Die Annäherung an das Land
Ich schlief, ohne ein einziges Mal zu erwachen. Als ich zu mir kam, saß Papa an unserem Tisch und las die Odyssee. Er fragte mich, wie es mir gehe, und ich sagte, es sei alles in Ordnung, ich fühle mich gut. »Gestern Abend warst Du sehr einsilbig«, sagte er. – »Ja, tut mir leid«, antwortete ich, »es hat nichts mit Dir zu tun. Ich habe mich etwas geärgert, aber es ist schon vorbei.« – »Wir sollten mal in Ruhe zusammen frühstücken«, sagte Papa, »nur wir zwei, ohne den Kapitän und die anderen. Bald landen wir, auch darüber sollten wir einmal sprechen. Was wir an Land vorhaben, was uns interessiert.«
Ich freute mich über seine Vorschläge, denn ich war es ein wenig leid, jede Mahlzeit in Gesellschaft zu verbringen. Einmal wieder zu zweit zu frühstücken, das war genau das Richtige an diesem sonnigen Morgen. Das Meer war noch immer still und breitete sich träge vor uns aus.
Meine Laune wurde mit jeder Minute besser, und ich nahm mir vor, die Sache mit den kleinen Geschichten und Texten auf sich beruhen zu lassen. Ich würde weiter an ihnen arbeiten, aber nur zu meinem eigenen Vergnügen. Nach unserer Heimkehr würde ich sie in meine Reiseerzählung einbauen, für Maros Bordzeitung waren sie eindeutig nicht geeignet. Warum auch? Sollte Maro doch die üblichen Meldungen bringen, wie seit Jahren. Mir war es ab sofort egal.
Als Papa und ich vor dem Frühstück kurz an Deck gingen, sahen wir zum ersten Mal während der Fahrt einen kleinen Schwarm Tümmler. Die Tiere durchschnitten mit ihren kurz aus dem Wasser auftauchenden Flossen die glatte Oberfläche des Meeres, zogen sich eine Weile in die Tiefe zurück und erschienen mit ihren hellgrau glänzenden Körpern unvorhersehbar an einer ganz anderen Stelle. Die schmalen Köpfe waren gut zu erkennen, und es kam einem beinahe so vor, als beäugten sie unser Schiff von der Seite, in der Absicht, es zu begleiten.
Sie schienen keinerlei Furcht zu haben und bewegten sich so losgelöst und frei, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als in diesen Sonnenfluten kurze Runden zu drehen und einige Wettschwimmen zu veranstalten. Das Ganze sah wie inszeniert aus, als gehorchten sie einem Dirigenten, der die Aufführung leitete. Sie mussten die Darbietungen lange trainiert haben, denn jedes Tier schien genau zu wissen, wie und wo es sich bewegen sollte.
Insgesamt waren sie ein schöner Anblick, richtig wohltuend, man konnte sich keine besseren Tiere in der Umgebung vorstellen. Schwere Wale oder Haie erwecken immer den Eindruck, pausenlos auf einen dicken Fraß und große Beute aus zu sein. Bei den Tümmlern ist das ganz anders. Sie tun so, als wäre der Spieltrieb dominant und als ernährten sie sich ganz nebenbei von ein paar Fischen in Miniaturausgabe, die unter dem Geschlucktwerden nicht groß zu leiden haben.
Ich hatte angenommen, dass ein Schwarm Tümmler zwar für Papa und mich eine kleine Sensation bedeutete, nicht aber für die Besatzung, die solche Schwärme wohl schon oft gesehen hatte. Dem war aber nicht so. Denn auf einmal standen sowohl am Vorderdeck wie auch am Heck Trauben von Beobachtern, und es wurden sogar Ferngläser herumgereicht, um die Tiere ganz aus der Nähe betrachten zu können.
Selbst Kapitän Reckling kam an Deck und erklärte uns in einem (bei ihm immer häufiger werdenden) getragenen Ton, es handle sich um junge Tümmler, die uns nun eine ganze Weile begleiten würden. Früher seien solche Schwärme als Glücksboten verstanden worden, die ein Schiff kurz vor der Landung willkommen hießen.
