Patras 5

Die Innenstadt von Patras war nicht wiederzuerkennen. Alle Läden, Geschäfte, Cafés und Restaurants hatten geöffnet, und Stühle, Tische und Sitzbänke waren nach draußen gestellt. Viele Menschen (aller Altersstufen) waren unterwegs und durchstreiften die Straßen – und das Ganze machte einen beschwingten Eindruck, als gäbe es etwas zu feiern oder als wäre Jahrmarkt. An den Straßenecken und auf den Plätzen waren besonders viele Spaziergänger versammelt, sie unterhielten sich, und in ihrer Nähe waren Verkäufer mit einigen Waren unterwegs.

Die meisten waren Männer in mittlerem Alter, die Zigaretten, Feuerzeuge oder auch Luftballons verkauften, das wirkte seltsam, als spielten sie in einem Bühnenstück eine Statistenrolle. Gekauft wurde nur selten etwas, das unterstrich den Statisten-Eindruck, aber auch die redenden und lange auf der Stelle stehenden Menschen hatten etwas Theatralisches, weil sie sich einfach nicht fortbewegten oder in Aktion traten, sondern sich benahmen wie Mitglieder eines großen gemischten Chors, der gleich einen sentimentalen Nachtgesang anstimmen würde.

Alle paar Meter gab es an kleinen Straßenständen etwas zu essen. Verkäufer (in bereits höherem Alter) boten gegrillte Maiskolben an, und es gab kleine Spieße mit gegrilltem Fleisch, das oft leicht verbrannt aussah. Auch Getränke waren auf offener Straße fast überall zu bekommen, und so zögerte ich nicht lange, sondern bat Papa, mir ein kühles, griechisches Bier zu bestellen.

Papa hatte keine Einwände (hatte ich das erwartet? – nein, keinen Moment!), denn auch er hatte anscheinend großen Durst, und so bestellte er für uns an einem Straßenstand zwei Bier. Ich war noch immer etwas durcheinander (warum hatte ich solche Lust auf Bier?), aber als ich den ersten Schluck genommen hatte, war mir einiges klarer. Der bittere, leicht säuerliche und etwas penetrante Geschmack – das hatte mit allem zu tun, was ich vorher gesehen hatte: mit der trockenen, rauen Erde, mit dem Thymianduft und mit meinen Fantasien über Ziegenherden, griechische Musik und griechische Götter (sowie das wilde Leben, das aus alldem zusammen bestand).

Angesichts all dessen Wasser zu trinken, kam mir harmlos, langweilig, ja, beinahe idiotisch vor. Noch abwegiger erschienen mir Fruchtsäfte, Cola oder Limonaden – nein, ich wollte mit solchen Kindergetränken an meinem ersten griechischen Abend nichts zu tun haben.

Die Einwohner von Patras genossen (auf ihre, mir noch fremde Art) diese Stunden und wahrscheinlich die Nacht, sie ließen sich treiben, unterhielten sich hier und da, wechselten den Platz, setzten sich für kurze Zeit und streunten dann weiter herum. Sie waren lebhaft und munter und zeigten gerade soviel Temperament, dass dieses Treiben nicht überkochte oder aus den Fugen geriet. Sich wie ein trockener Beobachter zu benehmen (und das womöglich noch mit einem Führer in der Hand) erschien mir geradezu abstoßend, und nicht nur das – es wäre richtig dämlich gewesen.

Ich trank das Bier ziemlich schnell, das war schon erstaunlich. Zum ersten Mal in meinem Leben schmeckte mir dieses Zeug, vielleicht lag es daran, dass es griechisches Bier war. Zu Hause hatte mir (außer dann und wann ein Kölsch) nie ein Bier einigermaßen geschmeckt, meine Klassenkameraden hatten darüber oft ihre Witze gemacht. Ich hätte sogar noch ein zweites Bier getrunken, merkte aber, dass Papa »umherstreifen« wollte.

