealer Lehrer für Kinder. Ein Volksschullehrer mit ganz eigenen Unterrichtsformen. Einer, der mit den Kindern wandert und sich die seltsamsten Spiele für sie ausdenkt. Warum weiß er das nicht und warum quält er sich so lange mit den Erwachsenen ab?‹

Als nächster kam Maro vorbei. »Ah, hier bist Du! Man bekommt Dich ja gar nicht mehr zu sehen«, sagte er. – »Während der Landaufenthalte sicher nicht. Ich nutze jede Minute, um mir etwas anzuschauen!« – »Na klar, aber das legt sich. Ich bin schon eine Weile mit Schiffen auf der ganzen Welt unterwegs. Irgendwann wirst Du wählerisch und suchst Dir nur noch die Rosinen an Land aus.« – »Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich finde alles an Land interessant. Selbst Chalkis hat mir gefallen.« – »Chalkis?! Niemand von uns ist dort an Land gegangen.« – »Weil Ihr hochmütig seid! Und weil Euch nichts auffällt! Ihr schaut nicht genau hin!« – »Du meinst, ich soll ein Nest wie Chalkis fotografieren?« – »Nein, Du sollst genau hinschauen. Auf dem Bauernmarkt, in die Tavernen, während der Fahrt mit einer Pferdekutsche.« – »Bist Du etwa damit gefahren?« – »Ja, bin ich. Durch die Stadt und aus ihr heraus, über Land, und es hat mir gefallen.« – »Deine Sache, nicht meine! Aber wie steht es mit Deinen Geschichten? Soll ich Dir wieder mal ein Bündel Nachrichten auf den Tisch zaubern?« – »Gern, mach nur, hast Du was Frisches?« – »Natürlich. Ich bringe es Dir gleich.«

Maro holte sich eine Cola und verschwand wieder. Mitternacht war schon lange vorüber, als Denis in den Salon kam. Er sagte kein Wort, sondern holte sich ein Glas und schenkte sich ein Bier ein. Er blieb stehen und tat so, als wäre ich nicht im Raum.