Neben mir stand Maro, blickte ebenfalls durch ein Fernglas und kündigte an, dass er in der Bordzeitung eine Notiz über das Auftauchen der Tümmler bringen werde. Dann sagte er (leise und nur zu mir): »Ich habe mit Reckling gesprochen. Er will Deine Texte sehen.« – »Ist nicht mehr nötig«, antwortete ich, »ich ziehe sie zurück. In Zukunft schreibe ich solche Sachen nur noch für mich. Ich will keinen Streit.« – »Was soll das heißen?« fragte Maro. »Interessiert Dich die Zeitung nicht mehr?« – »Doch, die Nachrichtenlese interessiert mich sehr. Und ich würde mich freuen, wenn Du mir solchen Erzählstoff weiter zeigst und anbietest. Aber die Meldungen für die Zeitung, die solltest Du allein schreiben. Das ist nun mal nichts für mich.« – »Wenn Du meinst. Zeig Deine Geschichten aber trotzdem dem Kapitän, ich habe schließlich bereits von ihnen gesprochen. Und erwähne bitte unsere kleine Meinungsverschiedenheit nicht. Wir sollten das Thema nicht weiter vertiefen.« – »Nein, sollten wir nicht. Ich werde Kapitän Reckling drei, vier Texte geben. Und nichts dazu sagen.« – »Danke. Du bist sehr in Ordnung.«
Dass ich »in Ordnung sei«, hätte Maro nicht eigens betonen müssen. Es war doch selbstverständlich, dass wir wegen einiger kurzer Texte kein großes Theater veranstalten würden. Also ging ich rasch in die Kabine, wählte vier Texte aus, kam zurück und stellte mich neben Reckling. Papa war schon im Salon verschwunden, Reckling aber schaute noch immer den Tümmlern zu, als könnte er sich an ihnen nicht satt sehen. Er blickte weder nach rechts noch nach links, sondern stur geradeaus und flüsterte: »Grandios. Einfach grandios. Sie haben enorme Grazie, nicht wahr?«
Ich fand, dass »Grazie« bestimmt nicht das richtige Wort für die Bewegungen von jungen Tümmlern war, wollte Reckling aber nicht widersprechen. In meiner Verlegenheit suchte ich nach einem ähnlich unpassenden, übertrieben pompösen Wort und antwortete: »Phänomenal. Ja, einfach phänomenal.«
Wir schwiegen eine Weile und glotzten, es waren keine Tümmler mehr zu sehen. Da flüsterte Reckling plötzlich: »Ich habe eine gute Meldung erhalten. Und Du bist der einzige, der sie erfährt.« Ich überlegte kurz und flüsterte zurück: »Ist sie von Ihrem Sohn?« – »Ja«, nuschelte er, »mein Sohn hat sich bei der Marine angemeldet. Sein Antrag wird nun geprüft.«
Ich spürte förmlich, wie glücklich der große Mann neben mir war. All seine Träume bezüglich seines (anscheinend nicht einfachen) Sohnes schienen in Erfüllung zu gehen. Plötzlich verstand ich auch, warum ihm die Beobachtung der jungen Tümmler so viel bedeutete. Ihr Auftauchen und ihr »graziöses« Schwimmen erschienen ihm anscheinend wie Bilder seines eigenen Glücks! Das Leben bestand in diesem Moment aus einem Schauspiel, das pure Freude bereitete, so, wie er es sich lange gewünscht hatte. Mühelos, ohne falsche Zwänge, eine lockere Fortsetzung von Korbrunden, die an den Abenden eine andere Art von Freude mit sich brachten. Wie aber sollte ich darauf reagieren?
»Eigentlich möchte ich Ihnen gratulieren«, sagte ich, »aber das könnte Unglück bringen. Ich warte also lieber, bis über den Antrag entschieden ist.« – »Du bist ein kluger Bursche«, antwortete er, »und von diesem klugen Burschen will ich nun ein paar kluge Texte lesen.« – »Muss das sein?«, fragte ich, »ich möchte gar nicht mehr, dass sie in der Bordzeitung erscheinen.« – »Wie auch immer«, antwortete er, »lesen möchte ich sie trotzdem.« – »Also gut«, sagte ich, »hier sind einige! Wenn Sie das unbedingt lesen wollen! Ich gehe jetzt frühstücken, mein Vater und ich wollen über den ersten Landgang sprechen.«
Ich übergab Reckling die kurzen Geschichten und ließ ihn mit den Tümmlern und meinen Erfindungen allein. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie er in seine Kabine gehen, ein Glas Sekt auf die Zukunft des Sohnes trinken und sich dann (gut gelaunt) meinen Texten widmen würde. »Meine Texte sind auch junge Tümmler«, hätte ich ihm am liebsten noch zugeflüstert. Aber das musste vielleicht gar nicht sein. Er würde es spüren, so, wie er momentan drauf war.
Weil wir später als sonst zum Frühstück im Salon erschienen, war niemand mehr anwesend. Denis war schon dabei, Teller, Gläser und Besteck abzudecken. »Ich dachte, Sie hätten heute früh keinen Appetit«, sagte er, beeilte sich dann aber, uns noch etwas frisches Brot und Marmeladen zu bringen.
Während er das alles auf den Tisch stellte, sagte er zu Papa: »Ich habe Johannes eingeladen, am Abend nach unserer Ankunft mit mir einen Club in Patras zu besuchen. Haben Sie etwas dagegen?« – »Was für einen Club?« fragte Papa. – »In Patras gibt es drei, vier Clubs, in denen die neuste Bandmusik läuft. Britische und amerikanische Bands, das Beste, was es im Augenblick weltweit so gibt.« – »Weltweit?!« hakte Papa nach. – »Ja, weltweit!« antwortete Denis. – »Habt Ihr das schon fest vereinbart?« fragte mich Papa. – »Nein«, sagte ich, »Denis hat den Vorschlag gemacht, aber ich war mir nicht sicher.« – »Warum nicht?« fragte Papa. – »Ich kenne diese britischen und amerikanischen Bands nicht. Du weißt ja, warum.« – »Nein«, sagte Papa, »warum kennst Du sie nicht?« – »Weil ich mich bisher nur mit klassischer Musik beschäftigt habe. Aber das weißt Du doch. Warum fragst Du so?« – »Ach so, das meinst Du. Interessiert es Dich denn? Möchtest Du diese weltweit gefeierten Bands hören?« – »Ja, sehr gern.« – »Also gut! Dann solltet Ihr beide zusammen in diese Clubs gehen. Stimmt’s, Denis?« – »Na klar«, antwortete er, »machen wir.«
Ich war etwas erstaunt, wie gezielt Denis das Thema zur Sprache gebracht hatte. Er blieb also dabei und wollte mit mir zusammen die Clubs von Patras besuchen. Und das am ersten Abend, nachdem wir gelandet waren. »Wann werden wir denn in Patras ankommen?« fragte ich Papa, »weißt Du das? Hat Kapitän Reckling davon gesprochen?« – »Ja, hat er, gestern Abend. Er ist momentan sehr gut gelaunt, so gut wie seit der ganzen bisherigen Fahrt nicht. Vielleicht ist er erleichtert, dass wir die schwierigsten Passagen der Reise hinter uns haben. Nach der Landung in Patras soll es ja nur noch an der griechischen Küste entlang Richtung Norden gehen. Da kann nichts mehr schiefgehen.« – »Das hört sich beruhigend an. Aber wann genau werden wir nun in Patras landen?« – »Übermorgen, am frühen Mittag.« – »Gut. Dann gehen wir beide danach an Land und durchstreifen die Stadt.« – »Das tun wir.« – »Wie früher an der Mosel. Wie in Berlin. Ich freue mich mordsmäßig darauf.« – »Ich mich auch.«
Was für ein guter Tag ist das heute! dachte ich. Keine Spannungen, keine Konflikte, alles klärt sich anscheinend von selbst. Übermorgen Mittag werden Papa und ich in Patras an Land gehen, und am Abend werde ich mit Denis in der Stadt unterwegs sein. Papa wird nach dem Abendessen sicher an Deck bleiben, das vermute ich jedenfalls.