In Ordnung, jetzt war das »Umherstreifen« dran. So wie früher, in alten Tagen (mein Gott, das ist stark übertrieben, ich bin schließlich noch kein alter Mann …, oder?!). Papa und ich – wir ließen uns also durch die belebten Straßen von Patras treiben und schauten nach etwas Interessantem. Was also hätte interessant sein können, was kannten wir noch nicht, welchen Spuren sollten wir folgen?

Als wir an einer Buchhandlung vorbei kamen, machte Papa Halt. Ich hätte es wissen können! Dass er in der griechisch-orthodoxen Kirche einige Details nicht hatte erklären können, machte ihm noch immer zu schaffen! Er zögerte jedenfalls keine Sekunde, sondern ging sofort in den muffigen, rechteckigen Raum, der wie ein unaufgeräumtes Zimmer aussah, in dem die Bücher in Stapeln überall (auf kleinen Tischen, Bänken, dem Boden, ja sogar den Rändern eines Springbrunnens) herum lagen.

Ich wäre viel lieber weiter gegangen und »umhergestreift«, Papa aber war völlig auf die Bücher fixiert und steuerte sofort die Ecke an, in der sich Bücher über Patras und Griechenland befanden. ›Jetzt schlägt er einen Reiseführer auf, schaut nach der Andreaskirche und liest nach, wo und wann der Apostel Andreas gestorben ist‹, dachte ich – und wandte mich von der Patrasecke demonstrativ ab.

Blöderweise entdeckte ich genau gegenüber aber eine Ecke ausgerechnet mit deutschen Büchern, ich mochte nicht hinschauen und schaute dann doch (flüchtig) hin. Es gab Taschenbücher mit deutschen Romanen, ein Roman von Thomas Mann war darunter, und ich dachte: »Nie und nimmer wirst Du während dieser Reise auch nur eine einzige Zeile von Thomas Mann lesen! Schwöre es, schwöre es bei Deinem old man

Entschlossen ließ ich die deutschen Taschenbücher links liegen und griff stattdessen nach englischen Titeln. The old man and the sea war wahrhaftig darunter, und obwohl ich Hemingways Erzählung schon mehrmals gelesen hatte, lockte mich dieser Titel. Im Original hatte ich nur selten Hemingway gelesen, wieso eigentlich?! Und war die Geschichte vom alten Mann und dem Meer nicht ein Stoff, der zu unserer Reise passte? Ich nahm das Buch aus dem Regal und ging zu Papa, der längst einen kleinen Stapel von Patras-Büchern vor sich aufgebahrt hatte. »Der Apostel Andreas ist, Du wirst es nicht glauben, hier in Patras gestorben«, sagte er. »Er hat die Frau des Statthalters zum Christentum bekehrt und ist daraufhin im Auftrag dieses Statthalters gekreuzigt worden.« – »A – ha!« sagte ich (ziemlich blöde, denn ich hatte keine Lust, länger darauf einzugehen). – »Nix a – ha!« antwortete Papa, »Andreas wird von den orthodoxen Christen mehr verehrt als jeder andere Apostel oder Heilige. Er ist die Nummer Eins, stell Dir das vor!«

Fast hätte ich »soso« gesagt, dann wäre Papa aber wahrscheinlich in die Luft gegangen. Deshalb sagte ich lieber gar nichts, es war mir einfach danach. Stattdessen streckte ich Papa das Hemingway-Taschenbuch hin und bat ihn, es zu kaufen. »Die englische Ausgabe haben wir bereits an Bord«, sagte er knapp und vertiefte sich wieder in seine Patras-Bücher.

