Athen 4
Ich schlief sehr gut, ohne ein einziges Mal aufzuwachen. Kurz vor dem Frühstück traf ich Denis an Deck, und er drängte mich, etwas über den Verlauf des gestrigen Tags zu erzählen. »Wie war’s?« fragte er aufdringlich und schaute lüstern, als hätte ich Gott weiß was für Geschichten zu bieten.
Ich machte es kurz und berichtete, dass Delia und ich in Vouliagmeni gebadet und anschließend zum Kap Sounion gefahren waren. »Ihr habt Euch den Sonnenuntergang angeschaut?« – »Ja«, sagte ich, »haben wir.« – »Perfekt! Du machst das raffiniert! Und genau richtig! Das hätte ich Dir nie zugetraut!« – »Was ist daran so raffiniert?« fragte ich. – »Na hör mal! Sich mit einer jungen Frau wie Delia, die starke Emotionen für jedes Vorschulkind aufbringt, einen der schönsten Sonnenuntergänge der Welt anzuschauen, ist gekonnt. Sie kann gar nicht mehr anders, als sich in Dich zu verlieben. Bei Männern ist das natürlich anders – obwohl, ich bin mir in Deinem Fall gar nicht so sicher. Für Dich war es ja auch neu, großartig, überwältigend – es könnte sein, dass auch Du umgekippt bist!« – »Umgekippt?!« – »Na klar, vom Alltags- ins Liebeslager! So ein Sonnenuntergang verbindet, sage ich Dir. Der schreibt sich direkt ins Herz und hinterlässt Wunden und Blutergüsse.« – »Mein Gott, wie Du übertreibst! Warst Du wenigstens auch mal in Sounion?!« – »Jeder von uns hier an Bord war einmal da, außer Kapitän Reckling! Mühlenthal hat hinterher über die Wirkungen des spürbar schwächer werdenden Lichts auf die menschlichen Sinne philosophiert, und Segemann hat den Tempel in Miniaturausgabe (samt Sonne) nachgebaut und zwei Segelschiffe ergänzt, die vorbeidriften.« – »Und Du? Wie hast Du darauf reagiert?« – »Glaubst Du etwa, ich klappe wegen eines Sonnenuntergangs zusammen?! Das ist etwas für Paare, die sich danach verloben und auf das erste Kind vorbereiten!« – »Sei nicht so gehässig!« – »Bin ich nicht, ich bin ehrlich! Aber sag, was ist mit Euch passiert? Ich meine hinterher? Im Bus? Und danach? Habt Ihr Händchen gehalten? Hat Delia die Sache in die Hand genommen?« – »Was meinst Du?« – »Meine Herren, tu nicht so unschuldig! Du weißt, was ich meine!« – »Denis, können wir jetzt frühstücken? Klingsor und ich – wir wollen heute Vormittag ins Nationalmuseum, zum Antikenstudium.« – »In Ordnung. Es gibt Rühreier mit Kräutern und Toast, und es gibt griechischen Honig mit Sesam und Weißbrot.«
An diesem Morgen waren Papa und ich richtig gut drauf. In der Vorstadtbahn, die uns von Piräus wieder nach Athen brachte, erzählte er, dass er nach dem gestrigen Museumsbesuch die Herrschaftsgebäude des heutigen Griechenlands angeschaut habe. Eine Wachablösung in der Nähe des Parlaments habe er gesehen, und später sei er lange im Schlossgarten gewesen. »Und wie war Kap Sounion?« fragte er schließlich. – »Fantastisch«, antwortete ich, »so einen Sonnenuntergang habe ich noch nie erlebt.« – »Hat die junge Griechin Dich begleitet?« – »Ja, hat sie.« – »Gut…, gut, dass Du jemand von hier an Deiner Seite hattest.« – »Ja, sehr gut.«
Aus! Schon hatten wir das Thema »Junge Griechin als Begleitung beim Sonnenuntergang« hinter uns! Ich muss noch einmal sagen, Papa ist in solchen Dingen einmalig. Vergleicht man seine kurze Frage und den ebenfalls kurzen Kommentar mit all dem Gedöns, das Denis aus einer solchen Sache macht, erkennt man Papas Souveränität erst so richtig. Er mischt sich nicht ein und sagt nichts zu Dingen, die ihn letztlich nichts angehen. Er erkundigt sich gerade mal danach, ob nichts Schlimmes passiert ist. Und wenn ich ihm sage, es war »fantastisch« und »schön«, dann freut er sich mit, ist beruhigt und stochert nicht weiter in der Glut oder im Feuer. »Glut«?! »Feuer«?! Ich gerate gerade auf Abwege …, lassen wir das.
Im Nationalmuseum waren nicht viele Menschen unterwegs, manche Säle waren sogar leer. Papa hatte eine kleine Liste mit Skulpturen und Stelen und Vasen dabei, von denen er einige zeichnen wollte. Ich bekam einen Plan des Gebäudes und konnte allein hindurchziehen. Dann verabredeten wir ein Treffen am Mittag. Ich setzte mich auf einen Schemel und ging den Plan durch. Eilig durch alle Säle zu laufen, war kompletter Unsinn, ich hätte hinterher alles wieder vergessen. Besser war es, hier und da länger stehen zu bleiben, sich eine einzelne Skulptur anzuschauen und etwas dazu zu schreiben oder auch zu erfinden. Bevor ich damit begann, schrieb ich eine Karte an Mama.