»Maro hat mir eine Seite mit Empfehlungen der Bremer Reederei für den ersten Landgang gegeben«, sagte Papa. »Er behauptet, es sei die übliche Seite mit Informationen für die Passagiere. Nichts Besonderes, ziemlich einfallslos. Patras soll arm an Sehenswürdigkeiten sein und nur einen kleinen Hafen haben. Oberhalb der Stadt liegt wohl eine alte Burg, deren Besteigung empfohlen wird. Und dann soll es noch eine größere orthodoxe Kirche geben. Ein paar Kilometer von der Stadt entfernt liegt auch ein kleines Strandbad. Aber dafür haben wir wohl keine Zeit, obwohl ich sehr gern im Meer baden würde. Man wird ja beinahe verrückt, wenn man bei diesen Temperaturen tagelang auf die See starrt, ohne hineinspringen zu können.« – »Wie lange liegt unser Schiff denn in Patras?« – »Nur einen Tag. Dann geht es schon weiter, auf Piräus zu.«
Wir frühstückten nicht viel, ich selbst aß nur eine einzige Scheibe Brot mit etwas Orangenmarmelade. Die Warnungen, die Mühlenthal gestern Abend wegen eines bevorstehenden Sturms ausgesprochen hatte, gingen mir noch durch den Kopf. Diesmal wollte ich besser darauf vorbereitet sein, und das bedeutete: Viel Wasser trinken, wenig essen, vor dem Sturm an Deck bleiben, die frische Luft einatmen! »Mühlenthal hat gestern von einem starken Sturm gesprochen!« sagte ich. – »Ja, in ein paar Stunden soll es angeblich losgehen«, sagte Papa. – »Mmm.« – »Machst Du Dir Sorgen deshalb?« – »Ja, mache ich. Nach dem, was ich schon mal erlebt habe.« – »Wir nehmen gleich eine oder zwei starke Tabletten, ich habe das schon mit Denis abgesprochen. Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen.«
Ich trank ein großes Glas Wasser und überflog die Empfehlungen der Reederei, die Papa aus seiner Hemdtasche gezogen hatte. Auf die alte Burg wollte ich auf keinen Fall gehen, die große orthodoxe Kirche dagegen interessierte mich sehr. (Ich hatte noch nie eine solche Kirche gesehen, und ich wusste fast nichts über die Besonderheiten des griechisch-orthodoxen Glaubens.)
»Die Burg besteigen wir aber nicht, oder doch?« fragte ich Papa. – »Nein, wir wollten doch keine Bildungsbürger abgeben, die auf menschenleere Burgen steigen«, sagte Papa. – »Stimmt. Die große orthodoxe Kirche würde ich mir aber trotzdem gerne anschauen.« – »Natürlich, die sollten wir uns unbedingt anschauen. Alte Burgen sind museal und menschenleer, orthodoxe Kirchen nicht. Die Griechen sollen sehr gläubig sein.« – »Weißt Du darüber Bescheid, ich meine über die Besonderheiten des orthodoxen Glaubens?« – »Nicht gut genug. Denis soll darüber etwas wissen, behauptete Kapitän Reckling gestern Abend.« – »Denis?! Das kann ich mir nicht vorstellen.« – »Doch, Denis! Er hat sich mit dem orthodoxen Glauben intensiver beschäftigt. Wegen dieses amerikanischen Schriftstellers, dessen Roman ich lesen soll.« – »Wegen Salinger?!« – »Ja, wegen dem. Der soll etwas vom orthodoxen Glauben verstanden haben.« – »Salinger?! Davon erzählt der Fänger im Roggen aber nichts!« – »Keine Ahnung. Auch diese Lektüre habe ich vorerst abgebrochen. Wegen des Zeichnens. Ich mache mich aber wieder dran. Es interessiert mich.«
Dass Denis sich mit dem orthodoxen Glauben auskannte, brachte meine Mutmaßungen über ihn schon wieder durcheinander. Er war einfach nicht »auszurechnen«, wie meine Schulfreunde gesagt hätten. (Meist waren bestimmte Fußballer »nicht gut auszurechnen« – dann schossen sie wochenlang kein Tor und plötzlich in jedem Spiel mindestens zwei … Man konnte die Wendung aber auch auf Politiker, Künstler oder sonstige Geistesgrößen übertragen. Picasso zum Beispiel war absolut »nicht gut auszurechnen«, keine Minute lang …)
Ich überlegte. Denis war für mich anscheinend deshalb schwer zu durchschauen, weil wir in sehr verschiedenen Welten lebten. Ja, es gab wohl kaum gegensätzlichere Welten als die von Denis und mir. Wahrscheinlich gerieten wir deshalb laufend aneinander und beobachteten das Fremde am andern mit einer gewissen Faszination (und Ungläubigkeit).