Draußen strömten die Menschen vorbei: gut gelaunt, locker, lässig. Aus dem Hintergrund kam auch Musik, anscheinend spielte dort eine Gruppe. Papa und ich aber standen in der staubigen Buchhandlung und spielten die wissensdurstigen Touristen. Ich fand das öde, sagte es aber nicht, sondern besprach mich kurz mit Papa. »Ich streife ein bisschen weiter«, sagte ich, »in einer halben Stunde können wir uns irgendwo wiedersehen. Was meinst Du?« – Papa blätterte in seinem Patrasführer und deutete auf einen Stadtplan: »Schau mal, hier, auf diesem großen Platz treffen wir uns. Merk Dir den Namen! Es sind nur ein paar Meter!«

Ich merkte mir den Namen und ging wieder nach draußen. Es war richtig befreiend, Abstand von den Büchern zu gewinnen. ›Lesen die Griechen überhaupt?‹ dachte ich plötzlich, ›sie machen jedenfalls nicht den Eindruck. Über Mittag herrscht stundenlang Siesta, und danach vergnügen sie sich bis tief in die Nacht auf den Straßen! Bleibt höchstens der Morgen, da ist Schule, Lehre, was auch immer … – aber reichen die paar Stunden, um ordentlich etwas wegzulesen?‹

Leider konnte ich niemand fragen, und genau das fand ich, während ich weiter umherstreifte, immer ärgerlicher. Es war gar nicht gut, überhaupt keinen Zugang zu den Menschen um einen herum zu finden, nein, das war daneben. Kontakt erhielt man nur, wenn man etwas von ihnen wollte. Wenn man Essen oder Getränke bestellte, wenn man Altgriechisch lernen wollte, wenn man dies und das – eine normale Unterhaltung aber ergab sich von selbst nicht. Und das war der Punkt. Ich streifte umher, aber ich hätte noch stundenlang umherstreifen können, ohne so richtig etwas von dem mitzubekommen, was gerade um mich geschah.

Worüber sprachen die Menschen? Über die Militärjunta? (Sie machten nicht den Eindruck.) Über Sport? (Nein, auch nicht.) Über die neusten Songs? (Die Jugendlichen vielleicht …) Über ihre Familien oder so? (Ja, genau den Eindruck machten sie: Vielleicht sprachen sie ununterbrochen übereinander: über die Nachbarn, die Familie, die Verwandten in Athen, was weiß ich …) Ich hätte mir sagen können, dass mich diese Unterhaltungen nichts angingen, das stimmte ja auch. Aber es hätte mich doch sehr interessiert, genauer zu hören, wie sie über ihre Nächsten redeten. So wie Mama in ihren ausufernden Briefen? Von Detail zu Detail hüpfend? (›Hanna wird immer verschlossener. Sie traut sich nicht, ihren Eltern zu sagen, dass sie sich schon dreimal mit Hans getroffen hat, zweimal am Schützenplatz, einmal in der leeren Kirche, damit niemand sie sieht …‹)

Ich hätte das zu gern gehört, aber ich bekam rein gar nichts mit. Ich ging umher, als hätte ich verstopfte Ohren, so in etwa war das. Wenigstens etwas Musik bekam ich zu hören, ja, wenigstens Musik! Viel mehr als bei uns zu Hause, wo es auf den Straßen zu wenig Musik gibt.

In Patras aber kamen jene Bürger, die ein wenig Musik machen konnten, nach draußen, postierten sich irgendwo an einer Straßenecke oder auf einem Platz und legten los. Meist sang jemand, und zwei oder drei Musikanten (der Begriff ist nicht ganz richtig …) begleiteten ihn. Mit der Gitarre, mit einer Rassel (der Begriff ist auch nicht ganz richtig …). Meine Herren, man sieht und liest es ja: Nicht einmal die passenden, richtigen Begriffe kannte ich. Ich hatte nicht nur verstopfte Ohren, ich hatte wohl auch ein zumindest halb verstopftes Hirn.

Was mir aber immerhin auffiel, war der Gesang, denn so eine Art von Gesang hatte ich noch nie gehört. Wie soll ich es beschreiben (es ist wirklich nicht leicht)? Es war ein Singen ohne Melodien und eigentlich auch ohne Rhythmen! Die Stimme verweilte vielmehr lange bei einem Ton, ging einen Halbton nach oben, zwei Töne nach unten, wieder zurück, drei Halbtöne nach oben … – es war wie ein Umkreisen des einen Tons, fast pausenlos, die Stimme setzte kaum ab. Hätte ich es zeichnen müssen (o Gott!), hätte ich eine kleine Schleife gezeichnet.