»Na«, sagte ich, »hat Dein Zorn sich etwas gelegt?« – »Nein, im Gegenteil. Ich kann diese Tante nicht ausstehen, ich halte es in ihrer Nähe nicht länger aus.« – »Und was willst Du dagegen tun?« – »Ich habe mit Reckling gesprochen. Wenigstens einer, der mich versteht. Ich habe Urlaub genommen und verlasse Euch heute nach dem Frühstück, und zwar bis morgen Abend. Dann gibt sie ihr Konzert in Saloniki und verschwindet im Anschluss.« – »Sie bleibt nicht bis Istanbul an Bord?« – »Das will ich nicht hoffen. Wie auch immer – vorerst habe ich sie aus den Augen.« – »Und was machst Du an Land?« – »Ich besuche alte Freunde in den Bergen von Volos.« – »Alte Freunde?« – »Ja, oberhalb von Volos liegt das Pilion-Gebirge. In den Bergdörfern habe ich Freunde. Aussteiger sind das, verstehst Du? Leute, die seit langem dort leben. Einfach. Genügsam. Von dem, was sie erwirtschaften.« – »Und woher kommen sie ursprünglich?« – »Aus Deutschland, Italien, England, es ist eine bunt gemischte Truppe, auf viele Dörfer verteilt. Nicht, was Du vielleicht denkst. Kein Club und kein Verein, vielleicht nicht mal eine Gemeinschaft. Jeder lebt für sich, ab und zu sehen sich einige, aber eher durch Zufall.« – »Und wie hast Du sie kennengelernt?« – »Ich hatte von einem von ihnen gehört, einem Österreicher, der vorher die halbe Welt bereist hat, ein Abenteurer wie aus dem Bilderbuch. Während einer unserer letzten Fahrten habe ich mir in Volos ein Motorrad beschafft und bin hinauf zu ihm in sein Bergdorf gefahren. Der Mann war eine Wucht, sage ich Dir. Ich bin nie wieder einem solchen Menschen begegnet. Schon mit vierzehn oder fünfzehn ist er von zu Hause abgehauen und hat sich später allein durch die verschiedensten Länder geschlagen.« – »Ist er so etwas wie ein Vorbild für Dich?« – »Vor-bild! Wer braucht schon ein Vorbild?! Vorbilder sind etwas für Streber, die hoch hinaus wollen, am besten noch höher als ihre Vorbilder!« – »Du verstehst mich schon, Du bist auch früh von zu Hause weg!« – »Das hast Du behalten?! Sagen wir mal so: Ich bin auf Seiten der Leute, die ihre ganz eigenen Wege gehen! Weg von Mama und Papa, weg von Klavierlehrern und Gitarrengurus, weg von Schulen und Universitäten. Ich bin für ›das Leben‹, verstehst Du? Für das nackte, ehrliche, abseits von allem Unterricht und allem Getue.« – »Und worauf soll das nackte, ehrliche Leben hinauslaufen?« – »Worauf?! Pah, ich will ›nichts werden‹, wenn Du das meinst. Vielleicht bleibe ich einige Zeit oben im Pilion, nicht diesmal, aber schon bald. Ich werde versuchen, den Österreicher wieder zu finden. Vielleicht hat er Arbeit für mich, vielleicht ist er längst weiter gezogen. Mit den Schiffsreisen mache ich auf jeden Fall möglichst bald Schluss. Es reicht. Ich bediene auch längst nicht mehr gern. Die argentinische Tante hat mir den Rest gegeben. Für solche Leute mache ich den Rücken nicht krumm, das sage ich Dir. Und wenn sie hundert Konzerte rund um den Globus gibt.« – »Du solltest Dir ihr Konzert trotzdem anhören.« – »Bist Du verrückt? Ich kenne in Saloniki Clubs, da würde ein Früchtchen wie Du durchdrehen, so heiß geht es da zu. Da werde ich doch Deiner Tante nicht lauschen, wie sie ihre gepflegten Fingerchen über blank polierte Schwarz-Weiß-Tasten gleiten lässt.« – »Mann! Du bist wirklich schlimm drauf! Es ist nicht zum Anhören …«

Ich schlug meinen Roman wieder auf und dachte weiter an Holden Caulfield. War er ein Aussteiger oder ein Abenteurer? Nein, war er nicht. Warum hielt Denis dann aber so viel von ihm? Ich hätte ihn das sofort fragen können, aber ich hatte dazu einfach keine Lust. Sollte er sich doch in sein Pilion-Gebirge verziehen, um dort Tabak oder was weiß ich für bizarre Drogen anzubauen.

»Liest Du etwa den Fänger im Roggen?« fragte er da. – »Ja, tue ich. Aber ich verstehe das Buch sicher nicht so gut wie einer, der es auf jeder Seereise mindestens zweimal liest.« – »Ich habe es ja schon einmal gesagt: Der Fänger im Roggen ist nichts für Dich! Der hat mit allem gebrochen, der kriecht in kein Nest der Welt mehr zurück.« – »Stimmt nicht. Er hat keineswegs mit allem und allen gebrochen. Vor allem nicht mit seiner Schwester – und mit seinem Bruder wohl auch nicht.« – »Phoebe, die kleine Schwester, das musste ja kommen! Das geht Dir nahe, stimmt’s? Dass Holden Caulfield am Ende wegen seiner Schwester aufs endgültige Abhauen verzichtet!« – »Ja, er hat vor abzuhauen. Aber dann ist er noch eine Weile mit ihr zusammen. Sie fährt Karussell, erinnerst Du Dich? Und er sitzt im Regen und schaut dabei zu. Erinnerst Du Dich auch daran? Und als er so sitzt und ihr zuschaut, entwickelt er ein starkes Mitgefühl und beschließt, sie nicht im Stich zu lassen, sondern in ihrer Nähe zu bleiben. So ist das, Du Idiot!« – »Mitgefühl, ja? Holden Caulfield entwickelt ein starkes Mitgefühl! Am Ende geht er vielleicht noch zur Beichte. Richtig? Und ein Priester spendet den Segen, und Johannes spielt auf der Orgel eine friedliche Weise von Johann Sebastian Bach.« – »Na klar, würde ich tun, ohne zu zögern.« – »Ich will Dir mal etwas sagen: Ich habe eine Weile geglaubt, Dir ein paar Anstöße geben und Dich aus Deinem Pianistenschlummer wecken zu können. Ich gebe es auf. Du hast Dich auf die andere Seite geschlagen, weg von den Holden Caulfields, hin zu den Duschköniginnen, die Folklorejazz spielen! Wohl bekomm’s!«