Der Unterschied zwischen uns bestand aber darin, dass Denis mich oft »bekehren« wollte, während ich nicht das geringste Interesse daran hatte, nun wiederum ihn zu »bekehren«. Sollte ich Denis die Schönheiten eines Bachschen Präludiums erklären? Nein, das wäre umsonst gewesen, es hätte ihn nicht interessiert. Oder etwa doch?! Meine Herren – wenn ich etwas länger darüber nachdachte, konnte ich mich selbst in dieser Hinsicht irren. Denis war eben überhaupt »nicht auszurechnen«.
Papa trank seine Tasse Kaffee aus und sagte: »Schön, jetzt haben wir einen kleinen Plan für Patras. Wir beide gehen am Mittag zusammen an Land und durchstreifen die Stadt. Wir essen griechisch, wir schauen uns die orthodoxe Kirche an, wir lassen uns treiben, wie immer. Vielleicht machen wir ein paar gute Bekanntschaften, vielleicht finden wir einige Griechen, mit denen wir uns verständigen können. Mal sehen. Übermorgen Mittag beginnt also unser griechisches Abenteuer. Und am Abend beginnt Dein Abenteuer ohne väterliche Begleitung. Ich bleibe an Deck und frequentiere Kapitän Recklings Korbrunde. Und Du gehst in die Clubs. Mit weltweit anerkannter Bandmusik.« Papa lachte, ich wusste, dass er sich über das »weltweit« noch häufiger lustig machen würde. (Ein Geodät hält nichts von »weltweit«, er kennt nur klar abgegrenzte Regionen, die man mit dem Feldbuchrahmen in der Hand vermisst und beschreibt.)
Wir wollten den Salon verlassen, als Kapitän Reckling erschien. Er hielt die Blätter mit meinen Geschichten in der rechten Hand – und ich dachte: Herr, lass ihn bitte nicht von diesen Geschichten anfangen! Papa kennt sie ja noch gar nicht!
Kapitän Reckling aber fing sofort damit an und sagte zu Papa, dass er stolz auf seinen Sohn sein könne. »Stolz?! Wieso das denn?« fragte Papa (etwas zu eifrig, wie ich fand). Dann holte Reckling aus und sprach davon, dass meine Geschichten großen »Unterhaltungswert« hätten, unerwartete »Perspektiven« enthielten und sehr gut geschrieben seien. »Welche Geschichten meinen Sie?« fragte Papa erneut nach. – »Sie kennen diese kleinen Erzählungen Ihres Sohnes noch gar nicht?« – »Nein«, sagte Papa, »da ist mir anscheinend Wichtiges entgangen.« – »Nichts Wichtiges«, meldete ich mich kurz zu Wort, »ich habe sie Dir nicht gezeigt, weil Du so sehr mit dem Zeichnen beschäftigt warst.«
Papa blieb in der Tür stehen und ging ein paar Schritte wieder zurück in den Salon. »Ich bekomme gerade so einiges nicht mit«, sagte er, »und das anscheinend, weil ich zu viel zeichne. Ich erfahre nichts von britischen und amerikanischen Bands, und ich lese zu wenig Salinger. Und die Geschichten, die mein Sohn in alle Welt verteilt, die bekomme ich auch nicht mehr zu Gesicht.«
Sein Ton hörte sich nicht besonders gut an. Er klang rau, empört und so ganz anders als noch vor einer Minute, als wir uns perfekt verstanden und den Landgang geplant hatten. »Ich wollte Dich nicht mit diesen Geschichten nerven«, sagte ich, »Du solltest in Ruhe zeichnen können.« – »Haben mich Deine Geschichten jemals genervt?« fragte er und wurde lauter. »Haben Deine jahrelangen Schreibexerzitien das auch nur eine einzige Sekunde getan? Wie kommst Du auf solche Gedanken? Mit kaum etwas Anderem habe ich mich so beschäftigt wie mit dem, was Du geschrieben hast. Hast Du das vergessen? Oder willst Du es nicht mehr wahrhaben?!«
Papas Gesicht war rot vor Zorn, ich hatte ihn noch nie in dieser Verfassung gesehen. Ich war so entgeistert und überrascht, dass ich mich setzte und hilfesuchend zu den Bullaugen starrte. Nichts da. Sie blickten nicht zurück, sondern stellten sich tot.
Auch Kapitän Reckling war die Situation unangenehm. Er versuchte, Papa zu beruhigen, und sagte: »Josef, ich glaube, es handelt sich um ein Missverständnis. Dein Sohn hat mir vier kurze Geschichten übergeben, die eigentlich für Maros Bordzeitung gedacht waren. Ich habe sie gerade mit größtem Vergnügen gelesen. Sie passen und gehören aber nicht in diese Zeitung. Sie sind vielmehr Literatur, richtige, gute, druckreife Literatur.«
Ich sah, dass Papas Erregung anhielt. Er hielt sich am Tisch mit der rechten Hand fest, erst dann schien er zu bemerken, dass ich mich gesetzt hatte. Er schüttelte den Kopf und setzte sich ebenfalls. Jetzt wird die Sache schlimm, dachte ich, jetzt holt er aus und ich bekomme seinen ganzen Ärger noch schlimmer und härter ab als Odysseus die Wogen des Meeresgottes Poseidon!