Die Wirkung aber war schon genauer zu beschreiben, denn der Gesang hatte etwas Betäubendes. Als wollte er sich durch einen Ohrenspalt ins Hirn einschleusen und dort weiter und weiter kreisen, sehr langsam, wie ein Gift (wie ein Gift?!), das alle anderen Fantasien und Gedanken lahm legte. Ja, der Gesang hatte etwas von einer Hypnose, so kam es mir jedenfalls vor.

Ein Orchester, das ihn begleitet hätte, konnte ich mir nicht vorstellen, vielleicht mochten die Griechen so etwas grundsätzlich nicht. Chöre wohl eher, aber dann wohl so, dass die Chöre genau dasselbe sangen wie der einzelne Sänger oder die Sängerin!

Die Sängerin?! Seltsam, aber auf den Straßen von Patras sangen nur Männer! Sie waren etwa in mittlerem Alter (so um die Vierzig), und sie sangen viel mit geschlossenen Augen. Sie legten den Kopf etwas nach hinten und pressten das hypnotische Gift aus ihren Körpern! Schleichend (und etwas unheimlich) tropfte es aus ihnen heraus und ließ die Menschen um sie herum erstarren! (Niemand sang mit, kein einziger Mensch, die Sänger blieben allein und wurden bewundert …)

So fremd das alles wirkte – ich mochte es sehr. Vielleicht kam es daher, dass ich generell das Singen sehr mag, nicht so sehr das Singen von Chören, wohl aber das Singen einer einzelnen Person. Wenn eine Frau oder ein Mann gut singen kann, ist das sogar das Wunderbarste überhaupt – besser als jedes Spiel auf einem Instrument (›Instrumente sind Krücken‹, hat mein Lehrer X alle paar Wochen gesagt …). Ich könnte mich fortschmeißen, wenn ich guten Gesang höre, ja, wirklich, es ist keine Redensart. Ich könnte mich wirklich wegwerfen, fortschmeißen (und mein Instrument gleich hinterher), so sehr bewegt mich Gesang.

Ich könnte jetzt lange Listen des Gesangs, der mich besonders bewegt, aufstellen – das gehört aber (leider) nicht hierher. Früher hat meine Begeisterung für Gesang einmal dazu geführt, dass man mich mit einer Sängerin zusammengebracht hat. Ich sollte sie ›am Klavier begleiten‹. Und was wurde daraus? Nichts, es war ein Desaster. Während ich sie begleiten sollte, war ich komplett abgelenkt, von ihrem Gesang, ihrer Statur, ihren seltsamen Bewegungen (sie hob laufend die Hände, und zwar beide, und zwar in unterschiedlicher Höhe, als wollte sie während des Singens etwas entknoten, ein Telefonkabel, einen verflochtenen Draht, etwas in dieser Art …).

Und so konnte ich mich nicht auf mein Spiel konzentrieren, keine Sekunde. Außerdem aber kapierte ich nicht, was es bedeutete, sie ›zu begleiten‹. Was meinte das denn genau? Sollte ich erheblich leiser spielen als normalerweise? Sollte ich langsamer spielen? Ich packte es nicht, nein, ich war für ›die Klavierbegleitung‹ nicht geschaffen und gab das Experiment daher frühzeitig auf (obwohl mir die Sängerin sehr gefallen hatte, ich meine als Person, als Wesen, als … nun, lassen wir das).

Mein Umherstreifen durch Patras entwickelte sich daher (mangels fehlender Gespräche und Unterhaltungen) zu einem ›musikalischen Stadtrundgang‹. Ich ging von Gruppe zu Gruppe, hörte etwas zu (und entdeckte kaum Unterschiede zwischen den Gruppen). Wenn ich diese Musik überhaupt mit einer schon gehörten in Verbindung hätte bringen wollen, so wäre es die Filmmusik von Alexis Sorbas gewesen. Diese Musik (ja, immerhin) hatte ich noch im Ohr – und zwar so genau, dass ich sie auf einem Klavier aus dem Kopf hätte spielen können!