Postbriefkarte an die Mama (24. Juli 1967, 10.18 Uhr)
Liebe Mama, Papa und ich durchwandern heute das große Nationalmuseum mitten in Athen. Es ist so etwas wie der Figurentempel der antiken Welt. Ich bin gespannt, was ich zu sehen bekomme, und ich habe mir vorgenommen, die Figuren mit den christlichen, die ich einigermaßen kenne, zu vergleichen. Papa zeichnet, und ich schreibe – unsere Tätigkeiten sind wieder gut verteilt. Wir freuen uns auf einen weiteren Brief von Dir, morgen könnte er uns erreichen. Gestern war ich (allein, ohne Papa) in Kap Sounion, schau einmal auf einer Karte nach. Ich habe den schönsten nur denkbaren Sonnenuntergang erlebt. Aber magst Du eigentlich Sonnenuntergänge?! Ich vermute fast nein.
Skulpturen im Athener Nationalmuseum
Viele antike Figuren im Athener Nationalmuseum stehen erhöht, auf einem Podest. Oft sind sie allein, strecken sich in die Höhe oder schauen betreten nach unten. Die meisten sind nicht mehr vollständig erhalten, so dass man raten muss, was ihnen abhanden gekommen ist. Ein Dreizack (Poseidon)? Ein Speer? Ein Diskus? Die männlichen Figuren sind meistens nackt und haben Körper wie aus dem Bilderbuch (höchstens das männliche Glied bleibt weit unter Normalniveau). Sie müssen täglich mehrere Stunden trainiert haben und sehen deshalb so aus, als könnten sie jede Olympiade gewinnen (haben die Griechen eigentlich auch noch den Sport erfunden? Ich meine die Wettkämpfe mit Medaillen und Lorbeerkränzen, die waren doch der Anfang des heutigen Sports … Ich kann mir nicht vorstellen, dass zum Beispiel die alten Ägypter den Diskus geworfen haben. Die haben statt Sport Pyramiden gebaut, das ist auch in Ordnung, aber etwas ganz Anderes …)
Skulpturen, verärgert
Die großen Skulpturen sind fast immer allein und brüten was aus. Sie nehmen keinen Kontakt mit anderen auf und erst recht nicht mit den Besuchern. Als Besucher fühlt man sich richtig hilflos, weil man nicht genug über sie weiß und erst recht nicht, was sie gerade bewegt. Sie leben in ihrer Götterwelt und denken sich bestimmt ihren Teil über die dämlichen und hilflos gaffenden Betrachter. ›Hey!‹ rufen sie spöttisch, ›Fremder aus Köln! Wir sind hier nicht im Zoo! Wenn Du weiter so dreist schaust und die Größe unserer Genitalien bemängelst, verhüllen wir uns. Dann kannst Du sehen, wie Du zurechtkommst.‹
Vasen im Athener Nationalmuseum
Auf den antiken Vasen (die mir sehr gefallen) werden kleine Geschichten erzählt. Ich komme auch hier nicht immer hinter den Sinn, aber doch so ungefähr. Meist stehen drei oder vier Menschen zusammen, reden miteinander, tauschen sich aus oder tun zeremoniell (dann redet einer, oder jemand singt). Am eindeutig Schönsten sind Vasenbilder, auf denen nur zwei Menschen zu sehen sind. Sie stehen dicht beisammen (oder, auch sehr häufig, einer steht, der andere sitzt). Sie trösten sich (jemand ist gestorben), opfern ein Tier oder warten auf die Ankunft eines Gottes. Solche Zweiergestalten wirken beinahe wie von heute, obwohl sie doch an andere Götter glauben, Tiere opfern und sich ein anderes Jenseits ausmalen als wir. Sie sehen aber in etwa so aus, wie auch wir aussehen, wenn wir zum Beispiel Sorgen haben, Trost spenden oder in die Kirche gehen. Das fiel mir stark auf: Wie nah diese nicht besonders festlich oder pompös oder elegant gekleideten Menschen uns sind! Nicht ein einziger Angeber ist zu erkennen, und auch niemand, der andere kleinreden oder kleinkriegen möchte. So etwas gibt es einfach nicht. Und das ist doch erstaunlich.
Jünglinge im Athener Nationalmuseum
Ich habe mir die Skulpturen der Jünglinge im Athener Nationalmuseum besonders genau angeschaut. Sie werden zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt sein, schätze ich mal. Jeder von ihnen wirkt aber reifer, sehr männlich, aber noch zurückhaltend, vorsichtig. Anders als Delia im Blick auf heutige griechische Jünglinge andeutete, sehen sie überhaupt nicht so aus, als dächten sie bereits an ein Haus, ein Auto und an eine Familie. Woran denken sie aber? Zum Glück an fast nichts. Sie lassen ihren Körper wachsen, das scheint sie am meisten zu interessieren: dass und wie er wächst! Damit das rundherum klappt, treiben sie sehr viel Sport und gehen in philosophische Schulen. Lernen tun sie dabei nicht unbedingt viel (was ist das schon: ›Ler – nen?!‹). Sie laufen und werfen den Diskus und philosophieren unter Anleitung älterer Männer und wachsen langsam hinein ins Leben. Denkt einer von ihnen daran, was er (wie man bei uns zu Hause laufend gefragt wird …) ›einmal werden will‹? Meine Vermutung: Diese jungen Männer ›wollen nichts werden‹, sie werden etwas von ganz allein, durch ›Fügung‹ (treffendes Wort!).