Doch es kam völlig anders, denn Papa zögerte, atmete durch und strich sich langsam über die Stirn. Dann sagte er: »Entschuldige, mein Junge. Ich bin etwas durcheinander. Hör nicht auf den Unsinn, den ich rede. Natürlich wolltest Du mir nichts vorenthalten, nein, bestimmt nicht. Und Du, Hans Georg, gib mir mal die Blätter, ich möchte sie lesen! Jetzt, da wir uns anscheinend duzen, ist mir das eine besondere Freude.« – Kapitän Reckling schaute verwundert, dann legte er die Blätter auf den Frühstückstisch und lachte sein schepperndes Kapitänslachen. »Stimmt, ich habe Dich gerade geduzt! Da siehst Du, wohin Dein Zorn einen treibt. Aber nun bleibt es dabei, nun duzen wir uns!«
Er lachte weiter und bestellte drei Gläser Sekt. Denis machte einen stark irritierten Eindruck, als er sie in den Salon brachte. Papa und ich standen auf, und ich musste (wie die beiden anderen) ein ganzes Glas leeren. Neben der Korbrunde gab es nun eine Kapitänsrunde. Sie bestand aus Kapitän Reckling, Papa und mir – und sie würde sich, wie Reckling vollmundig verkündete, der Pflege meines literarischen Werks (haha!, toll!, was für eine Idee!) widmen.
Mir wurde leicht schwindlig, als ich das Glas geleert hatte. Es lag nicht am Alkohol, sondern an den Stimmungsschwankungen, die ich gerade mitgemacht hatte. Die beiden Männer saßen nebeneinander und beugten sich über meine Geschichten. Ich selbst schlich hinaus. Was machten die Tümmler?
Sie waren weiter in reger Aktion, und es waren viel mehr als noch eben. Sie bewegten sich auch erheblich schneller, als wollten sie es mit dem allmählich stärker werdenden Wind aufnehmen. Manchmal sah es so aus, als glitten sie wie scharf geschossene Pfeile über die Meeresoberfläche, dann bogen sie in plötzlichen Kurven nach den Seiten hin ab und tauchten theatralisch. Es waren Auftritte wie im Zirkus, ganz große Nummern, noch nie hatte ich so etwas gesehen.
Denis stand plötzlich neben mir und sagte: »Ist mit Dir alles in Ordnung?« – »Ja, warum fragst Du?!« – »Du hast rote Flecken im Gesicht, auf beiden Seiten, das sieht nicht gut aus.« – »Dann schau woanders hin, die Flecken werden sich bald verziehen.« – »Nun sei nicht so störrisch. Ich mache mir Sorgen, im Ernst.« – »Es ist nichts, es hat rein gar nichts zu bedeuten. Ich habe mich nur etwas aufgeregt. Und zwar wegen meiner Geschichten. Reckling hat sie gelesen, Du hast sie gelesen, Maro hat sie gelesen – nur meinem Vater habe ich sie nicht zum Lesen gegeben. Und das war ein nicht wieder gut zu machender Fehler.« – »Wie bitte? Dein Vater liest sie doch gerade, dann ist doch alles in Ordnung.« – »Nichts ist in Ordnung. Ich hätte sie meinem Vater als erstem geben müssen. Wenn ich einen Text geschrieben habe, war er immer mein erster Leser. Seit ich überhaupt so etwas wie schreiben kann. Seit ich dieses verdammte, ewige Schreiben einigermaßen beherrsche.« – »Was soll das heißen?! Was meinst Du mit ›ewigem Schreiben‹?« – »Mein Vater hat mir das Schreiben beigebracht. Ich meine das richtige, gute, das man später wiederlesen und vorlesen kann. Er war mein Lehrer, jahrelang, Tag für Tag. Ich habe Tausende von kleinen Texten geschrieben. Verstehst Du jetzt, was ich meine?!« – »Tausende von Texten! Übertreibst Du nicht ein bisschen?« – »Nein, ich übertreibe nicht. Es ist so, wie ich gerade sage. Es ist tausendmal so! Und es ist der Grund, dass meine Texte etwas taugen, zumindest einigermaßen. Jeder, der nichts von den Hintergründen weiß und sie liest, sagt: ›Oooo! Der Junge kann aber gut schreiben! Wer hat ihm denn sowas beigebracht? Das ist ja erstaunlich. Oooo! Oooo!‹ Ich kann diese Sprüche nicht mehr hören, ich hasse sie. Ich hasse die doofen Kommentare, und ich hasse es, dass ich etwas erklären soll. Ich will nichts erklären, ich will kein Erklärer sein, verdammt noch einmal! Ich will in Ruhe gelassen werden, von allen und jedem, um meine verrückten kurzen Texte schreiben zu können. Mehr nicht. Mit dem Klavierspielen ist es haargenau so. Jemand hört mich durch einen blöden Zufall irgendwo spielen, dann heißt es schon wieder: ›Oooo! Wieso kann der Junge denn so gut spielen? Wer hat ihm denn das beigebracht? Das ist beachtlich.‹ Scheiße ist das! Jahrelang habe ich Tag für Tag Klavier geübt und jahrelang habe ich Tag für Tag kleine Texte geschrieben. Das war viel Mühe und Arbeit. Harte Arbeit! Deswegen beherrsche ich inzwischen zwei Dinge einigermaßen: Klavierspielen und kleine Texte schreiben. In dieser Reihenfolge. Sonst kann ich nichts, gar nichts, verstehst Du? Keine Mathematik. Keine Physik. Nicht mal Penny Lane kenne ich, und vom orthodoxen Glauben habe ich nicht die geringste Ahnung. Ich bin eine Null. Ich kann nicht einmal … richtig küssen, verstehst Du? Ich kann überhaupt nichts von dem, was andere Jungs in meinem Alter von ganz allein können.«
Ich war laut und lauter geworden, ich übertrieb es. Aber ich kann zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich sehr gereizt war. Am liebsten hätte ich das verdammte Schiff verlassen und wäre (nur mit Papa) weiter durch Griechenland gegondelt. Oder getrampt. Oder Gott weiß was. Ich hatte genug von den anderen, von Maro, dem gehorsamen Schreiber, von Mühlenthal, dem Alleswisser, und von Denis, der mir dauernd auflauerte, um meine Störungen aus der Nähe zu studieren. Nur auf Kapitän Reckling ließ ich nichts kommen, er hatte sich immer sehr anständig benommen. Fast ›wie ein Vater‹, fast wie. Vielleicht hätte sich auch Segemann so benommen, das war durchaus möglich, ich bekam ihn aber nur selten zu sehen. Immer war er beschäftigt, mit Basteleien in seiner Kabine, mit Arbeiten im Motorenraum. Er versteckte sich anscheinend, ihm schien die dauernde Anwesenheit der anderen auch lästig zu sein. Oder irrte ich mich?!