Ich kam zu dem großen Platz, wo ich mich mit Papa treffen wollte, aber es war noch etwas zu früh. Deshalb setzte ich mich auf eine Bank und holte meine Blätter hervor.

Reisetagebuch (20. Juli, 19.06 Uhr)

Manchmal ist das Schreiben kein Triumph, sondern ein hilfloser Akt. So wie jetzt. Anstatt mich mit den Einwohnern von Patras zu unterhalten, schreibe und schreibe ich wie fast immer. Dabei hätte ich doch einige Ideen, was ich tun könnte: Zum Beispiel selbst Musik machen! Ein Klavier ins Freie rollen und loslegen …, so wie die Einwohner von Patras einfach loslegen! Nicht mit dem Wohltemperierten Klavier, sondern mit Improvisationen! Improvisationen worüber? Über Themen von Mozart! Sicher? Ja, über Themen von Mozart! Über welche? Über das kurze Thema der kleinen C-Dur-Sonate, KV 545! Mit der hast Du es, was? Ja, mit der habe ich es. Wir sind sogar befreundet, und zwar eng. Die Einwohner von Patras wären auch zu meinem Spiel herbeigeströmt. Es hätte ihnen nicht so imponiert wie griechischer Gesang, nein, das nicht! Aber sie hätten den guten Willen anerkannt: Da gab sich ein Fremder redlich Mühe und machte seine Sache nicht schlecht.

Als ich meine Notizen aufgeschrieben hatte, ging es mir etwas besser. Ich kreiste noch etwas auf dem Platz und entdeckte einen Plattenladen. Es war ein langer Schlauch von Raum, der tief in das Haus hinein führte. So wie in der Buchhandlung waren auch in diesem Laden keine Käufer zu sehen, seltsam, kauften die Einwohner von Patras etwa auch keine Platten?! Unsinn, das war ausgeschlossen, Musik braucht jeder Mensch ganz unbedingt zum Leben (Bücher aber nicht unbedingt).

Ich ging hinein und wanderte an den Ständen mit Platten entlang. Natürlich waren es vor allem Platten mit griechischer Musik. Die Sängerinnen (es gab wieder nur sehr wenige) und Sänger waren meist auf dem Cover abgebildet, und ihre Namen sagten mir nichts. Ich wollte den Laden aber um keinen Preis verlassen, ohne zumindest ein paar Worte mit dem Verkäufer (Besitzer?) gewechselt zu haben. Sollte ich ihn auf klassische Musik ansprechen?! Nein, das passte nicht. Worauf aber dann?

Ich ging zu ihm, er stand ganz hinten, am Ende des Schlauchs, neben der Kasse. Er blätterte in einem Katalog und schaute nur kurz auf, als ich ihn auf die Filmmusik zu dem Film Alexis Sorbas ansprach. Er reagierte sofort, er hatte mein holpriges Englisch also durchaus verstanden. Anstatt aber deutlich zu antworten, sagte er nur: »Psssttt!« Und noch einmal: »Psssttt!«

Wie bitte?! Was hatte ich denn so Blödes gesagt, dass man darauf nur mit einem mehrmaligen »Psssttt!« antworten konnte? Ich war sehr irritiert und wohl auch verlegen, nein, noch mehr: Tief drinnen in mir entwickelte sich ein starker Ärger. Ich sprach kein Griechisch, das war peinlich genug, ich sprach aber immerhin ein paar Brocken Englisch, die hätten helfen können, mit einem Einwohner von Patras Kontakt aufzunehmen! Warum aber verbot mir dieser Einheimische zu sprechen und bedeutete mir, den Mund zu halten und zu schweigen?! Gehörte das zu den Ritualen in dieser Stadt: Fremden das Sprechen zu verbieten?!