Antike und christliche Gestalten
Ich muss schon sagen, dass in diesem großen Museumstempel der antiken Figuren eine andere Luft weht als in Museen mit christlichen Figuren. Die antiken wirken selbstbewusster, freier und unbekümmerter (selbst dann, wenn sie Sorgen haben). Der größte Unterschied ist natürlich der, dass die meisten nackt sind und sich mit ihren nackten Körpern darstellen und austoben können. Jetzt erst bemerke ich so richtig, wie stark doch christliche Figuren vermummt sind! Als könnten sie an ihrer Kleidung ersticken! (Die Kleidung spielt überhaupt eine vielleicht übertriebene Rolle: dicke Gewänder, viel Zeremonielles, ja sogar dominant Zeremonielles!) Und noch etwas: Die christlichen Figuren leben im Rahmen einer großen Hierarchie, in der jeder seinen Platz hat. Laufend stellen sie sich in Kreisen oder in Ober- und Unterordnungen auf und gruppieren sich! Die Zentrale ist dabei immer gleich besetzt: Gottvater, Gottsohn, der Heilige Geist und (vielleicht noch) die Jungfrau Maria! So eine Zentrale gibt es für die antiken Skulpturen nicht. Zwar sind alle Zeus und Athene untergeordnet, aber sie denken nicht laufend daran. Jede Gestalt spielt ihre eigene Rolle und hält sich selbständig …
Papa und ich waren drei Stunden im Nationalmuseum unterwegs, danach war ich müde und musste unbedingt etwas trinken. Ich suchte nach Papa, fand ihn aber zunächst nicht. Erst nach über einer Viertelstunde entdeckte ich ihn in einem kleinen Raum. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden und zeichnete.
Papa bemerkte mich nicht, und ich machte mich auch nicht bemerkbar. Mann, es war ein starkes Bild, Papa auf dem Boden in diesem antiken Tempel der Figuren sitzen zu sehen! Einen Moment dachte ich: Papa gehört dazu! Er ist selbst einer von denen!
Dann setzte ich mich auch auf den Boden, direkt neben ihn. Papa räusperte sich und sagte: »Die Koren sind das Schönste in all diesen Sälen, findest Du nicht?!« Dabei blickte er auf eine Figur, die wahrscheinlich »Kore« genannt wurde (ich nahm es jedenfalls an). Ich sagte: »Eindeutig, die Koren sind das Schönste!«
Ich wartete, bis er zu Ende gezeichnet hatte (und schaute natürlich nicht auf die Zeichnung). Dann hörte ich, wie Papa flüsterte: »In zehn Minuten am Eingang, okay?« – Ich sagte »okay!« und blieb sitzen und schaute hinauf zu einer Kore – und das war das vorläufige Ende unserer Rundgänge.
Kore im Athener Nationalmuseum
Eine große, schlanke Frauengestalt. Jung, mit weit geöffneten Augen. Ein schwaches, sehr freundliches, entgegenkommendes Lächeln (wie es keine einzige Männerskulptur in diesen Sälen hinbekommt). Die gelockten und gedrehten Haare hängen zu beiden Seiten bis weit über die Schultern: Ein Schmuck, der jeden anderen Schmuck überflüssig macht. Ein langes, eng sitzendes, glattes Gewand, die rechte Hand liegt an, die linke hat wohl ein Weihegefäß gehalten. Ich saß (wie gebannt, ganz im Ernst) und stand auf und näherte mich und las auf einer Tafel: Die Figur sei stark bemalt gewesen, in vielen, verschiedenen Farben, vor allem die Haare und das Gesicht. Und ich erschrak (für einen Moment), als ich las: »Die geschminkten Lippen leuchteten früher dunkelrot …«
Papa und ich – wir trafen uns dann vor dem Museumsgebäude und setzten uns auf die Stufen. Es war Mittag, und wir überlegten, was wir mit dem weiteren Tag anstellen sollten. Morgen würde die Albireo Piräus verlassen und Richtung Chalkis fahren (mein Gott, dort wartete die Argentinierin auf Mühlenthal, ich hatte es fast vergessen …). Wir hatten also noch diesen Nachmittag und den Abend sowie den morgigen Vormittag zur Verfügung, um uns noch weiter umzuschauen.
Papa hatte Heinrich Segemann bereits in der Frühe zu einem Abendessen in der Nähe des Marktes eingeladen. Einmal wollten die beiden, die längst gute Freunde geworden waren, sich außerhalb des Schiffs treffen und ungestört unterhalten. Papa fragte, ob ich auch an diesem Essen teilnehmen wolle, aber ich war ehrlich und sagte, dass ich mit der jungen Griechin verabredet sei. »Das trifft sich ja gut«, antwortete Papa, »dann könnten wir beide in der Nacht zusammen mit Heinrich nach Piräus zurückkehren?« – »Ja«, sagte ich, »können wir. Wann seht Ihr beide Euch denn?« – »Gegen 18 Uhr.« – »In Ordnung. Dann könnten wir uns gegen 22 Uhr am Omonia-Platz treffen. Bis dahin habe ich auch zu Abend gegessen.«
Wir kauften uns in der Nähe einen kleinen Imbiss (ein längliches Stück Brot, in der Form eines offenen Schiffchens, im Ofen braun und knusprig gebacken, mit Spinat und Schafskäse gefüllt) und dazu reichlich Wasser. Dann legten wir eine Siesta ein (wir hatten uns daran gewöhnt) – und zwar im Schlossgarten, den Papa bereits recht gut kannte. Wir setzten uns auf eine Bank, aßen und tranken, und Papa streckte sich danach auf einer anderen Bank aus und schlief hinter den großen, dunklen Gläsern seiner Onassis-Brille auch sofort ein.
Reisetagebuch (24. Juli 1967, 14.08 Uhr)
Ich werde Delia heute Abend vorläufig zum letzten Mal sehen. Ich habe vor, ihr etwas zu schenken. Aber was?! Mit Geschenken für eine junge Griechin, die man mag, der man aber nicht aufdringlich zeigen will, wie sehr man sie mag, habe ich nicht die geringste Erfahrung (es ist immer dasselbe – beinahe sechzehn Jahre alt zu sein, ist beschissen, es ist ein saublödes Alter, man weiß so gut wie nichts über das, was man im Leben so wissen und können muss). Ich werde am Nachmittag durch die Straßen gehen und die Augen nach einem passenden Geschenk offen halten. Nervös macht mich das Nachdenken darüber, wie unsere Geschichte weitergehen soll. Also bitte: Wie?! Soll ich Delia nach Köln einladen? Ist das ein guter Gedanke? Oder soll ich in einem halben Jahr allein wieder nach Griechenland reisen? Und was wird in der Zwischenzeit? Sollen wir uns Briefe schreiben (nein, bitte nicht, keine langen Briefe, sondern Postkarten, das ist viel besser, so in der Art meiner Postbriefkarten an die Mama, oder?!)