Seltsamerweise tauchte er plötzlich neben Denis und mir auf. Und seltsamerweise genau in dem Moment, als ich mit meiner Tirade durch war. Ich starrte noch auf das Meer, wo die Tümmler vor Lebensfreude beinahe durchdrehten, da kam er näher. Heinrich Segemann. In einem hellblauen, ärmellosen Hemd. Mit dunkelblauer Hose. Ungegelt. Mit struppigen, weit abstehenden Haarwirbeln. Ein Ingenieur. Ein Erfinder. Irgendwas in dieser Richtung. Er hielt eine Bastelei in der rechten Hand, kam direkt auf mich zu und sagte: »Ich hatte ja versprochen, Dir mein kleines Floß des Odysseus zu zeigen. Hast Du Interesse?!«
Ehrlich gesagt, hatte ich in diesem Augenblick nicht die geringste Lust, mir Segemanns Floß des Odysseus anzusehen. Aber er hatte immer wieder von diesen Basteleien gesprochen, sie waren beinahe sein einziges großes Thema gewesen. Deshalb riss ich mich zusammen und antwortete: »In Ordnung. Endlich bekomme ich das Floß des Odysseus auch wirklich zu sehen. Ich dachte schon, es existiert gar nicht.«
Denis starrte uns an, als redeten wir in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, ich hatte schließlich alles gesagt, was gerade zu sagen gewesen war. Sollte er von mir halten, was er wollte. Notfalls würde ich auf den Landgang in die Clubs von Patras verzichten. Sollte er doch allein hingehen, um seine britischen und amerikanischen Bands zu hören!
Ich fragte Floßbauer Segemann, wo wir uns seine Bastelei anschauen sollten. Der Salon war (durch Papa und Kapitän Reckling) besetzt, also vielleicht in unserer Kabine? Segemann war einverstanden, und so trotteten wir dorthin, wo ich unseren Tisch von Büchern und Papas Zeichnungen befreite. Wir räumten die Platte ganz leer, und ich wusch sie ab und trocknete sie. Dann setzte Heinrich Segemann das Floß in die Mitte, und ich umkreiste den Tisch mehrmals, um sein Objekt zu bestaunen.
Es sah rührend einfach aus: dicke, runde Hölzer, fest aneinandergebunden, schmalere Querhölzer in der Mitte, ein großer Mastbaum mit einem weißen, leicht zerfetzten Segel, irritierende viele Taue – und ein besonders schlichtes Ruder. Durch einen kleinen, baldachinartigen Aufbau wirkte es fast wie ein Segelboot.
Kunstvoll daran war, dass es so provisorisch wirkte. Also nicht wie das Floß eines Menschen, der die besten Geräte zu seinem Bau zur Hand gehabt hatte, sondern eher wie ein Floß, das aus der Not heraus entstanden war. Mit Materialien, die sein Erbauer irgendwo in der Wildnis aufgetan hatte.
»Gefällt es Dir?« fragte Segemann. – »Sehr«, sagte ich, »ich würde mit einem solchen Floß zwar nicht durchs Mittelmeer segeln, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Odysseus genau das mit genauso einem Floß getan hat.« – »Eben«, antwortete Segemann, »auf die Vorstellung kommt es an, die Vorstellung muss stimmen. Deshalb habe ich so viel Wert auf die Schlichtheit der Konstruktion gelegt. Wenn man es sich genauer anschaut, denkt man als erstes: Sieht gut aus, aber damit kommt er nicht weit. Das Meer wird es auseinandernehmen, Teil für Teil. Und so kommt es dann ja auch. Es ist eine meiner Lieblingsstellen in der Odyssee, ja, es ist eine wirklich fantastische Stelle.« – »Wieso?« fragte ich. – »Wieso? Na komm, hast Du eine Übersetzung da? Ich lese die Stelle mal vor.«
Ich holte die Prosaübersetzung und gab sie Segemann. Er setzte sich, lehnte sich etwas nach vorne und las sehr langsam eine längere Passage aus dem berüchtigten Fünften Gesang. Zum ersten Mal bekam ich Satz für Satz mit. Als öffnete Segemanns ruhiges und betontes Lesen mir erst so richtig die Ohren. Ich schweifte nicht ab (wie beim eigenen Lesen), sondern folgte den Ereignissen, als sähe ich sie direkt vor mir. Wie Odysseus viele Bäume fällte, sie behaute und mit Bolzen und Klammern zusammenfügte! Und wie er das Floß später (auf Walzen!) ins Meer zog! Und wie er dann lossegelte und am achtzehnten Tag ruhigen Segelns »die schattigen Berge des Landes der Phaiaken« ganz deutlich sah, ›zum Greifen nah‹! Genau in diesem großen Moment bemerkte ihn jedoch Poseidon und bot den schlimmsten Sturm auf, der sich denken ließ …
Es war eine höllische, Angst machende Stelle, und es war bestimmt nicht der richtige Moment, sie zu lesen. Draußen war es längst etwas dunkler geworden, die Sonne war verschwunden, anscheinend stand der angekündigte Sturm nun auch uns bald bevor.