Mein Ärger wuchs und wuchs – und machte mir gleichzeitig Mut. Ich nahm ein Blatt Papier aus meiner Tasche und notierte den Titel des Films (in Großbuchstaben: ALEXIS SORBAS). Und dazu schrieb ich: Who wrote the music?

Der Verkäufer nahm das Blatt, das ich beschrieben hatte, und riss es sofort durch. Er schmiss es in einen Papierkorb und sagte wieder: »Psssttt!«, »psssttt!«, »psssttt!«

Da aber wurde es mir zuviel. Mein Englisch war zu schlecht, um diese elend misslungene Konversation zu beleben, deshalb redete ich (aus Hilflosigkeit) weiter auf Deutsch: »Mein lieber Kumpel! Das ist allerhand! Ich habe Sie höflich etwas gefragt, und Sie reagieren so ungehobelt, wie ich es mir nie vorgestellt hätte! Eine einfache Frage so zu beantworten, ist skandalös! Und damit: Auf Wiedersehen! Ihr Benehmen ist eine Flegelei!«

Puuh …, da hatte ich es ihm aber gegeben! Mir war egal, dass er mich nicht verstand. Mitbekommen hatte er zumindest, wie sehr mich sein Verhalten empörte. Und das genügte in meinen Augen (für diesen Augenblick).

Ich dachte an Denis. Schade, dass er nicht dabei war. Er hätte Schwung in die Sache gebracht, und wir hätten sicher rasch erfahren, welcher griechische Komponist (war es ein Grieche? Bestimmt!) die Filmmusik zu Alexis Sorbas geschrieben hatte. Später hätten wir uns nach den neusten Beatles-Platten umgeschaut! Ja, genau, die würden hier doch wohl zu finden sein?! Oder würde dieser Schmalspurverkäufer auch eine Frage nach den Beatles mit einem zweimaligen »Psssttt!« beantwortet?! Zuzutrauen war es ihm.

Zuzutrauen war ihm aber nicht, was dann geschah. Er beugte sich nämlich nach vorn und flüsterte mir (auf Deutsch – und völlig akzentfrei!) zu: »Nun regen Sie sich doch nicht so auf! Kommen Sie mit, ich erkläre es Ihnen!«

Was?! Mein Gott, er hatte jedes Wort verstanden! Wie peinlich! Nein, überhaupt nicht peinlich! Er hatte mich mies behandelt, und ich hatte heftig reagiert, das war in Ordnung!

Er drehte sich um und öffnete eine schmale Tür. »Kommen Sie mit!« sagte er noch einmal, und ich dachte: ›So etwas Skurriles gibt es sonst nur im Film! Ein Grieche, der auf Deutsch antwortet und sonst nur ›psssttt!‹ herausbekommt! Was für eine komische Nummer!‹

Wir gingen in einen kleinen Hinterraum, in dem er sein Büro untergebracht hatte. »Setzen Sie sich!« sagte er, und erstaunlicherweise war in all dem Durcheinander wirklich ein Stuhl vorhanden, auf den ich mich setzen konnte. Ich wollte ihn nach seinem perfekten Deutsch befragen, aber er legte gleich los: »Ich bin in Bielefeld geboren, meine Eltern haben über ein Jahrzehnt in Deutschland gelebt. Seit einem halben Jahr sind sie wieder zurück – und ich mit ihnen!«

›Gratuliere!‹ hätte ich fast gesagt, aber ich bekam nur ein hilfloses Grinsen hin. »Die Sache ist die«, machte er umständlich weiter, »dass wir uns in Teufels Küche begeben, wenn wir hier über Mikis Theodorakis reden.« – »Über wen?« fragte ich. – »Ah, Sie wissen nicht, wer das ist! Das erklärt alles!« – »Was erklärt was?!« fragte ich. – »Mikis Theodorakis ist der Komponist der Musik zu Alexis Sorbas. Hier in Griechenland kennt ihn jedes Kind. Vor kurzem hat die Junta seine Platten verboten. Theodorakis ist jetzt ein Widerstandskämpfer? Verstehen Sie jetzt?«