Postbriefkarte an die Mama (24. Juli 1967, 14.26 Uhr)
Liebe Mama, der Besuch des Nationalmuseums liegt hinter uns. Am besten haben Papa und mir die Figuren der Koren gefallen. Es sind junge, zurückhaltende und freundliche Frauen, die einen anlächeln, als wäre man mit ihnen verabredet. Sie haben viel Überlegung auf ihren Kopfschmuck und die Haartracht verwendet, das würde Dir gefallen. Und sie tragen sehr schlichte Kleider, lang und glatt, ohne Falten, und keinerlei sonstigen Schmuck. Auch das fändest Du schön, denn Du magst ja das Einfache, Schlichte, also Kleider in nur einer Farbe oder ärmellose Sommerkleider mit blauen Blumenmotiven (Du weißt, welches Kleid ich meine …). Liebste Mama, ich freue mich auf unser Wiedersehen! Überanstrenge Dich nicht! Bald sind wir alle Drei wieder zusammen. Dann gehen wir zu unserem Wäldchen spazieren und schauen hinab auf die Nister. Mein Gott, ich darf nicht daran denken, sonst werde ich sentimental …
Ich wartete, bis Papa wieder wach geworden war, und las bis dahin noch einige Seiten Hesiod (Werke und Tage – über das Buch wollte Erwin sich ja mit mir in Chalkis unterhalten). Es ist ein Text mit vielen Regeln für den Tag, die Woche, das Jahr und darüber, was man so alles tun soll …, das gefiel mir sofort (es kam meiner Ahnungslosigkeit perfekt entgegen).
Und, als hätte ich es geahnt! – nach wenigen Minuten geriet ich an eine Stelle, an der Hesiod dem Leser rät, einen Freund dann und wann zum Essen einzuladen. Auch das passte genau. Denn der Abend würde sowohl für Papa als auch für mich ein Abend der Einladungen werden, denn ich wollte inzwischen auch jemanden einladen: Delia natürlich, wen sonst?
Nach einer Taverne (und nicht nur nach einem Geschenk) musste ich während meines Umherziehens also ebenfalls die Augen offen halten, meine Herren, ich hatte zu tun – der Nachmittag würde bestimmt kein Müßiggang werden!
Papa erwachte und richtete sich wieder auf, und ich ging hinüber zu seiner Bank, um die letzten Feinheiten zu besprechen. »Wo isst Du denn mit Heinrich zu Abend?« fragte ich ihn. – »Moment«, antwortete Papa, »Heinrich hat einen Vorschlag gemacht, und ich habe es mir aufgeschrieben.«
Er holte einen Zettel aus seinem Portemonnaie und las vor, Monastiraki heißt das Viertel, da treffen wir uns, Heinrich kennt dort ein paar gute Tavernen.« – »Ah ja, stimmt, das Viertel kenne ich auch …« – hätte ich fast gesagt, verbot mir aber jede Regung. – »Gibst Du mir bitte etwas Geld mit auf den Weg? Ich möchte Mama ein Geschenk kaufen, und ich möchte die junge Griechin gern zum Essen einladen.« – »Was Du nicht alles so möchtest!« sagte Papa, lachte und gab mir etwas Geld. »Kauf aber bitte nichts Überflüssiges«, meinte er noch, und ich antwortete (obwohl ich wirklich nicht wusste, was er diesmal für »überflüssig« hielt): »Natürlich nicht, auf keinen Fall.« (Papa hält vieles für »überflüssig«, ohne das andere Menschen nicht leben können, wie etwa Zahnbürsten, Socken im Sommer, Unterhemden oder Kämme. Er beherrscht nämlich bestimmte Methoden, um ohne das alles (und noch viel mehr) auszukommen. Mama mag nicht, wenn er mit anderen Leuten darüber spricht. »Viele halten Dich dann für verrückt«, sagt sie. – »Na und?« antwortet Papa, »dann bin ich eben verrückt. Ist mir doch egal.«)
Papa und ich – wir trennten uns und streiften los. Keiner von uns hatte (Papas Vorsätzen entsprechend) einen Stadtplan dabei, wir gingen also, »wie es uns in den Sinn kommt« (Papas alte Formulierung). Na gut, ich kannte das schon von unseren früheren Reisen. Es war aber gar nicht so einfach, durch eine so große Stadt wie Athen zu streifen, nein, Athen war eine andere, hohe Liga, mit all seiner Antike, den vielen Museen und Kirchen und vor allem mit seinen Menschen, mit denen man nicht leicht einen Kontakt herstellen konnte. Ich nahm mir vor, nicht zu schnell und vor allem durch schmale Straßen zu gehen, der Verkehr auf den größeren störte sehr und floss laut und ununterbrochen.
Durch Athen streifen
1
Die Bürgersteige werden nicht ernst genommen. Sie sind eigentlich nur dazu da, halbwegs geordnet an den Häusern entlang zu ziehen. Kaum jemand blickt nach rechts oder links, alle schieben sich gegenseitig voran, eilen zu einer Ampel, stürzen sich auf die Straße und springen zwischen den haltenden Autos hindurch auf die andere Seite.
2
Auch die Schaufenster spielen keine große Rolle – anders als bei uns. Nie bleibt ein Paar vor einem solchen Fenster stehen und kommentiert, was zu sehen ist. Selbst vor den Schmuckläden steht sich niemand die Beine in den Bauch. Jeder scheint genau zu wissen, wohin er will, betritt ohne Zögern einen Laden oder ein kleines Geschäft und kommt relativ schnell wieder heraus, als hätte er dem Verkäufer nur mal gerade seine Telefonnummer genannt.