Heinrich Segemann hatte das alles aber keine Sekunde im Blick, sondern las unbeirrt weiter, in einem lebendigen, abwechslungsreichen Ton, als wäre der Text von ihm! Ja, er schien diesen Odyssee-Sturm richtig zu genießen und jedes Detail auszukosten. Wie der Mastbaum zerbrach, wie Segel und Rahe wegflogen und die schweren Stämme jeden Halt verloren und einzeln durchs Meer trieben! Und wie Odysseus am Ende sich nur noch schwimmend zu retten versuchte und nach drei Tagen Schwimmen endlich das feste Land erreichte. Raues Gestade zunächst, doch dann einen Fluss, im Land der Phaiaken …
Heinrich Segemanns Stimme wurde leiser und leiser, und ich bemerkte, wie ihn die Stelle rührte: Odysseus, der in einem Wald in Flussnähe ein kleines Lager findet und ein paar Blätter über den geschundenen Leib breitet: »Und ihm goss einen Schlaf auf die Augen Athene, dass er ihn aufs schnellste befreie von der mühsamen Ermattung, indem er ihm die Lider rings umhüllte …«
So endete der Fünfte Gesang, und ich kapierte endlich, warum Ingenieur Segemann gerade von dieser Stelle so angetan war. »Unglaublich, oder?!« sagte er und trocknete sich mit einem Taschentuch die Stirn. – »Ja«, sagte ich, »wirklich furchterregend!« – »Aber nicht nur das! Stell Dir vor: Viele Jahre ist Odysseus wegen des Trojanischen Krieges in der Ferne gewesen. Auf der Heimfahrt von Troja verliert er nach und nach alle Gefährten. Zuletzt bleibt ihm nur noch ein zusammengezimmertes Floß! Und auch das wird noch Stück für Stück in alle Bestandteile zerlegt! Schließlich strandet er nackt und hilfloser als hilflos im Land der Phaiaken! Kann man sich ein schlimmeres Ende vorstellen? Für einen Krieger, dessen Kriegsplan Troja letztlich zerstört hat? Nichts hat es ihm gebracht, gar nichts, er ist am Ende!«
Ich nickte, aber so sehr ich auch überlegte, mir fiel einfach nicht ein, wie es in der Odyssee danach weiterging. Odysseus war zwar am Ende, aber die Phaiaken waren als gute Gastgeber bekannt. Richtig? Hatten sie ihn nicht gastfreundlich aufgenommen? Und war er vom Phaiakenland nicht endlich doch nach Hause gelangt?
Ich sah Segemann an, dass er mir am liebsten auch noch den Sechsten Gesang (und damit die Wende zum Guten) vorgelesen hätte. Das aber wollte ich lieber selbst tun, Satz für Satz, so langsam wie möglich. Ich hatte die Stimme Segemanns jetzt genau im Ohr, und ich würde sie im Ohr behalten, wenn ich den Sechsten Gesang las.
Um ihm zuvor zu kommen, sagte ich: »Spätestens morgen werde ich noch einmal den Sechsten Gesang lesen. Der ist ja besonders schön. Finden Sie auch?« – »Schön?!« sagte Segemann (fast belustigt). »Der Sechste Gesang enthält die Nausikaa-Geschichte. Die hat Goethe zu Tränen gerührt.« – »Ach ja?« tat ich unschuldig (obwohl ich im Schulunterricht schon einmal davon gehört hatte, von Goethes Rührung nämlich und davon, dass er vergeblich versucht hatte, die Nausikaa-Geschichte nachzudichten – oder etwas Ähnliches in dieser Art). – »Allerdings«, sagte Segemann, »Goethe hat sogar versucht, die Nausikaa-Geschichte nachzudichten.« – »Und?« fragte ich (und fühlte mich beinahe mies), »wie kam er damit zurecht?« – »Er hat die Arbeit abgebrochen. Was sich davon erhalten hat, ist aber von großer Schönheit. Überwältigend geradezu. Das schönste Deutsch, das je geschrieben wurde.« – »Im Ernst?« – »Nach meiner Meinung das schönste Deutsch. Aber ich bin natürlich in diesen Dingen nur ein kleiner, unbedeutender Laie.«
Ich mag es nicht, wenn Menschen behaupten, sie seien in dieser oder jener Angelegenheit nur kleine, unbedeutende Laien. Meistens sagen das ausgerechnet solche, die sich durchaus sehr gut auskennen. Sie machen sich kleiner als sie sind, und das alles nur, weil sie nichts wagen und ihre Ansichten nicht selbstbewusst vertreten. So etwas ist nervig und führt oft zu langem Blabla, an dessen Ende sie gegenüber den nur scheinbar besser Informierten zugeben müssen, sich doch einigermaßen auszukennen.
Ich zuckte also (innerlich) etwas zusammen, als Segemann sich so wegduckte, aber ich hätte es nie über das Herz gebracht, dieses Thema anzusprechen. Er hatte mir anhand des kleinen Floßes (und noch mehr anhand seiner Lesung) gezeigt, dass es sich lohnte, weiter in der Odyssee zu lesen. Ich hatte sogar richtig Lust dazu, und ich sagte das auch und bedankte mich (reichlich umständlich).