Er flüsterte noch immer, als wären die Agenten oder Polizisten der Junta ganz in der Nähe! Aber wer wusste das schon genau?! Vielleicht waren sie es wirklich! Plötzlich begriff ich, in welchem Film ich mich gerade befand. Keineswegs in einem komischen, sondern in einem politischen, vielleicht sogar einem Thriller! Diese Hinterstube mit ihrem Durcheinander, das Flüstern meines Gegenübers, seine Heimlichtuerei – all das wirkte auf mich so, als wäre ich »Unbewanderter« auf einmal mitten hinein in die »inneren Angelegenheiten« eines fremden Landes geraten! Wie aber kam ich da wieder heraus?

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »ich wusste nicht Bescheid, tut mir leid. Der heutige Tag ist mein erster in Griechenland, ich bin mit einem Frachtschiff unterwegs. Natürlich hätte ich von Mikis Theodorakis wissen müssen, das ist unverzeihlich.« – »Darf ich Du sagen?« fragte mein Gegenüber. – »Na klar«, antwortete ich, »ich heiße Johannes.« – »Okay, Ioannis! Ich heiße Andreas.«

›Bitte nicht!‹ hätte ich am liebsten gesagt, ›bitte nicht ausgerechnet Andreas! Das ist für heute einfach zuviel!‹ Da aber kam mir ein besserer Gedanke: »Andreas!« sagte ich, »ah, genau wie der Apostel, der hier den Märtyrertod erlitten hat!«

Das Gesicht meines Gegenübers klarte auf. Und wie! Er freute sich anscheinend, dass ich wenigstens wusste, wo und warum der Apostel Andreas in Patras gestorben war! »Na so was!« sagte er, »das weißt Du also!« – »Ja«, log ich dreist, »in Geschichte bin ich ziemlich bewandert, besser als in Gegenwartskunde!«

Der gute Andreas musste lachen, während ich an Papa dachte, der mit all seinem frisch angelesenen Apostel- und Patraswissen längst draußen auf dem Platz auf mich warten würde. Und so fragte ich noch rasch, ob sich wirklich keine Platten des großen griechischen Komponisten im Laden befänden. »Natürlich habe ich welche«, antwortete Andreas, »ich kann Dir aber keine verkaufen. Schon der Besitz ist strafbar und würde Dich ins Gefängnis bringen!«

Ins Gefängnis?! Dieses martialische Wort brachte einen neuen Ton in unsere Unterhaltung. Ich wollte nur noch weg – und zwar rasch! »Okay, ich habe verstanden!« sagte ich (leise), »sind die Beatles etwa auch verboten?« – »Noch nicht«, antwortete Andreas, »aber man sieht es nicht gern, wenn ihre Platten gekauft werden!« – »Und welche sollte man stattdessen kaufen?« – »Griechische Volkslieder, Lieder vom Land, naives, möglichst unpolitisches Zeug!« – »Zeigst Du mir bitte sowas Naives, ich würde es gern einmal hören!«

Andreas öffnete die Tür und ging mit mir zurück in den Laden. Dann suchte er eine Single mit zwei Liedern aus und schenkte sie mir. »Das ist ein gutes Beispiel!« sagte er. – »Ich würde die Single gerne bezahlen, aber ich habe kein Geld«, antwortete ich, »ich bin mit meinem Vater unterwegs, und nur der bezahlt, aus Sicherheitsgründen.« – »Sehr vernünftig!« sagte Andreas. – »Kann ich Deine Telefonnummer haben?« fragte ich noch, »und darf ich in Notfällen anrufen?« – »Auch sonst, jederzeit!« sagte Andreas und schrieb seine Nummer auf einen Zettel. Da beschloss ich, ihn zu den Phaiaken zu rechnen.

Ich ging dann hinaus und brauchte nicht lange zu suchen. Papa stellt sich meist sehr auffällig in die Mitte eines Platzes oder (wenn vorhanden) neben ein Denkmal. Auch auf diesem Patras-Platz gab es das, und ich sah, dass Papa um das Denkmal herumging, um wieder mal etwas »zu klären«. Wer die Figur war, warum man den berühmten Mann verehrte …, etwas in dieser Richtung.