Er spülte sein Glas unnötig laut aus und ließ mich allein. Ich schaute auf die Uhr, es war zwei Uhr in der Nacht, und ich hatte noch immer keine Lust, ins Bett zu gehen. Maro kam noch einmal kurz mit einem Stapel Nachrichten vorbei. »Die rot angestrichenen werde ich in der Zeitung bringen«, sagte er, »aber das braucht Dich ja nicht zu interessieren. Du schreibst weiter Deine Geschichten, und ich bringe den Kraut&Rüben-Salat! Stimmt’s?« – »Wenn Du es so siehst, wird es stimmen!« antwortete ich.

Reisetagebuch (27. Juli 1967, 2.14 Uhr)

Ich kann nicht schlafen, es geht mir zuviel durch den Kopf. Was ist an Aussteigern, die im Pilion-Gebirge wohnen, so interessant? Wäre das etwas für mich? Nein, solche Leute beherrschen Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Handwerkliches, Technisches. Wie man ein Motorrad repariert. Wie man Tomaten anbaut. Wie man Bäume fällt oder Äste kürzt. Außerdem habe ich keine Aussteiger-Mentalität. Oder doch? Eine kleine Spur?! Manchmal träume ich davon, allein durchs Land zu ziehen (ich meine durch Deutschland, nicht weiter, also nicht durchs Ausland, denn ich hätte Angst, die Menschen nicht zu verstehen – und ich mag nie mehr auf Menschen treffen, die nicht mit mir reden, aus welchen Gründen auch immer). Mit Papa zu reisen, war bisher immer am besten. Papa ist ein wunderbarer Freund, und er bleibt unsichtbar, wenn er spürt, dass ich allein sein möchte. Mit anderen Freunden (etwa solchen in meinem Alter) möchte ich dagegen nicht gerne reisen, die würden nie unsichtbar bleiben. Also müsste ich es wohl oder übel allein versuchen  Und wie wäre es, mit einer Freundin zu reisen? Ein Nachdenken über dieses Thema habe ich mir aus guten Gründen verboten.

Ich holte mir noch eine kleine Flasche Wasser und blätterte die Nachrichten durch, die Maro gebracht hatte. Mein Gott, wie weit war das alles von mir entfernt! Die Zuckerpreise in Mittelamerika! Der Drogenanbau in Südamerika! Die Große Koalition! Kiesinger! Franz Josef Strauß! Unvorstellbar, was all diese Menschen eigentlich umtrieb! In zwanzig, dreißig Jahren würde sich kaum jemand noch an sie erinnern – und jetzt machten sie so einen Lärm und drängelten sich jeden Tag in die Nachrichtenbörsen.

Als ich hörte, dass die Tür des Salons geöffnet wurde, schaute ich mich nicht um. ›Denis kommt noch einmal vorbei, um sich zu entschuldigen‹, dachte ich. Es war aber nicht Denis, sondern Klingsor. Mit nacktem Oberkörper und in kurzer Hose tauchte er neben mir auf und setzte sich.

»Bekomme ich auch ein Glas Wasser?« sagte er. Ich stand auf und holte eine große Flasche mit zwei Gläsern.