3
Schon nach wenigen Minuten hatte ich das Mitlaufen in der Menge richtig satt. Und so schaute ich nach einer Gelegenheit, um irgendwo zumindest für Minuten zu verschwinden. Ich trank im Stehen ein Glas Wasser und einen Mokka, und ich probierte ein Ministück Kuchen – oder das, was nach Kuchen aussah. Er war rund, glänzte und offenbarte sich (durchgeschnitten) als eine dicke, gestockte, sehr süße Masse, die einem den Magen voll schlägt und ruiniert. Was macht man damit? Wegwerfen geht nicht, aber heimlich mitnehmen geht. In der nächsten Grünanlage verfütterte ich die Delikatesse an die Spatzen.
4
Irgendetwas fehlt in diesem lauten, aufdringlichen Verkehr, denke ich. Irgendetwas, das ihn öffnen, entzerren und ein wenig beruhigen könnte. Bunte Straßenbahnen! Horden von Fahrradfahrern! Langsame Spaziergänger! Elegante Rollschuhläufer! Frauen mit jungen Hunden!
5
Was soll ich Delia schenken? Ich schaue in jeden Durchgang, ob mir eine Idee winkt. Es zeigt sich aber keine. Dieses Herumstreifen bleibt ideenlos, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich nach etwas suche. Damit sollte ich unbedingt aufhören. Man sucht nicht nach einem Geschenk, nein, es fällt einem in den Schoß, sonst taugt es sowieso nichts.
6
Ich hoffte auf Rettung, als ich den beiden jungen Spanierinnen von gestern zufällig wieder begegnete. Ich sagte, dass ich ein Geschenk für meine Mutter suche, und sie fragten, wie alt meine Mutter sei. »So um die Vierzig«, log ich deftig. Da rieten sie zu einem hellen, bunten Schal oder einer weiten Korbtasche für Einkäufe. »Klasse, tolle Ideen«, sagte ich und lud sie zu einem Getränk ein. Sie wollten aber nichts trinken, sondern rasch weiter, ihr Flugzeug ging angeblich in wenigen Stunden.
7
Ein bunter Schal, eine weite Korbtasche zum Einkaufen – Mama kann mit so etwas nichts anfangen. Taschen zum Einkaufen sucht sie selbst aus, und bunte Schals mag sie nicht, weil sie »nur zu einem bestimmten Frauentyp passen«. Es ist fantastisch – Mama und ich, wir kennen uns so gut, dass wir den anderen reden hören, auch wenn er gar nicht da ist. Ich könnte mir in einem Schmuckladen ein bestimmtes Schmuckstück zeigen lassen. Und ich würde Mama sofort hören (natürlich, ohne dass der Verkäufer sie hört): »Viel zu protzig. Das zieht man höchstens an bestimmten Feiertagen an. Mit anderen Worten: Wenn’s hoch kommt, dreimal im Jahr – eher aber nie.«
8
Auf die ersten deutschen Touristen, denen ich begegnen würde, habe ich lange gewartet. Auch Papa interessierte sich dafür und tippte, dass wir ihnen morgen früh (während unseres geplanten Aufstiegs zur Akropolis) begegnen würden. Dann aber sah ich eine Gruppe von vielleicht zehn Schülerinnen und Schülern, die mit ihrem Lehrer unterwegs waren. Ich hörte sofort, dass sie Deutsche waren: endlich ein paar vertraute Laute! Ich schlich mich an sie heran und sprach sie in erfundenem Neugriechisch an, und sie schauten betreten und antworteten auf Englisch: Es tue ihnen leid, sie sprächen leider kein Griechisch. Ich sagte »No English, please, no English!« – als wäre mir diese Sprache zuwider, da schauten sie noch betretener und fragten ihren Lehrer, was sie antworten sollten. »Sagt ihm, dass Englisch jetzt die Weltsprache ist«, sagte ihr Lehrer (auf Deutsch). Sie übersetzten das für mich gleich ins Englische – worauf ich hartnäckig blieb: »No English! No language of the Beatles! I’s forbidden in Greece!« Da reagierte ihr Lehrer beinahe panisch: »Kommt, geht weiter! Rasch, lasst ihn in Ruhe! Vielleicht arbeitet der Typ für die Junta!«
9
Es gibt viele größere Plätze, auf denen der Autoverkehr kreist, als hätten die Fahrer vergessen, wo sie eigentlich abbiegen wollen. Auch hier also die Neigung, aus einem Nacheinander mit der Zeit eine endlose Prozession zu machen, die schließlich stehen bleibt, so dass der Verkehr »zum Erliegen kommt« (schöne, treffende Wendung!).
10
Ich muss sagen: So richtig weiß hier in Athen anscheinend niemand, was man mit einem Nachmittag anfängt. Cafés wie bei uns (wo man miteinander reden, Zeitung lesen oder etwas schreiben kann) gibt es kaum (und wenn, sind sie sehr klein, und die Gäste trinken in zwei Stunden einen winzigen Mokka und ein Gläschen Leitungswasser). Weinstuben oder Brauhäuser oder etwas Ähnliches gibt es überhaupt nicht, mit Wein- oder Biertrinken muss man also bis zum Abend warten – und trinkt dann etwas zum Essen. Ich habe eine einzige dunkle Stube (ziemlich anrüchig) entdeckt, wo man schon am Nachmittag Alkohol ausschenkte – und zwar richtig schweren. In den hohen Regalen an einer Wand (hoch bis zur Decke) schimmerten lauter bunte Flaschen mit Likör, Branntwein und Getränken, von denen ich noch nie gehört hatte. Am Eingang stand, dass der Ausschank für Jugendliche unter einundzwanzig Jahren verboten sei. Ich ließ es darauf ankommen, setzte mich auf einen Hocker, blätterte die riesige Getränkekarte mit Hunderten von Nummern durch und bestellte (entschlossen und bestimmt, als wäre ich ein Kenner) die Nummer 67. ›Mal sehen, ob ich in ihren Augen schon Einundzwanzig bin‹, dachte ich – und ›frohlockte‹ innerlich, als die Verkäuferin nach der Nummer 67 im Regal fischte. Es war eine dunkelbraune, angeblich zwanzig Jahre alte Brühe. Ich nippte daran und ekelte mich sofort. Dann ließ ich sie vor mir stehen und kippte sie, als die Verkäuferin für einen Moment verschwand, in den nächsten Blumentopf.