Er nickte nur kurz, als er mich erkannte, und legte gleich los. Wir umrundeten den Platz und schauten uns einige der Verkaufsstände und Buden an, während er das frische Wissen, das er in der Buchhandlung erworben hatte, an den Mann bringen wollte. Patras war also die Hauptstadt des griechischen Karnevals (was mich angesichts des abendlichen Treibens auf seinen Straßen nicht überraschte) – und in der Nähe wurde ein in ganz Griechenland bekannter Wein angebaut. Antike Bauten und Überreste gab es nur in kleinem, unbedeutendem Umfang zu sehen, Patras war vielmehr eine durch und durch moderne Hafen- und Handelsstadt.

Gut, die Wissensausteilung hatten wir also hinter uns. Papa beendete seinen Vortrag mit einem Hinweis auf ein Strandbad ganz in der Nähe. »Wollen wir morgen gleich in der Früh hinfahren und baden? Unser Schiff geht am Mittag, das schaffen wir.« – Ich war sofort einverstanden, ja, perfekt, das war eine gute Idee: kein Umherstreifen durch leere Straßen, sondern Baden im Meer!

Meine Laune besserte sich wieder, und ich beschloss, Papa nicht von der seltsamen Mikis-Theodorakis-Sache im Plattenladen zu erzählen. »Wo warst Du? Was hast Du gemacht?« fragte er. Und ich antwortete, dass ich mir die vielen Musikgruppen angehört und in einem Laden eine Single mit solcher Musik als Geschenk erhalten habe. »Sollten wir die nicht doch bezahlen?« fragte Papa. – »Neinnein«, antwortete ich schnell, »der Verkäufer sprach fließend Deutsch und hat viele Jahre in Deutschland verbracht. Er freute sich über die Begegnung und wollte mir unbedingt etwas schenken.«

Papa war beeindruckt und freute sich mit – und dann planten wir noch kurz den weiteren Abend. »Lass uns hier etwas auf der Straße essen«, sagte Papa. »Maiskolben, Fleischspieße – das sollten wir unbedingt mal probieren.« – »Ja, machen wir das«, antwortete ich und erinnerte Papa daran, dass ich später mit Denis in einen Club gehen wollte. »Ich habe es nicht vergessen«, sagte Papa. »Wir essen noch eine Kleinigkeit, dann gehen wir zur Albireo zurück. Ich bleibe an Bord – und Du ziehst weiter mit Denis umher.«

In Ordnung?! Nein, nicht ganz. Am liebsten wäre ich nämlich auch an Bord geblieben, weil ich das Umherziehen leid war. Für diesen Tag war es doch wirklich genug – und die vielen (auch spannenden) Erlebnisse mussten (wie hieß es immer?) »verarbeitet« werden. Warum dann also noch in einen Club – und das (wahrscheinlich) unter der Leitung von Denis, dem aufgedrehten Chaoten?!

Papa und ich aßen Maiskolben (jeder einen) und probierten die Fleischspieße (das Fleisch war nicht gewürzt, sondern nur so lange auf den Grill gelegt worden, bis aller Saft herausgetropft und das Fleisch so trocken wie möglich war). Dann tranken wir noch ein griechisches Bier und gingen in den Hafen zu unserem Schiff zurück. Es lag hell erleuchtet (und strahlend wie ein Luxusdampfer) am Kai. Niemand war zu sehen, auch an Deck nicht. Wir warfen einen kurzen Blick in den Salon. Kapitän Reckling saß allein an dem Salontisch und hatte einige deutsche Zeitschriften vor sich liegen. »Meine Herren, wohl behalten zurück?« fragte er und lächelte souverän. Und Papa antwortete (ebenfalls lächelnd): »Lassen Sie uns ein Bier zusammen trinken, Herr Kapitän!«