»Kannst Du nicht schlafen?« fragte Papa. – »Nein, ich bin hellwach.« – »Bist Du am Grübeln?« – »Ja, ich grüble mir das zukünftige Leben zusammen.« – »Und worüber grübelst Du da genau?« – »Über Dich zum Beispiel! Eben habe ich Mühlenthal erzählt, dass Du als junger Mann auf dem Hof Deiner Eltern in der Wirtschaft bedient hast. Das stimmt doch?« – »Ja, an jedem Wochenende während des Studiums. Ich kam freitags aus Bonn auf den Hof und bediente bis Sonntagnacht, Montagfrüh fuhr ich wieder nach Bonn.« – »Hat Mama auch auf dem Hof bedient?« – »Nein, aber sie hat manchmal in der Küche ausgeholfen.« – »Hast Du lange um sie geworben?« – »Was?!« – »Na, ich meine, Du hast sie über einen längeren Zeitraum kennen gelernt, Dich dann mit ihr verlobt und sie schließlich geheiratet?« – »Ja, habe ich. Aber wenn Du es so sagst, hört es sich an wie ein Programm. Das war es natürlich nicht. Das eine hat sich aus dem anderen ergeben, ganz organisch.« – »Organisch! Ich würde mir wünschen, dass es in meinem Leben auch mehr von diesem Organischen gäbe. Ich habe einfach zuviel Anorganisches um die Ohren!« – »Du übertreibst! Du machst doch das alles sehr gut. Es gibt ein klares Ziel, und die nächsten Schritte dorthin hast Du genau vor Augen.« – »Na toll! Und wenn ich mit dem Klavierspiel scheitere und keine Musikhochschule mich aufnimmt?! Was ist dann? Ich habe keine Ahnung, oder doch: Ich werde einfach aussteigen! Raus aus dem Lebenstheater! Und zwar für lange Zeit! Ich werde auf Wanderschaft gehen, durch ganz Deutschland!« –»Aha!« – »Nichts aha! Was würdest Du als mein Vater denn tun, wenn ich Dir abhanden käme und durch Deutschland ziehen würde?« – »Das ist ganz einfach. Ich würde mitgehen. Ich wollte schon immer mal monatelang unterwegs sein.« – »Aber Papa! So geht das nicht! Das ist für mich keine Lösung! Wir können nicht ein Leben lang miteinander durch die Welt reisen, Vater und Sohn, das muss irgendwann mal vorbei sein.« – »Von mir aus nicht! Nur dann, wenn Du es sagst! Ich bin immer an Deiner Seite, wenn Du mich brauchst oder das willst.« – »Das weiß ich ja, aber ich muss irgendwann versuchen, alleine zurecht zu kommen.« – »Was heißt schon alleine? Du wirst nie allein sein – und wenn Du Tausende von Kilometern entfernt bist.«

Als ich das hörte, wusste ich, dass er recht hatte. So war es wirklich, ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Papa würde mich immer begleiten, sein ganzes Leben lang und wahrscheinlich noch darüber hinaus! So gesehen, war das Vorhaben ›Aussteigen‹ lächerlich. Ein Spiel, eine Marotte, etwas für das Theater oder (noch besser) den Film!

»Du hast wieder mal recht«, sagte ich, »es ist schlimm mit Dir.« – »Ist es das?« – »Klingsor, Sie gehören jetzt sofort ins Bett. Und Ihren Sohn sollten sie grübeln lassen, so lange er will.« – »Ist ja gut«, sagte Papa, stand auf und nahm die große Flasche Wasser mit. – »Papa?« sagte ich noch, bevor er den Salon verließ, »weißt Du schon, dass wir beide morgen im Salon bedienen?!« – »Wie bitte?« – »Denis hat Urlaub, deshalb bedienen morgen und übermorgen die Passagiere.« – »Du meinst, wir beide bedienen die anderen? Auch Mühlenthal und die Argentinierin?« – »Selbstverständlich.« – »Na, das muss ich mir noch überlegen. Mich hat jedenfalls bisher noch niemand gefragt.«

Kurz nach Drei ging ich ins Bett. ›Vier bis fünf Stunden Schlaf müssen reichen‹, dachte ich, ›ich sollte mit viel weniger Schlaf als früher auskommen! Lesen und grübeln – das ist etwas für die Nacht. Wenn das Schiff vor Anker gegangen ist und hin und her schaukelt. Wenn kein Mensch mehr auf der Kommandobrücke steht. Sieh das mal so …‹