11
Es half nichts, auch nach stundenlangem Herumstreifen hatte ich keine Ideen – weder wegen eines Geschenks für Mama, noch wegen eines für Delia. Für Mama würde mir während unserer Reise bestimmt noch etwas einfallen, wegen des Geschenks für Delia aber musste ich handeln. Wie sagt Mama manchmal? ›Am Schönsten sind Geschenke, die man nicht fertig kauft, sondern selber macht!‹ Leider bin ich aber nicht fähig, Geschenke selber zu machen. Ich kann nicht basteln (ich sagte es schon einmal), und ich kann auch nicht so etwas Beliebtes wie Kränze aus trockenen Blumen flechten … (sowas ist grausam, ganz grausam, als präparierte man Blumen für eine Beerdigung – und das als Geschenk!) Was aber könnte ich selber machen? Nur zweierlei: Delia ein Musikstück auf einem Klavier vorspielen (das möchte ich nicht, jedes, aber auch jedes Stück bekäme dann etwas Pathetisches) oder: Delia einen Brief schreiben … Ich setzte mich also in ein Café und entwarf eine vorläufige Fassung, um zu sehen, ob ein Geschenk daraus werden könnte.
Ein Brief an Delia (Vorfassung)
Liebe Delia, mein Englisch ist nicht besonders, deshalb schreibe ich diesen Brief lieber auf Deutsch, lass ihn Dir bitte von jemandem übersetzen! Als ich die Reise durchs Mittelmeer zusammen mit meinem Vater antrat, ahnte ich nicht im Geringsten, was mich alles erwarten würde. Inzwischen habe ich viel erlebt, sehr Schönes, aber auch viel, was mir an die Nieren gegangen ist (wie man in Deutschland so sagt). Zum Schönsten, was ich erlebt habe, gehörten die Begegnungen mit Dir: unsere erste Begegnung (im Club von Patras) und unsere Fahrt nach Kap Sounion. So schön und unvergesslich das alles auch ist – ich habe mich oft gefragt, was eine so gut aussehende, junge Griechin wie Du an mir findet. Ehrlich gesagt, habe ich keine Antwort auf diese Frage gefunden. Ich fand es nicht richtig, Dich so etwas zu fragen, wir kennen uns schließlich erst kurz, deshalb habe ich lieber geschwiegen. Etwas Wichtiges aber kann ich nicht länger verschweigen: Ich bin kein Student, und ich bin auch keine Neunzehn, sondern ich werde in wenigen Monaten sechzehn! Enttäuscht Dich das? Hätte ich Dir früher die Wahrheit sagen sollen? Ich habe es nicht getan, weil ich mich bei dem Gedanken, neunzehn zu sein, sauwohl gefühlt habe. Endlich kein ›junger Mann‹ mehr, endlich in einem Alter, in dem man bereits einiges weiß, ohne richtig ›erwachsen‹ zu sein! Nun aber weißt Du Bescheid! Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre es ein baldiges Wiedersehen. Und zwar hier in Griechenland – auf einer der Inseln, zu zweit unterwegs! Wenn Dir diese Idee auch gefällt, schreib mir, und ich schreibe Dir dann zurück (ich schreibe übrigens lieber Karten als Briefe!, die Karten dafür aber in einer winzigen Handschrift, viele Zeilen passen darauf, Du wirst Dich wundern!). In etwas über einer Woche bin ich wieder in Deutschland. Ich werde Dich bestimmt nie vergessen, und ich danke Dir für die wunderbaren Stunden, die wir zusammen verbracht haben. Ich ahne jetzt, wie es ist, sich zu verlieben, das muss ich Dir zum Schluss (leider) noch sagen. Es ist vielleicht so, als würde man ausgetauscht und aus einem allein lebenden Menschen in einen Menschen verwandelt, der aus zwei Menschen gleichzeitig besteht. So stelle ich es mir vor. Lebe wohl – und vielleicht ja bis bald – Dein Johannes
Kurz nach 18 Uhr sah ich Delia wieder. Diesmal trug sie ein langes, dunkelblaues Kleid und war kein bisschen geschminkt. Auch ihre Haare waren nicht wie sonst kunstvoll gedreht, sondern zu einem Pferdezopf zusammengebunden. Dadurch sah sie viel jünger aus. Wir setzten uns in ein Café und tranken etwas, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass Delia auch meine Schwester sein könnte. (Pervers, oder?!) Jedenfalls verstand ich mich mit ihr so gut und mühelos, wie man sich eigentlich nur mit nahen Verwandten (oder den Eltern) versteht. Ohne viele Fragen, ohne Misstrauen, ohne übertriebene Beobachtung und ohne Nebengedanken!