Wir waren mit unserer Odyssee-Sitzung gerade durch, als es klopfte. Papa konnte das nicht sein, also kamen nur Maro oder Denis in Frage. (Ich tippte auf Denis.) Segemann sagte, er werde das Floß in unserer Kabine lassen, damit Papa es zeichnen könne. Dann verabschiedete er sich und ging hinaus. Draußen stand Denis, lauernd, wie fast immer.
»Was willst Du schon wieder?« fragte ich. – »Nach Dir schauen. Sehen, ob es Dir besser geht.« – »Dann mach schnell und wirf einen Blick auf mich und sag, ob die roten Flecken noch da sind.« – »Nein, sind sie nicht.« – »Sie sind also verschwunden, wie ich vorhergesagt hatte?« – »Ja, sie sind weg.« – »Bravo, Denis! Die Flecken sind weg. Damit kannst auch Du Dich wieder entfernen. Habe ich Recht?« – »Nein, es geht noch um etwas Anderes.« – »Worum geht es denn noch?« – »Um Deine Kleidung. Du siehst einfach unmöglich aus.« – »Wie bitte?!« – »Wenn Du Dich kleidest wie heute oder wie an den Tagen, seit Du an Deck bist, können wir in keinen Club der Welt gehen.« – »Ich sehe vollkommen normal aus.« – »Das ist es ja eben. Du siehst grausam normal aus. Jeder wird erkennen, dass Du ein Deutscher bist. Und zwar einer von der biedersten Sorte. Ein Mausetourist. Einer mit Fotoapparat und Baedeker.« – »Ich benutze keinen Baedeker. Und fotografieren tue ich selten genug.« – »Na gut. Du willst mich nicht verstehen. Das habe ich mir schon gedacht.« – »Komm«, sagte ich, »wir gehen mal kurz an Deck. Ich brauche etwas Frischluft.«
An Deck wehte längst ein kräftiger Wind. Nur am Horizont klaffte noch ein weit geöffnetes Sonnenloch. Davor aber hatten sich schwere, dunkle Wolken geschoben, übereinander, bedrohlich geschichtet, als hätte Poseidon … nein, das ging nun wirklich zu weit.
Denis hatte mich verunsichert, denn wahrscheinlich hatte er sogar Recht. Ich würde in Patras vielleicht wirklich aussehen wie ein biederer, braver, unendlich langweiliger Tourist. Über meine Kleidung während des Landgangs hatte ich mir einfach keine Gedanken gemacht. Normalerweise dachte ich auch keine Sekunde über so etwas nach. Ich zog irgendwas über und machte mich auf den Weg. In den griechischen Clubs konnte ich unter lauter jungen Leuten damit aber wohl nicht bestehen. Ich würde auffallen, und das möglicherweise nicht angenehm.
»Es geht Dir doch um die Clubs, stimmt’s?« fragte ich, »in den Clubs könnte ich eine peinliche Nummer abgeben. Das willst Du sagen.« – »Genau das. Was Du sonst trägst, ist mir egal. Ich muss Dich ja zum Glück nicht begleiten. Abends aber gehe ich keinen Schritt mit Dir, wenn Du Dich in Deine grauen Hemden mit Reißverschluss hüllst.« – »Soll ich vielleicht eigens neue Sachen kaufen, nur um in einem Deiner dämlichen Clubs nicht aufzufallen?« – »Wenn Du nichts Anderes anziehst, wirst Du sehr negativ auffallen! Du solltest aber positiv auffallen! Passend und originell gekleidet! Wie die anderen, die sich Mühe damit geben.« – »Ich gebe mir damit aber keine Mühe. Ich habe es noch nie getan.« – »Schlimm für Dich, Johannes! Hast Du noch nie etwas Besonderes getragen? Etwas, das Dir und nur Dir gefällt? Etwas, das die anderen nicht tragen? Wirklich noch nie?!« – »Nein, noch nie. Ich sagte doch, dass ich mir über Kleidung keine Gedanken mache.« – »Es wird Situationen gegeben haben, in denen Du Dir solche Gedanken gemacht haben musst!« – »Nein, es hat sie nie gegeben!« – »O doch, es hat sie gegeben! Aus Anlass eines Klaviervorspiels etwa! Als Du öffentlich aufgetreten bist! Was hast Du da getragen?« – »Nichts Besonderes!« – »Doch, etwas Besonderes! Vielleicht ein Sacco aus Samt? Schwarzem Samt? Rotem Samt? Eine Samthose? Lackschuhe? Schwarze Lackschuhe?!«
Ich geriet völlig durcheinander. Woher, ja, woher wusste er das? Denn es stimmte. Während meiner letzten öffentlichen Auftritte hatte ich eine Samtjacke, eine Samthose und schwarze, glänzende Lackschuhe getragen. Es war die Kleidung, die mein jetziger Klavierlehrer verordnet und vorgeschrieben hatte. »Wenn man Beethovens opus 110 spielt, sollte man nicht aussehen wie ein Gelegenheitspianist«, hatte er gesagt und keinen Widerspruch geduldet. Die Sachen befanden sich in Köln, und ich zog sie natürlich nur an, wenn ich öffentlich auftrat.
»Deine roten Flecken melden sich wieder«, sagte Denis, »also habe ich Recht. Samtsacco, Samthose und Lackschuhe. Welche Größe?« – »Das ist doch egal. Warum fragst Du?« – »Ich werde mich drum kümmern. Wenn wir beide ausgehen, ist zumindest einiges in der Richtung vorhanden. Du wirst Dich umziehen und eine tadellose Figur abgeben. Richtig scharf wirst Du aussehen.« – »Scharf?! Es reicht! Ich werde keine Witzfigur abgeben. Niemals. Und jetzt Schluss, Ende, aus. Ich habe zu tun.«