Ich sagte ihr, dass wir morgen mit der Albireo ablegen und Richtung Chalkis fahren würden. Sie schlug vor, dass wir uns vorher (also morgen Mittag) noch einmal kurz sehen sollten. Noch einmal, unbedingt. Ich geriet in Verlegenheit und war schließlich ziemlich durcheinander, Mann, ich war richtig hilflos und wollte irgendetwas Klärendes sagen. Deshalb nahm ich einen Anlauf und sagte, dass ich schon bald wieder nach Griechenland kommen werde, diesmal aber allein, ohne Vater, ohne Frachtschiff, also: solo! Über das ›Solo‹ musste sie lachen, sagte aber nichts dazu, sondern fuhr mir genau so durch das Haar, wie sie mir im Club von Patras durchs Haar gefahren hatte.
›Hey‹, dachte ich, ›lass das! Hey, ich bin kein Volksschulkind, dem man so durchs Haar fährt! Ich bin mindestens Neunzehn, wenn nicht sogar Zwanzig oder Vierundzwanzig, so wie Denis!‹ Und dann ließ ich sie doch gewähren und fand es wunderschön, dass sie mir mit der linken Hand so durch die Haare fuhr.
Ich lud sie danach zum Essen ein, und ich erwähnte die Taverne, die ich während meines Umherstreifens für diesen Zweck ausgesucht hatte. Sie wollte aber anderswohin, in eine Taverne ganz in der Nähe, die sie angeblich sehr mochte.
Wir umarmten uns und gingen in enger Umarmung sehr langsam eine schmale Straße entlang …, als ich …, ja, Moment …, ich muss Luft holen, um das jetzt zu erzählen … – denn es schlug ein wie ein Blitz: als ich plötzlich Papa in Begleitung von Heinrich Segemann auf uns zukommen sah! Papa erkannte mich gleich, eindeutig, er blieb aber stehen und packte Segemann am rechten Arm, als wollte er ihn anhalten, ebenfalls stehen zu bleiben. Segemann blieb auch wahrhaftig stehen – und bemerkte (in all seiner etwas trotteligen Langsamkeit) endlich, dass ich kaum zwanzig Meter entfernt leibhaftig vor ihm stand!
Shit! – warum war mir das Ganze bloß so unangenehm? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ich hatte nie mit so einer Situation gerechnet. Delia war ›eine junge Griechin‹, die Papa nie kennenlernen würde, so hatte ich es mir vorgestellt. (Eigentlich war sie, was Papa und mich betraf, eher eine Fantasie als eine reale Gestalt, denn als eine reale Gestalt war sie in unseren Unterhaltungen nie aufgetaucht. Sondern?! Sondern als ›eine junge Griechin‹ – und damit wie eine Figur aus einem Film!)
Ich brachte den Film und das Reale aber nicht mehr zusammen, nein, wie hätte ich so etwas denn auch in Sekundenschnelle schaffen können?! Und dann tat ich Idiot das Blödeste, was ich hätte tun können. Ich sagte nämlich zu Delia, dass ich rasch noch Zigaretten kaufen wolle – ja, verdammt, ich machte (allein) kehrt, ließ sie stehen, wo sie stand, und machte ein paar rasche Schritte rückwärts ins Dunkel. Delia war überrascht, blieb aber wirklich stehen, und auch ich blieb schließlich (wie ›angewurzelt‹) stehen, um vorgeführt zu bekommen, wie Papa sich auf Delia zu bewegte, sie ansprach und mit ihr eine Unterhaltung begann.
Ich bekam das fremde Bild gar nicht hinein in meinen Kopf, es blieb draußen, als wäre es wirklich ein Filmbild. Mein Glotzen dauerte ein paar Minuten, da erst fielen mir die Zigaretten ein, und ich machte mich auf den Weg und fand (zum Glück) sofort einen Laden, wo ich eine Packung kaufte, irgendeine, die bunteste, die ich auftreiben konnte.
Damit ging ich langsam zurück – und erschrak, als ich Delia und Papa noch immer beieinander stehen sah, während Heinrich Segemann sich nicht traute, näher zu kommen, sondern herumstand wie ein Kind, das die Eltern (oder andere Erzieher) mitten auf der Straße (furchtbar allein) stehen gelassen hatten.
Ich ging auf Delia und Papa zu und trug die Zigaretten wie eine Monstranz vor mir her. »Seit wann rauchst Du?« fragte Papa (auf Deutsch). – Und ich antwortete: »Griechische Zigaretten möchte ich wenigstens einmal probieren. Denis sagt, sie sind etwas Besonderes.« – »Ihr geht jetzt essen, stimmt’s?« fragte Papa weiter, und ich sagte: »Ja, wir gehen jetzt essen.« – »Wir auch!« antwortete Papa, drehte sich um und winkte Heinrich Segemann zu sich heran. »Heinrich, was stehst Du denn so schüchtern herum? Das hier ist Delia, eine junge Griechin. Johannes hat sie vor kurzem kennengelernt. Die beiden gehen jetzt essen, und genau das tun wir auch! Gegen 22 Uhr treffen wir uns und fahren zu dritt nach Piräus zurück … Heinrich, nun sag doch endlich mal was!«
Heinrich Segemann schaute Delia an, als wäre sie wie eine antike Göttin dem Meer entstiegen. Ja, kein Scherz, es war deutlich zu sehen, dass er seinen Augen nicht richtig traute. So eine gut aussehende, junge Griechin – und das in der Nähe dieses blutjungen Sohnemanns! »Guten Abend!« brachte er gerade noch heraus, dann aber machte Papa dem allen ein Ende, gab Delia die Hand und verabschiedete sich. »Esst etwas Gutes!« rief er uns zu – und verschwand zusammen mit Heinrich, der sich noch einmal nach uns umschaute, als müsste er überprüfen, ob ich wirklich der war, für den er mich einmal gehalten hatte (nein, der war ich nicht mehr …).
»Puuh«, sagte ich zu Delia, »das war mein Vater!« – »Ich weiß«, antwortete sie, »er hat sich ja gerade vorgestellt!« – »Was hat er denn zu Dir gesagt?« fragte ich. – »Na, dass er Dein Vater ist und sich freut, meine Bekanntschaft zu machen.« – »Das hat er gesagt?« – »Ja, was fragst Du denn so?« – »Und hat er noch was gesagt?« – »Ja, er hat mich nach Köln eingeladen. Von Köln aus soll ich mit Dir ans Meer fahren! Das hat er gesagt.« – »Ans Meer?« – »Ja, es sind etwa dreihundert Kilometer, er wusste die Zahl ganz genau. Und er sagte: ›Köln liegt nahe am Meer. Sie werden sich wundern …‹«
Reisetagebuch (24. Juli 1967, 23.32 Uhr)
Vor zwanzig Minuten sind Heinrich, Papa und ich wieder auf der Albireo angekommen. Über »die junge Griechin« wurde kein Wort mehr gesprochen. Papa und Heinrich haben angeblich sehr gut gegessen. Griechisches Lamm aus dem Ofen mit grünen Bohnen! (Sie haben auch Retsina probiert, der ihnen aber nicht schmeckte.) Ich nun wiederum habe Delia eingeladen, und wir haben viele Vorspeisen, aber kein Hauptgericht gegessen. Sie mag keinen Retsina, wohl aber kretischen Weißwein. Seltsam, wir sind auf unseren morgen bevorstehenden Abschied überhaupt nicht zu sprechen gekommen. Delia redete von ganz anderen Dingen (ihren Brüdern, der Arbeit in der Schule, dem Spaß, den es mache, Kinder zu unterrichten, Musik, dem Club und so weiter). Ich war froh, dass sie so locker drauf war und soviel erzählte, denn ich wäre in arge Verlegenheit geraten, wenn ich selbst viel hätte erzählen sollen. Sie fragte mich nur wenig, und ich redete erst nach zwei Gläsern Weißwein mehr und sagte, dass ich seit der Kindheit einem großen Traum hinterher laufe. Eigentlich wolle ich nämlich Pianist werden, sagte ich, mir fehle aber der notwendige Mut, um das Vorhaben ernsthaft anzugehen. ›Du spielst gut Klavier?‹ fragte sie (ganz erstaunt), und ich nickte und wusste nicht, wie ich mit dem Thema weiter umgehen sollte. Etwa ganz offen?! Ich befürchtete, dass sie mich an irgendein Klavier in der Nähe schleppen und um ein Vorspiel betteln würde. Das aber wollte ich unbedingt vermeiden, ich war dazu nicht aufgelegt, nein, ich hatte sogar einen richtigen Widerwillen dagegen, mich an einem Klavier zu postieren und die flotten Fingerchen wieselflink über die Tasten zu jagen. (Spielten junge Männer wie ich in Griechenland überhaupt Klavier?! Wollten sie nicht viel eher Sänger werden? Sänger, Tänzer, Akkordeonspieler?!) Delia und ich – wir unterhielten uns wieder sehr gut, und dann schlenderten wir (›eng umschlungen‹, mein Gott, wie sich das anhört!) zum Omonia-Platz. Wir küssten uns diesmal nur kurz, und Delia verschwand und winkte mir zu, und ich dachte: ›So, jetzt sind wir beide zusammen! Für wie lange wird sich noch finden!‹
Reisetagebuch (24. Juli 1967, 23.51 Uhr)
Diese Reise wird die letzte lange Reise sein, die ich mit Papa unternehme. So haben wir beide es vereinbart. Was aber wird danach kommen? Reisen mit einer Freundin? Und wird die erste dieser Reisen eine Reise mit einer jungen Griechin sein? Ich bin sehr durcheinander und aufgeregt. Papa bemerkte es, glaube ich, nicht. Er liegt schon im Bett und liest den Fänger im Roggen. Ich sitze im Salon und schreibe mir (wie so oft) die Finger wund. Es tut aber nicht weh, neinnein, es beruhigt, zumindest mit dem Stift muss ich ja reden, sonst platze ich.
Reisetagebuch (25. Juli, 0.45 Uhr)
Erwin kam noch in den Salon, und wir haben zusammen ein Bier getrunken. ›Ich habe jetzt eine Freundin‹, habe ich zu ihm gesagt. – Und er fragte: ›Wie heißt sie?‹ Ich sagte es ihm und erzählte ein bisschen, und er hörte zu, und ich war sehr froh, diesen ruhigen, klugen Mann (mit all seiner großen Erfahrung) in meiner Nähe zu haben. Er ging auf die Sache völlig unkompliziert ein und redete so, als handelte es sich um nichts Besonderes. Wohl aber um etwas, um das man »sich kümmern« müsse. »Und wie soll ich das tun?« fragte ich ihn. – »Genaue Verabredungen treffen. Wann und wo Ihr Euch wieder seht. Und dafür sorgen, dass der Abstand zwischen den Treffen nicht zu groß ist. Außerdem solltet ihr häufig telefonieren …, unbedingt.« – Ich fragte ihn zum Schluss auch nach der Argentinierin (um den Austausch über diese Themen ausgeglichen zu gestalten). »Sie ist bereits in Chalkis«, sagte Erwin. – »Und wie wird sie an Deck gelangen?« fragte ich. – »Na, ganz einfach, über die Gangway. Vor aller Augen!« – »Was?! Nicht heimlich, sondern vor aller Augen?!« – »Exakt.« – »Und wieso das?« – »Sie ist nicht mehr meine Freundin, sondern meine Verlobte. In wenigen Wochen werden wir heiraten.« Mann, das war eine Nachricht! Ich lud Erwin noch zu einem Glas Sekt ein, das passte zwar überhaupt nicht, musste aber unbedingt sein. Er schlug die Einladung aus – und lud mich von sich aus ein. Und so haben wir beide (Erster Offizier Erwin Mühlenthal) und ich (Pianist Johannes O) ein Glas Champagner getrunken. Auf die Liebe und auf die Zukunft!